Röhrenfieber oder digitale Kälte? Die ewige Debatte …
Parts Lounge: Die Zukunft des Röhren-Amps – Teil 2
von Udo Pipper, Artikel aus dem Archiv
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Wie alles begann: Die Tweed „Hasenkisten“ von Fender (Bild: Udo Pipper)
Als die E-Gitarre etwa Mitte der Fünfziger mit Scotty Moore, Cliff Gallup oder Chuck Berry zum Kernsound des Rock’n’Roll wurde, spielten diese Typen über kleinere Röhren-Amps. Sie drehten diese Amps auf und erreichten damit diesen vokalen und oft schon crunchigen Sound, der zu ihrem Markenzeichen wurde.
Einige verwendeten ein Slapback-Echo, um ihren Sound zu verfeinern und dem ebenfalls mit Echo angereicherten Gesangs-Sound anzupassen. Buddy Guy hingegen erzeugte durch einen weit aufgedrehten Fender-Amp erste Rückkopplungen, die sein Sustain scheinbar endlos erscheinen ließ. 1956 ergänzte Fender einige Amps mit dem Tremolo-Effekt, der fortan auf zahlreichen Aufnahmen zu hören war. Link Ray produzierte damit gar einen Hit. Der Instrumental-Song ‚Rumble‘ bestand nur aus diesem unverkennbaren Gitarrensound und einigen wenigen Akkorden. Das war 1958 und eigentlich der Beginn der Rock-Gitarre. Anfang der Sechziger kamen dann in England die Fuzz-Boxen hinzu, die Jimmy Page und Jeff Beck berühmt machten und die später auch das Markenzeichen von Jimi Hendrix wurden. Gitarren-Amps waren damals „nur“ Lautmacher. Man wollte laut sein und die Gitarre in den Vordergrund bringen. Jim Marshall erzählte mir, dass er irgendwann begann, schlecht zu schlafen, weil „diese Bengel anfingen, meine Amps voll aufzudrehen, aber dafür waren sie nicht gemacht. Sie gingen dann schnell kaputt.“ Auf jeden Fall nutzten einige Gitarristen jede Gelegenheit, die Soundpalette für die E-Gitarre in alle möglichen Facetten zu erweitern. Das lag auch daran, dass die Rock’n’Roller oft nicht sehr virtuos agierten, sondern sich vor allem als Sound-Geber verstanden.
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Komplexere Schaltung mit Hall und Tremolo: Innenleben eines Amplified-Nation-Amps (Bild: Udo Pipper)
Schon bald wurden die Amps komplexer, bekamen Master-Volume, heißere Vorstufen für mehr Distortion, Effekte wie Tremolo und Hall und schließlich Einschleifwege, mit denen man teure Studio-Effekte von hoher Qualität verwenden konnte. Dann kamen die Amps mit mehreren Kanälen, die noch mehr Sound-Variationen zuließen. Die Röhren-Amps wurden komplexer und dadurch natürlich auch anfälliger für Defekte. In einem Röhren-Amp liegen hohe Spannungen an, die teils großen Trafos erzeugen starke Magnetfelder. Im Inneren kreuzen sich Wechsel- und Gleichspannungen, wodurch das so genannte Layout der Konstruktion sehr wichtig ist. Je komplexer die Amps wurden, desto schwieriger war es, diese durch die Röhrentechnik bedingten Eigenschaften in den Griff zu bekommen. Auch wurden die Amps in den Siebzigern viel größer. Wer sich keinen Roadie leisten konnte, musste fortan riesige 4×12-Boxen und sauschwere Topteile tragen. Einen Zenit erlebte diese Technologie in den Neunzigern, wo es üblich war, Vor- und Endstufen neben zahlreichen Effekten in aufwendigen Racks mit Midi-Steuerung unterzubringen. Ein einzelner Gitarrist konnte damals eine größere Backline haben als eine komplette Beatband in den Sechzigern. Die hohe Anfälligkeit solcher komplexen Systeme raubte vielen Gitarristen bald den letzten Nerv. Immerhin gab es vielerorts versierte Techniker, die sich solcher Ansprüche annahmen. Bei den Profis reisten diese bald mit um den Globus, nur um dafür zu sorgen, dass „das System“ stets einwandfrei lief. Und so wurden immer vielseitigere Setups geschaffen, die entweder zur Verfremdung oder zum Abwechslungsreichtum der Gitarren-Sounds beitrugen.
