Wer heute im Internet unterwegs ist und sich über sein Lieblingsthema „Gitarrespielen“ informieren will, wird von der Fülle an Angeboten auf YouTube, Instagram, Facebook und Co. förmlich erschlagen. Es gibt unzählige YouTube-Kanäle, die von Covers bekannter Rocksongs mit Noten/Tabs, über Spieltechnik und Harmonielehre, bis hin zu Equipment-Tests eine gigantische Palette von Themen bedienen.
Wer sich für Spieltechnik und Improvisation interessiert, findet Gratis-Tutorials und kostenpflichtige Angebote von Superstars wie Frank Gambale, Joe Bonamassa oder Robben Ford. Und wirklich viele Gitarristen und Bassistinnen haben zudem oft mehrere Harmonielehre-Bücher im Regal stehen – viele hundert Seiten dick – bei denen schon ein flüchtiger Blick ins Inhaltsverzeichnis den Angstschweiß auf die Stirn treibt. Den meisten dämmert schnell die Erkenntnis, dass sie nie die Energie aufbringen werden, in hunderten Stunden disziplinierter Arbeit der umfangreichen Komplexität der Materie gerecht zu werden.
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Da stellt sich die zentrale Frage: Wie viel Wissen muss ich anhäufen, um ein guter Musiker zu werden? Muss ich wirklich jeweils sieben Modes von Dur/Moll, Harmonisch Moll, Melodisch Moll in allen zwölf Tonarten mit jeweils fünf Positionen auf dem Griffbrett lernen, bevor ich überhaupt anfangen kann, Musik zu machen? Muss ich vom Alternate-Picking über Hybrid-Picking bis zum Sweep-Picking alle möglichen Anschlagstechniken beherrschen? Muss ich vom Blatt spielen und dabei auch noch „on the fly“ transponieren können?
Angesichts der so komplexen Anforderungen, ist ein zentraler Gedanke wichtig und hilfreich:
Man muss nicht alles können!
Viele große Musiker haben ihre musikalische Stimme dadurch entwickelt, dass sie, ihren Neigungen und auch ihren physischen Grundvoraussetzungen folgend, einen Personalstil entwickelt haben, der sich für sie gut anfühlt, und gehen dabei sehr unterschiedliche Wege. Ein berühmtes Plakat des US-Magazins Guitar Player zeigt die verschiedenen Plektren zahlreicher berühmter Gitarristen. Die dort zu sehende unglaubliche Vielfalt zeigt vor allem, dass viele Wege zum Ziel führen, und dass es die eine, einzig richtige Methode nicht gibt – auch wenn dies so mancher Lehrer unverdrossen behauptet. Eine Gruppe von Gitarristen verfügt über eine unglaublich ausgefeilte Alternate-Picking-Technik und erzeugt so gut wie alle Töne durch den Anschlag der rechten Hand. Zu der gehören z.B. der gerade verstorbene Jazz-Gitarrist Pat Martino, John McLaughlin, Al Di Meola oder auch Mike Stern.
Die andere Gruppe bevorzugt Legato-Techniken wie Hammer Ons, Pull Offs oder Slides, die Tonerzeugung ist hier mehr eine Aufgabe der linken Hand. Pat Metheny, John Scofield und auf ganz eigene Weise auch Allan Holdsworth gehören zu diesem Lager. Wohl kaum jemand käme auf die Idee, zu behaupten, dass eines der beiden Lager die bessere Musik macht. Erlaubt ist, was gefällt, funktioniert und sich gut anfühlt.
Man muss kein Virtuose sein, um gute Musik zu machen.
Johnny Guitar Watson ist bestimmt nicht durch auffällig gute Spieltechnik berühmt geworden. Dafür hatte er einen unglaublich markanten, ganz eigenen Sound und die Fähigkeit, mit wenigen Tönen ganz viel zu sagen. Auch B.B. King fiel nicht durch ein riesiges melodisches Vokabular auf. Legendär ist sein Geständnis bei der Kooperation mit U2, als sie den Song ‚When Love Came To Town‘ live spielten. Bei der Probe vor dem Gig bekannte er: „I’m horrible with chords.“ Trotzdem gehört er zu den wichtigsten E-Gitarristen aller Zeiten.
In der hier startenden neuen Workshop-Reihe möchte ich einige elementare Bausteine des Gitarrenspiels vorstellen, die zunächst nicht sonderlich spektakulär erscheinen mögen. Aber bei näherer Betrachtung werden einige Leser:innen vielleicht feststellen, dass da Lücken zu schließen sind. Und in konkreten Anwendungsbeispielen aus der musikalischen Praxis werde ich zeigen, dass man mit wenigen Tools ganz viel Musik kreieren kann. Dabei versuche ich, mit so wenig Musik-Theorie wie möglich auszukommen.
