In letzter Zeit gibt es viele Diskussionen über den Frauenanteil in der Rockmusik und fehlende Vorbilder für junge Gitarristinnen. Im Mainstream-Rock mag der Mangel an Weiblichkeit zutreffen, aber ein Blick in die abseitigere Rock‘n‘Roll-Welt könnte Abhilfe schaffen. Im Punk, Underground und Indie-Bereich gibt es schon länger zahlreiche Frauen, die als gleichberechtigte Musikerinnen in ihren Bands agieren, fernab vom gutaussehenden Frontfrau-Klischee. Eine davon stellen wir in diesem Workshop vor, Poison Ivy von The Cramps.
LEBEN
Geboren am 20. Februar 1953 als Kristy Marlana Wallace, wuchs die rothaarige Gitarristin in der Nähe der kalifornischen Stadt Sacramento auf. Erste Gitarrenkenntnisse vermittelte ihr ihr Bruder Jerry, den Rest brachte sie sich selbst bei. In einem Interview mit Guitar Player meinte sie dazu:
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„Kein Typ hat mir das Spielen beigebracht, ich habe mich selbst unterrichtet. Es ist verblüffend, wie viel man alleine lernen kann, indem man sich Platten anhört, Leuten beim Spielen zuschaut und mit anderen Musikern abhängt, anstatt sich von jemand seine klischeehafte Art zu spielen zeigen zu lassen.“
1972 lernte sie beim Trampen ihren späteren Ehemann Erick Lee Purkhiser kennen und hatte ihren Seelenverwandten und musikalischen Partner für die nächsten 37 Jahre gefunden.
Beide teilten die Begeisterung für obskuren Rock’n’Roll der 50er, B-Movies und amerikanische Trashkultur. Nachdem sich das Paar in Lux Interior und Poison Ivy umbenannt hatte, zogen sie erst nach Akron, Ohio und dann nach New York und gründeten eine Band.
THE CRAMPS
In New York fand das Ehepaar im Umfeld des Clubs CBGBs und der aufkommenden Punkbewegung Gleichgesinnte und begann an ihrer Version des Rock’n’Roll zu feilen. Mit einer Mischung aus eigenen Songs und obskuren Coverversionen, Texten über Monster, Außerirdische und sexuelle Absurditäten klangen The Cramps wie die musikalische Version der Addams Family. Lux Interior trat in Lederhosen und Pumps auf und machte so manchem Mikrofon bei seiner ekstatischen Bühnenshow den Garaus, während seine Frau sich für den Rest verantwortlich zeigte. Leadgitarre, Songwriting, Produktion, Management und sogar das Stimmen der Gitarren der Co-Gitarristen Brian Gregory und später Kid Congo Powers fielen in ihren Zuständigkeitsbereich.
Ihren Stil nannten sie Psychobilly, ein Begriff, der aus dem Johnny-Cash-Song ‚One Piece At A Time‘ stammt. Mit dem späteren, oft engstirnigen Genre, wollte die Band zwar nicht assoziiert werden, aber die Bezeichnung trifft den Sound der Cramps recht genau. Nach ersten Singles, Auftritten in einer Irrenanstalt und einer Support-Tour für The Police nahmen sie 1979 ihre Debüt-LP stilecht in den Sun Studios in Memphis auf. ‚Songs The Lord Taught Us‘ zeigt schon alle Elemente, die den musikalischen Kosmos der Band ausmachen: Lux Interiors Schluckauf-Vocals und von Screamin’ Jay Hawkins inspirierte Schreie wurden von Fuzz-Riffs, Garage-artigen Akkorden und Feedback-Sounds untermalt. Besonders in Europa, insbesondere in England, stieß der Sound der Cramps auf gute Resonanz und die Band entwickelte sich zu einer Konstante im Underground-Rock-Bereich.
Während die frühen Platten ohne Bass auskamen und mit ihrer Zwei-Gitarren/Drums-Besetzung schon den Sound von Bands wie The White Stripes vorwegnahmen, wurde das Line-up ab 1985 um einen Bass ergänzt. Die Besetzung wechselte öfters, Ivy und Interior blieben die einzige Konstante und lebten sich bis zum Ende der Band 2009 nach dem Tod Interiors in ihrem eigenen Sound-Universum aus.
