(Bild: Udo Pipper)
1976 hatte ich den ersten Live-Gig mit meiner Schülerband. Da ich noch keinen eigenen Amp besaß, musste ich mir in unserer Kleinstadt eine Leihgabe suchen. Die Auswahl war zu dieser Zeit wahrlich nicht sehr groß. Man musste nehmen, was man kriegen konnte. Mein Vater fuhr mich zu einem befreundeten Musiker, der mir seine Anlage zur Verfügung stellte. Auf dem auffallend kleinen Topteil stand in schlichten Lettern „Selmer“.
Den Namen hatte ich noch nie zuvor gehört. Beim Soundcheck verwandelte sich meine anfängliche Skepsis allerdings sofort in pure Verzückung. Der Amp hatte Saft und Kraft und klang bereits ohne Pedale so rockig, wie ich es von meinen besten Vorbildern kannte. Der Gig wurde dann ein ganz besonderes Erlebnis. Mein Sound war brutal und zugleich sagenhaft schmatzig und musikalisch. Okay, den Namen „Selmer“ sollte ich mir merken.
Es dauerte allerdings ein paar Jahre bis ich diesem Amps wieder begegnete. In einem Frankfurter Musikladen kaufte ich gebraucht ein Treble-&-Bass-Halfstack von Selmer im Snakeskin-Design für nur 300 Mark. Eigentlich war er als Ersatz-Amp für eine Tour gedacht, wurde aber während der ersten Gigs bereits mein Haupt-Amp. Weil er aber bald kaputt ging, habe ich ihn einfach irgendwo stehen lassen und wieder vergessen. Ein Fehler!
(Bild: Udo Pipper)
Zugegeben, Selmer Amps gehören heute bei Weitem nicht zu den großen Legenden wie die Produkte von Fender, Marshall, Vox, Hiwatt oder Orange. Gary Moore erinnerte sich vor ein paar Jahren noch gut daran, wie er Peter Green zum ersten Mal live sah, der ebenfalls über einen Selmer spielte und einen unglaublich guten Sound damit hatte. Gary Moore staunte nicht schlecht, denn schon in den späten Sechzigern galt ein Selmer als „the poor man’s Marshall“. Selmer spielten Einsteiger, Provinz- oder Tanzmusiker. Sie hatten auf der britischen Insel ein ähnlich schlechtes Image wie bei uns die guten, alten Echolette-Verstärker.
Dabei handelte es sich bei der Selmer Company zunächst um ein wirklich altehrwürdiges Unternehmen. Ursprünglich von Henri Selmer Anfang des 20. Jahrhunderts in Paris gegründet, wuchs die Firma schnell zu einer wahren Größe. In Frankreich konzentrierte man sich auf die Produktion von Klarinetten und später den berühmten Saxofonen, die heute immer noch zur absoluten Oberklasse gehören.
In England firmierten ab Ende der Zwanzigerjahre die Brüder Ben und Lew Davis unter gleichem Namen des Mutterunternehmens, sahen sich aber eher als Linzenzvergeber, Importeur und Vertrieb. Eines der Selmer-Geschäfte war sogar noch bis in die Neunzigerjahre Anlaufstelle für zahlreiche britische Profimusiker. Der junge John McLaughlin verkaufte dort Gitarren an Kunden wie Eric Clapton, Jeff Beck, Andy Summers, Peter Green, Paul Kossoff und Jimmy Page. Selmer importierte etwa Höfner und Gibson und wurde dadurch zu einem der wichtigsten Vertriebe für Musikinstrumente in England.
Schon in den Nachkriegsjahren hatte man sich jedoch auch an der Produktion von Beschallungsanlagen in Röhrentechnik versucht – lange vor Vox, Marshall, Hiwatt oder Orange. Kaum verwunderlich, dass man zunächst Bands wie die Beatles, The Animals oder The Who in ihrer Gründungsphase oft mit Selmer-Amps ausgestattet erlebte. Das Problem war jedoch, dass sich der Vertrieb kaum um die angehenden Superstars kümmerte. Die bekamen jedoch bald kostenlos Verstärker von Vox oder auf den Leib geschneiderte Produkte von Jim Marshall.
Bei Selmer glaubte man einfach nicht an die britische Pop- und Blues-Explosion und konzentrierte sich eher auf den Bereich der Unterhaltungs- und Tanzmusiker. Denen war ihr Verstärker jedoch reichlich egal. Sie verkauften keine Platten, die ihre Amps auf den Covern zeigten und hatten keine TV-Präsenz. Und das sollte sich rächen. Selmer verschwand schon bald in der Bedeutungslosigkeit. Die Amps waren einfach nicht cool. Man wurde sogar eher belächelt, wenn man „nur“ einen Selmer hinter sich stehen hatte. In den Siebzigern wurde Selmer vom damaligen Gibson-Inhaber CMI in den USA aufgekauft und stiefmütterlich behandelt, bis die Produktion schließlich ganz eingestellt wurde.