BEGRIFFSERKLÄRUNGEN
Kadenz
Festgelegte Abfolge von Akkorden, die in ihrer Reinform in C-Dur so aussieht:
| C | F | G | C |
Es existieren zahlreiche Varianten.
Akkord-Definition durch Zahlen
Wenn man eine Dur-Tonleiter, beginnend mit dem Grundton, durch Zahlen beschreibt, sieht das Ergebnis so aus:
Ein Dur-Dreiklang besteht aus dem Grundton (1), der großen Terz (3, diese bestimmt das Tongeschlecht Dur), und der reinen Quint (5). Die große Terz liegt vier Halbtöne/Bünde höher als der Grundton, die reine Quint sieben Halbtöne/Bünde.
DUR-DREIKLÄNGE
Dur-Dreiklänge sind fast immer das erste, was ein Anfänger auf dem Instrument lernt. Man begegnet dann Griffen wie C, G, E, D und A, mit denen sich schon einige Lieder begleiten lassen. Bei diesen Akkorden werden aber oft alle sechs Saiten angeschlagen. Trotzdem handelt es sich um Dreiklänge, die, wie das Wort ja schon sagt, aus drei verschiedenen Tönen bestehen, dem Grundton (1), der großen Terz (3) und der reinen Quinte (5). Bei den Lagerfeuerakkorden werden einer oder mehrere der Akkordtöne gedoppelt oder sogar in dreifacher Ausführung gespielt. Bei dem bekannten G-Griff finden wir den Grundton G am dritten Bund der tiefen E-Saite, bei der Leersaite G und dann auf dem 3. Bund der hohen G-Saite.
Wir reduzieren aber die Komplexität, indem wir uns auf lupenreine Dreiklänge konzentrieren, in denen jeder Akkordton, also Grundton (1), Dur-Terz (3) und Quinte (5), nur einmal vorkommt. Die nächste Reduktion besteht in der Beschränkung auf die Saitengruppe D/G/H.
(zum Vergrößern klicken!)
Beispiel 1 zeigt die drei möglichen Formen von A-Dur. Los geht es mit der Grundstellung (GS), bei der der Grundton unten, die Dur-Terz in der Mitte und die Quint oben ist (1-3-5). Für die erste Umkehrung (1. UK) wandert der Grundton eine Oktave nach oben (3-5-1), und für die zweite Umkehrung (2. UK) dann die Terz eine Oktave nach oben (5-1-3).
Bild: Wolfgang Kehle
A-Dur Grundstellung
Bild: Wolfgang Kehle
A-Dur 1. Umkehrung
Bild: Wolfgang Kehle
A-Dur 2. Umkehrung
Diese drei Formen sind leicht zu greifen, wie auch die Fotos zeigen, und mit diesen drei Formen lassen sich bis auf drei Ausnahmen auch alle Akkorde dieses Workshops spielen.
Beispiel 2 zeigt dann eine sogenannte Dur-Kadenz, hier in A-Dur. Diese besteht aus der Tonika A auf der I. Stufe, der Subdominante D auf der IV. Stufe und der Dominante E auf der V. Stufe. Viel wichtiger als die gerade genannten lateinischen Namen ist, wie das Ganze klingt. Und ich verspreche hier hoch und heilig: Wer dieses Beispiel noch nicht flüssig vorwärts wie rückwärts spielen kann, investiert seine Übungszeit hier bestens, um etwas ganz zentral Wichtiges zu lernen.
Und nicht vergessen: Die oben im Foto gezeigten Griffe sind immer die gleichen, nur der Grundton – im Notenbild erkennbar an dem kreisförmigen innen weißen Notenkopf – und damit natürlich die Position auf dem Griffbrett ändert sich.
Kleine Eselsbrücke: Bei der Grundstellung ist der Grundton auf der D-Saite, bei der ersten Umkehrung auf der H-Saite, und bei der zweiten Umkehrung auf der G-Saite! Suche ich z.B. den richtigen Griff für F-Dur in der ersten Umkehrung, muss ich nur wissen, wo auf der H-Saite das F liegt (am 6. und auch am 18. Bund).
Wer die Kadenz aus Beispiel 2 durch alle Umkehrungen durchspielt, wird bemerken, dass die Abfolge der neun Akkorde ziemlich vertraut klingt. Aber wir brauchen jetzt ein Beispiel aus der Praxis. Vernon Reids Dur-Dreiklangs-Riff in dem Living–Colour-Song ‚Solace Of You‘ (Beispiel 3) zeigt mit afrikanisch angehauchter Rhythmik, wie cool eine I-IV-V-Kadenz (hier in D-Dur) klingen kann. In dem Living–Colour-Song ‚Glamour Boys‘ hören wir übrigens die gleiche Kadenz, nur in Bb-Dur.