EINFLÜSSE
Poison Ivys Spielstil ist eine Mischung ihrer Einflüsse Link Wray und Duane Eddy. Von Wray kommen die kraftvoll gespielten Akkorde, von Eddy twangige Töne im tiefen Bereich der Gitarre. Hinzu kommen garagige Riffs aus Barré-Akkorden im Stil von Garage-Punk-Bands wie den Sonics und ein minimalistischer Solostil. Ivy verwendet oft simple Phrasen aus der Pentatonik, die sie mit offenen Saiten und Dreiklängen im höheren Register kombiniert. Dieser Stil ist nicht etwa einem Mangel an Spieltechnik geschuldet, sondern entspringt einem gut durchdachten Konzept: „Wir hatten ein Kriterium und das hieß: Keine Chuck-Berry-Licks. Der ganze Rock’n’Roll der 60er und 70er war um Chuck-Berry-Licks aufgebaut und hat die anderen Einflüsse vernachlässigt. Wir lieben Chuck Berry, aber entschieden uns, niemals ein Lick von ihm zu verwenden.“
(Bild: Masao Nakagami CC BY-SA 2.0)
Ivy war aber auch ein Fan unbekannterer Gitarristen wie dem Studiomusiker Al Casey, dem Rockabilly-Musiker Don Gilliland, der auf frühen Suns-Session-Tracks spielte und Bo Diddleys Leadgitarristin The Duchess, die sie 1970 live erlebte: „Das haute mich um. Sie hatte diese einstudierten Tanzschritte und sie trug goldene Kleidung. Das hat sich für immer in mein Hirn eingebrannt.“ Zu den Einflüssen aus der Blütezeit des Rock’n’Roll gesellte sich noch eine eher klangliche Komponente. Ivy liebte Feedback und Federhall und verlieh damit gerade live dem Bandsound eine aggressivere, punkige Note.
EQUIPMENT
Nach Versuchen mit einer Dan-Armstrong-Plexiglas-Gitarre und einer kanadischen Lewis-Solidbody, bekam Poison Ivy 1985 eine 58er Gretsch 6120 und hatte ihren Sound gefunden. Die Gretsch blieb bis zum Ende der Band ihre Hauptgitarre und wurde auch live gespielt. Als Backup diente eine Reissue-Version. Privat griff sie auch auf eine Gibson ES-295 oder eine Telecaster zurück.
Als Live-Verstärker setzte sie zwei alte Fender Pro Reverbs ein, von denen einer als Backup diente. Der Haupt-Amp hatte einen 1×15“-Speaker. Bei vielen Livevideos sieht man jedoch auch Fender Twin Reissues auf der Bühne, die wohl gemietet waren. Im Studio griff sie auf kleinere Verstärker zurück, darunter ein Valco-Amp mit 10“-Speaker und später Modelle des Boutiqueherstellers Allen. Die Effektpalette von Ivy war übersichtlich. Neben dem Federhall des Amps war ein Univox Superfuzz charakteristisch für ihren Sound.
Ihr Slapback-Delay erzeugte sie nicht mit einem echten Bandecho, sondern verwendete dafür ein Pedal. In den späten Achtzigern ein Ibanez, später ein Maxon. Ebenfalls wichtig war ein Tremoloeffekt, für den sie ein Fulltone Supa-Trem bevorzugte.
PLAY IT!
Zum Nachspielen gibt es im Folgenden ein paar Riffs und Solos aus Ivys Trickkiste, die von Songs der Cramps inspiriert sind.
(zum Vergrößern klicken!)
Beispiel 1 (‚Human Fly‘) ist ein simples Singlenote-Riff auf den Bass-Saiten der Gitarre. Das Riff ist in Moll, während im Hintergrund ein fuzziger Dur-Akkord zu hören ist. Dieses Konzept findet man in der Musik der Cramps häufiger. Die harmonische Grundlage für viele Songs ist ein Blues in Dur, über den aber über die erste und vierte Stufe ein Riff aus der Moll-Pentatonik gespielt wird.
Auch Beispiel 3 baut auf einer I-IV-V-Verbindung auf. Der A-Dur-Akkord auf der ersten Stufe wird nur mit einem simplen Double Stop dargestellt, bevor die Basslinie gedoppelt wird. Die vierte und fünfte Stufe bekommt einen Dreiklang auf den hohen Saiten verpasst.
Beispiel 4 (‚Bikini Girls With Machine Guns‘) zeigt das simple, aber wirkungsvolle Solokonzept von Frau Ivy. Die ganze Linie kann mit einem Finger gespielt werden. Die leere E-Saite verleiht den simplen Linien in Verbindung mit dem Slapback-Echo eine eher soundartige Komponente. Über den E-Dur-Akkord wird ein Quart-Double-Stop verschoben. Auch hier kommen die Töne nicht aus A-Dur, sondern aus A-Moll, was dem Solo zusätzliche Schärfe verleiht.
Beispiel 5 kombiniert Akkorde mit simplen Singlenote-Lines aus der E-Moll-Pentatonik. Als zusätzliche Note kommt die b5 ins Spiel, immer ein Garant für etwas mehr Gefahr im Pentatonik-Klang. Spieltechnisch sind die Beispiele nicht sonderlich herausfordernd, zeigen aber, dass man mit Attitüde und interessanten Sounds ebenfalls sehr spannende Parts kreieren kann. Viel Spaß mit den Licks und dem Ausflug in die dunkle Trash-Welt der Cramps!
Danke für diesen Artikel! Der Sänger sagte einmal sinngemäß: “Wenn ich mich nach dem Auftritt an irgendwas erinnern kann, war der Gig schlecht.” Komplett in der Musik aufgegangen.
Danke für diesen Artikel! Der Sänger sagte einmal sinngemäß: “Wenn ich mich nach dem Auftritt an irgendwas erinnern kann, war der Gig schlecht.” Komplett in der Musik aufgegangen.