Der Säbelzahn-Tiger lässt grüßen: ausgereiztes Innenleben eines Mesa Boogie Mark V (Bild: Mesa Engineering)
Ich kann mich noch gut erinnern, dass ich Anfang der Achtziger stets Ausschau nach neuen Gitarren-Sounds hielt. So entdeckte ich etwa Adrian Belew, der mit seinem riesigen Setup alle möglichen Tierstimmen imitierte, oder Pat Metheny, der eine Jazz-Gitarre durch Hall- und Echo-Geräte oder gleich über einen Synthesizer schickte. Die Vielfalt schien grenzenlos. Und das Equipment wuchs.
Und natürlich gab es da zahlreiche Gitarristen, die ihren Idolen nacheiferten und sich ebenfalls solche Systeme zulegen wollten. Nur ganz ohne „System-Techniker“ wie etwa Bob Bradshaw. Also schaffte man sich die Details selbst drauf und begann jeden Samstag in einem Musikgeschäft zu verbringen. Man verschraubte alles in Racks, programmierte sorgfältig die Midi-Leiste und kaufte Kilometer von Verbingungskabeln.
Dann kam die Grunge-Welle, wo Gitarristen wieder über ein einfaches Zerr-Pedal in irgendeinen Amp spielten und einfach nur laut und aggressiv klingen wollten. Die Rack-Ära ging zu Ende. Aber schnell wuchsen nun die Pedalboards, einfach weil es mittlerweile ein riesiges Angebot an Effektpedalen gab. Und wieder ging das ganze Dilemma von vorne los.
Die Laien-Gitarristen nutzen jedoch diese Entwicklung als Spielwiese, um ihrem Hobby, der Sound-Suche, nachzugehen. Es entwickelte sich ein großer Markt für Gitarrenzubehör im Kleinformat. Und genau das sollte eine enorme Entwicklung einleiten.
Fortan betätigte man sich in Projekten, die ohne Proberaum, Tonstudio oder sonstige Infrastruktur auskamen. Letzteres wurde einfach zu teuer und zu aufwendig. Die Bands probten jetzt mit einem Laptop in der Küche oder am Schreibtisch. Die Heimstudios schossen aus dem Boden, und auch hier wollte man amtliche Gitarrensounds aufnehmen. Genau vor diesem Hintergrund ist die heutige Entwicklung zu verstehen. Kleine und kompakte Systeme sind überall auf dem Vormarsch. Und es muss „leise“ gehen.
Angesichts paralleler Entwicklungen bei der digitalen Musikwiedergabe, den Smartphones als zentrale Musik-Library oder digitalen Audio Workstations war die Mündung der Gitarren-Systeme in ähnliche Technologien nur logisch.
„Es ist eben praktischer …“ lautet das am häufigsten angeführte Argument. Und das ist durchaus wahr. Berge von Technik lassen sich nun plötzlich in Gehäuse von der Größe einer Pralinenschachtel verpacken. Moderne Algorithmen und neuerlich KI basierte Rechner machen es möglich. Ähnlich wie bei der Diskussion während der 2000er-Jahre über die ästhetischen Folgen von der MP3 Wiedergabe entfachte nun ein Diskurs über den Sinn und Zweck solcher Verstärker-Systeme. Anfänglich war da noch die spürbare (und oft auch hörbare) Latenz solcher Lösungen. Eine als „Kälte“ empfundene ästhetische Wirkung der Klänge aus dem Rechner wichen bald der Faszination über nahezu unverwechselbare Nähe zum „Original“, was immer den guten, alten Röhren-Amp meinte. In zahllosen Testvideos im Netz sollte das im Hörvergleich belegt werden. „Klingt genau wie …“, heißt es da immer.
Modernes Setup mit Profiler komplett auf einem Pedalboard (Bild: Christian Tolle)
Und dennoch schien die anfängliche Begeisterung bald einer offenbaren Rückwendung zu weichen. Was war da los, wenn doch so viele keinen Unterschied mehr hören und die unbestrittenen Vorteile der neuen Technik spontan genießen?