Erst Jahrzehnte später entdeckten Vintage-Enthusiasten diese Amps wieder und verliebten sich ganz neu in ihre Klangqualität. Man entdeckte da plötzlich alte Fotos, auf denen etwa John Lennon, die Animals oder Chuck Berry über Selmers spielten. Dann können diese Amps ja gar nicht so schlecht gewesen sein…
Und dennoch sind sie heute immer noch ein sehr guter Fang für Schnäppchen-Jäger.
Unser Rare Bird ist ein besonders seltenes Modell aus der sogenannten Grey-And-Blue-Ära (Bezug nehmend auf die Farbe der Tolex-Beklebung) und stammt aus dem Jahr 1962. Dieser Amp hat praktisch alle Zutaten, für die alte Marshall- oder Vox-Amps so innig geliebt werden. Natürlich ist er frei verlötet, hat alte Wima-Koppelkondensatoren, einen Ausgangsübertrager von Radiospares (!), Mullard-Röhren, einen Goodmans-Alnico-12er-Lautsprecher und immerhin schon Hall und Tremolo an Bord. Was will man mehr?
Und schaut man genauer hin, dann ähnelt sogar die Schaltung den berühmten Verwandten fast bis ins Detail. Die Frontbespannung ist etwa die gleiche wie bei den allerersten Marshalls. Und sogar das Bedien-Panel war goldfarben. Sieht man noch genauer hin, waren diese Amps den bald gefürchteten Konkurrenten in manchen Details sogar überlegen. Der Diplomat Reverb hat zum Beispiel in Hartgummi gelagerte Röhrensockel, weil man schon damals wusste, dass die Erschütterungen in einem Combo-Gehäuse die Glaskolben stark in Mitleidenschaft ziehen können und man sie daher von Vibrationen entkoppeln sollte.
Die Hallspirale liegt seitlich angebracht und verfügt über eine Art Bremshebel, der die Federn bei entsprechender Einstellung gegen Vibrationen dämpft. Vor- und Endstufe liegen räumlich voneinander getrennt im oberen und unteren Bereich des Amps. Die Verarbeitung könnte man heute noch als exzellent bezeichnen. Der abgebildete Amp ist beispielsweise noch nie einem Lötkolben begegnet und funktioniert nach 56 Jahren immer noch tadellos. Wenn das nicht für Qualität spricht…
So üppig ausgestattet zählte der Diplomat Reverb zweifellos zu den Premium-Produkten aus dem Hause Selmer. Ein idealer Partner für praktizierende Unterhaltungsmusiker. Mit 15 Watt Leistung und dem recht schwachen Speaker ist er zwar kein Brüllwürfel und vermutlich einem modernen Drummer kaum gewachsen, aber damals agierten die Musiker ja bekanntlich etwas leiser als heute.
Was er jedoch überraschend gut kann, sind diese typischen britischen Rocksounds à la Vox oder Marshall. Kaum zu glauben, wie zerrfreudig und rockig der kleine agieren kann, wenn man ihn weit aufdreht. Sofort denkt man an berühmte Riffs wie Led Zeppelins ‚Whole Lotta Love’ oder Steve Marriotts Powercords in einem beliebigen Small-Faces-Song. Sogar Eric Clapton’s sagenhafter Beano-Tone ist da (freilich in begrenzter Lautstärke) drin.
Natürlich sind diese Amps immer noch selten. Aber wenn einem das Logo egal ist, sucht man statt eines 1965er-MarshallJTM45 vielleicht lieber ein gut erhaltenes Selmer-Treble-&-Bass-Topteil – der große Bruder dieses Combos. Sie sind seitens der Vorstufe oft sogar noch heißer und damit rockiger abgestimmt, wodurch man sich Overdrive-Pedale meist sparen kann.
Zu Recht gelten die Modelle aus der Grey-And-Blue-Ära oder die darauf folgenden mit Snakeskin-Bespannung als die besten Amps. Und mit etwas Glück, bekommt man solche Wunderwerke noch unter € 1000. Meist muss man eine Restaurierung mit einkalkulieren, aber unterm Strich wird man sich von so einem Amp wahrscheinlich nie wieder trennen. Ich kenne Sammler, die ihre neu entdeckten Selmers bereits ihren Schätzen von Vox oder Marshall vorziehen.
Und ich frage mich, wie lange diese Amps ihren Geheimtipp-Status noch behalten werden. Jedenfalls können Combos wie der hier vorgestellte Diplomat Reverb in gutem Zustand jedem Fender Tweed Deluxe oder Vox AC15 Paroli bieten. Wirklich ein Amp zum Verlieben!
(erschienen in Gitarre & Bass 12/2018)
toller Einblick in dieses Kapitel der Verstärkergeschichte!
Die Firma Selmer (Mutterfirma in Frankreich) hat übrigens in den 30er bis 50er Jahren auch die Gitarren Gebaut, die Django Reinhardt durch seine ganze Karriere hindurch gespielt hat. Sind noch heute der Heilige Grahl der Gipsyjazz-Gitarren und die meisten aktuellen Gitarren dieses Genres leiten sich von den Selmer-Originalen ab. Heute ist Selmer eher für Saxophone bekannt.