Ein ganzes Arsenal von neuen Klängen entsteht, wenn man über einen festen Grundton unterschiedliche Dur-Dreiklänge legt. In Beispiel 4 beginnen wir mit A-Dur (zweite Umkehrung, Grundton auf der G-Saite) und probieren dann in Halbtönen ansteigend mit Bb/A bis G#/A alle zwölf möglichen Dur-Dreiklänge über dem Grundton A (=Leersaite) aus. Und auch wenn Musik letztlich so komplex sein kann wie das Universum, können wir festhalten: Es gibt nur diese zwölf Dur-Dreiklänge – für jeden Halbton einen! Man kann jetzt jeden der zwölf Akkorde über dem Grundton A auf sich wirken lassen, sich vielleicht ein paar Favoriten aussuchen und versuchen, gut klingende Kombinationen zu finden. Eine dankbare und sich lohnende Plattform für Songwriting!
Ein berühmter Song der Rock-Geschichte ist ‚Sylvia‘ von der holländischen Rockband Focus. Deren Gitarrist Jan Akkerman kreierte nach dem gerade in Beispiel 4 geschilderten Prinzip wechselnder Dur-Dreiklänge über einem festen Grundton das grandiose Gitarrenintro. Wir transponieren den festen Grundton F des Originals nach A, damit sich das Ganze leicht spielen lässt (Beispiel 5). Klingt cool, und um solche Riffs zu schreiben, braucht man keine Theorie. Einfach austesten, was einem gefällt und gut klingt.
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Auch das Gitarren-Interlude im Smash-Hit ‚Davy’s On The Road Again‘von Manfred Mann’s Earthband funktioniert nach dem gleichen Prinzip. Für Beispiel 6 habe ich die Original-Tonart G-Dur wieder nach A transponiert. Hier ist das Greifen denkbar einfach, weil nur A-Dur in der Grundstellung verschoben wird. Im siebten Takt habe ich noch einen Asus4 reingeschmuggelt, bei dem die Terz C# durch das D einen Halbton weiter oben ersetzt wird.
Hier noch zwei Tipps zum Ausprobieren: Testet mal, wie es klingt, wenn ihr einzelne oder alle Dur-Akkorde durch Sus4-Akkorde ersetzt. Und probiert aus, die leere hohe E-Saite mal mit anzuschlagen.
Auch in Beispiel 7 gehört ein Akkord nicht zu den Dur-Dreiklängen dieses Workshops. Aber Mark Knopflers Dm-Akkord ist ganz leicht zu greifen, und so klingt sein Dreiklangs-Lick aus dem berühmten ‚Sultans Of Swing‘genau, wie es sein soll.
Steve Lukather bediente sich als Gitarrist auf der Solo-Platte des Tubes-Sängers Fee Waybill wieder des Prinzips aus Beispiel 4, 5 und 6. Im Intro von ‚You’re Still Laughing‘ (Beispiel 8) generiert er so ein fett abrockendes Riff.
Beim nächsten Mal schauen wir uns die Dur-Dreiklänge auf der Saitengruppe G-, H- und hohe E-Saite an. Wieder nur drei leichte Griffe und jede Menge Möglichkeiten. Stay tuned!
Hallo Wolfgang, ich habe den Eindruck, das du von Max Frankl beeinflusst bist. Das finde ich durchweg positiv. Ist für mich Max wie ein Türöffner in punkto Musik machen. Meine Sicht was bei Gitarrenspil wichtig ist, hat sich durch ihn verändert. Was die Dreiklänge angeht, setze ich die beim Funk ein und es klingt amtlich. Über Dreiklänge gibt es ein Buch von David Becker. Dann das Konzept of triad pairs of Jazz von Gary Cambell.
Hallo Wolfgang, ich habe den Eindruck, das du von Max Frankl beeinflusst bist. Das finde ich durchweg positiv. Ist für mich Max wie ein Türöffner in punkto Musik machen. Meine Sicht was bei Gitarrenspil wichtig ist, hat sich durch ihn verändert. Was die Dreiklänge angeht, setze ich die beim Funk ein und es klingt amtlich. Über Dreiklänge gibt es ein Buch von David Becker. Dann das Konzept of triad pairs of Jazz von Gary Cambell.
Sehr übersichtlich dargestellt! Griffbild und Noten und Tab, besser geht’s nicht 🙂 Danke!!