Mir fiel da immer eine merkwürdige Analogie zum Kinderspielzeug meiner Kindheit ein. Ich hatte zum Beispiel so eine alte Keksdose voller Legosteine. Schon damals in den Sechzigern gab es da verschiedene, die sehr einfach zu unterscheiden waren. Es gab Einer-Steine, Zweier-Steine, Vierer, Sechser und Achter. Dazu ein paar Grundplatten, meist grün gefärbt, während ich nur Bausteine in weiß und rot hatte. Damit musste man nun etwas bauen. Ein Haus, ein Auto, einen Kran und meinetwegen ein Strichmännchen. Also kippte man die Steine auf den Boden und fing an, irgendetwas zu konstruieren. Oft wusste man zunächst nicht einmal, was es werden sollte. Man musste sich eben was ausdenken. Fünfzig Jahre später beobachtete ich nun meinen Großneffen an Weihnachten dabei, wie er „modernes“ Lego baute. Es handelte sich um eine Art futuristisches Raumschiff inklusive mehrseitigem Bauplan, ohne den man diese Aufgabe wohl niemals gelöst hätte. Erst studierte er aufmerksam die Baupläne, sortierte die Legosteine mit äußerster Akribie nach Baugruppen, darunter jetzt auch Fenster und Türen in allem möglich Formen, Antriebssysteme, Fahrwerke, Landeklappen, Ausstiegsluken und ganze Innenräume samt Forschungsstation und Kälteschlafkammern. Alles war schon da, nur eben (noch) zerlegt. Den gesamten Weihnachtsabend war er manisch vertieft in die anspruchsvolle Aufgabe, bis er es schließlich hinbekam und das Gefährt perfekt zusammengesetzt vor ihm stand. Stolz präsentierte er sein Konstrukt und ging dann ins Bett. Am nächsten Tag stand es noch neben dem Baum und staubte so vor sich hin. Es war fertig oder zu Ende. Man konnte eben nichts anderes damit bauen als das in der aufwendigen Bedienungsanleitung vorgegebene „Spielzeug“. Aber da war kein Spiel mehr, sondern nur die Lösung einer durchaus herausfordernden Aufgabe.
Und genau so empfand ich die ersten Multieffekt-Geräte für Gitarren der Achtziger. Da gab es oft hunderte so genannter Presets, die mir vorgeben wollten, was ich mit dem Gerät mache. Die Folge war, dass man plötzlich überall dieselben Keyboard- oder Gitarren-Sounds hörte. Man musste oder sollte keine Sounds mehr kreieren, sondern nur noch verwenden. Das war so verlockend, dass wir Gitarristen zunächst darauf hereinfielen … bis es einem irgendwann wieder aus den Ohren herauskam. Das konnte schnell langweilig werden, denn wir wollten selbst was erfinden.
Und dafür gab es schließlich immer wieder Ansätze: die Gitarre tiefer stimmen, offene Tunings verwenden, Fingertapping oder wie es irgendwann Mode war nur noch auf den allerbilligsten Gitarren herumzuzaubern. Aber auch diese kleinen kreativen Schübe hatte die Industrie schnell für sich vereinnahmt.
Momentan sind wir auf dem Level, dass Modeling oder Profiling vor allem heißt, dass man diesen oder jenen Röhren-Amp möglichst so deckungsgleich nachstellt, dass kaum jemand einen Unterschied wahrnimmt. Wie kreativ ist das? Es führt einem vor Augen, dass Technologie noch lange nicht bedeuten muss, dass etwas Neues entsteht. Es entsteht allenfalls eine perfekte Kopie eines längst bekannten Werkzeugs. Und das auch noch ohne jeden persönlichen Bezug zum Charakter oder Design des Geräts. Gehört es nicht dazu, dass das Equipment bestimmter Musiker auch ein Statement für ihren Ausdruck steht? Erwartet man einen Jazz-Gitarristen, wenn die Bühne voller Marshalls steht? Erwartet man einen Rockabilly-Gitarristen, wenn auf der Bühne ein winziges Metallgehäuse mit grünen Leuchtdioden steht? Wohl kaum. Wie lässt sich die sorgsam geagte Vintage-Stratocaster-Optik mit einem futuristischen Kemper-Design vereinbaren?
1977 nahm mich mein großer Bruder mit zu einem Open Air auf der Lorely am Rhein. Am Nachmittag spielte Ted Nugent über acht blonde Fender-Super-Twins, die auf acht riesigen und ebenfalls blonden Dual-Showman-Boxen standen. Er trug ein Outfit in derselben Farbe und spielte eine blonde Byrdland. Obwohl ich diesen völlig überdrehten Gecken nicht mochte, hinterließ der Anblick dieser Amps und der Byrdland einen nachhaltigen Eindruck auf mich. In der Nacht spielte dann Aerosmith. Die ganze Bühne war schwarz, die Amps, das Schlagzeug einschließlich Becken und sogar die Stöcke des Drummers und die Mikrofonständer. It‘s a Showbusiness, oder? ●