Höher, schneller, weiter ...?

Extended Range Guitars

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Von Traditionalisten wird Extended Range Gitarren oft ein gewisser Überfluss attestiert. Und als die erste in Serie produzierte 8-String im Jahre 2007 den Markt erklomm, ließen die Unkenrufe auch nicht lang auf sich warten.

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(Bild: Simon Hawemann/John Strieder)

Es zeigte sich jedoch recht schnell, dass es durchaus viele und vor allem vielfältige Anwendungsbereiche für achtsaitige Gitarren gibt. Tosin Abasi hat zum Beispiel, ohne seine Metal-Wurzeln zu vernachlässigen, das Instrument in virtuose Fusion-Sphären gehievt und mit seinem Spiel vielerorts für offene Münder gesorgt. Und selbst in relativ seichte Indie-Rock-Gefilde hat es achtsaitige Gitarren dank Josh Martin von Little Tybee unlängst verschlagen. Doch wohin geht es nun für Extended Range Instrumente? Ist das Limit mit 8 Saiten erreicht und Gitarren mit noch mehr Saiten nur noch für den Schock- Faktor gut, oder sind diesen Instrumenten wahrlich keine Grenzen gesetzt?

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Acht Saiten – noch immer nicht genug?! (Bild: Simon Hawemann/John Strieder)

Das große Wettrüsten

Doch! So kurz und knapp kann ich diese Frage beantworten. Aber bevor jetzt jemand direkt die Krise kriegt, will ich gleich vorwegnehmen, dass dieser Teil der Kolumne meine persönliche Meinung und Erfahrung reflektiert und demnach nicht als ultimative Aussage zu verstehen ist. Und da wir das jetzt geklärt haben, lasst uns ans Eingemachte gehen!

Wie schon im ersten Teil dieser Serie angedeutet, ist der Markt der Extended Range Instrumente sehr davon abhängig, was in den Custom Shops so zusammengebaut wird. Diese reagieren zuerst auf die Nachfrage der Zielgruppe und können flexibler auf die ausgefallenen Wünsche und neuen Trends eingehen, von denen die großen Hersteller oft noch Jahre entfernt sind. So dauerte es nach dem erfolgreichen Sprung der 8-Saiter in die Massenproduktion nicht lange, bis die Custom Shops schon wieder nachlegten. Der Schock-Faktor der 8-Saiter hatte längst nachgelassen und es mussten neue Mittel her, um aus der Masse herauszustechen. Damit schien für eine gewisse Zeit lang ein Drang einherzugehen, sich gegenseitig zu überbieten. Einfach mehr Saiten hinzuzufügen mag eine Möglichkeit sein, um Aufmerksamkeit zu erregen, aber wie spielt sich eigentlich eine Gitarre mit 9 oder 10 Saiten? Wie klingt sie? Und was für Musik spielt man auf solchen Instrumenten?

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Ibanez 9-String Prototyp auf der NAMM 2013 (Bild: Simon Hawemann/John Strieder)

Als die ersten Leute in meiner Extended Range-Facebook-Gruppe (www.facebook. com/groups/ergncommunity) Clips von ihren 9-Strings posteten, verstärkte sich vor allem der Eindruck, dass der „Schock-Faktor“ eine ganz wesentliche Rolle zu spielen schien. Die erste Welle von musikalischen Ergüssen bestand hauptsächlich aus Single-Note- Riffs und Breakdowns auf der tiefsten Saite. Die große Attraktion schien das noch tiefere Tuning zu sein – nicht die abermals erweiterte Range. Und während der Erfolg der 8-String musikalisch beachtliche Früchte trug und eine große Anzahl von Bands inklusive neuer Sound-Ästhetik hervorbrachte, blieb dieser Effekt bei Gitarren mit noch mehr Saiten zunächst aus. Dennoch schien die Nachfrage nach Instrumenten mit mehr als acht Saiten zu steigen und natürlich war es nur eine Frage der Zeit, bis die ersten in Masse produzierten 9- oder 10- Strings auf den Markt kommen würden. Und so stand ich 2013 auf der NAMM und hielt einen neunsaitigen Ibanez Prototypen in der Hand. Ein Jahr später kamen die Serienmodelle RG90 Prestige und RG9 auf den Markt – und ich konnte beide testen.

Am Limit

Als ich gegen Ende 2014 die Ibanez RG90 in die Hände bekam, war der erste Eindruck schier erschlagend. Dank des weiten Fretboards erinnerte dieses Instrument optisch eher an ein massives Raumschiff, als an eine Gitarre. Überrascht war ich hingegen vom geringen Gewicht der RG90, die geradezu leicht wie eine Feder aus dem Koffer abhob. Auch qualitativ bewegte sich die Ibanez spürbar in der absoluten Oberklasse und wirkte selbst für die sowieso hochwertige Prestige Serie nochmals verfeinert – als hätte man versucht, die schiere Masse an Material so gut es geht zu verschlanken und somit die Bespielbarkeit wo es nur geht zu optimieren.

Der extra schlank ausgefallene Neck Joint der RG90 erinnert an die hauseigene J.Custom Serie der Japaner und erleichtert den Zugriff auf den 24. Bund genauso wie das von der Rückseite etwas abgeschliffene untere Horn. Diese Modifikation schafft für den Handrücken beim Spiel in den hohen Lagen noch mehr Platz. Auch das super flache Hals-Profil samt wirklich smoothem Finish hätte komfortabler kaum ausfallen können – und die perfekt abgerichteten Bünde tun ihr Übriges. Also sollte dem Geshredde doch nicht mehr viel im Wege stehen, oder?

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Ab 2014 in Serie produziert: Die Ibanez RG90 (Bild: Simon Hawemann/John Strieder)

Doch so einfach ist das leider alles nicht. Egal wie perfekt das Halsprofil und wie hilfreich die Vielzahl an Tweaks an der RG90 auch sein mögen – der Hals ist nun mal enorm massiv und bei 9 Saiten nicht die Orientierung zu verlieren alles andere als ein Zuckerschlecken! Man muss sich wirklich enorm konzentrieren, um nicht ständig auf der falschen Saite zu landen. Ich sollte an dieser Stelle zwar anmerken, dass ich recht kleine Hände und kurze Finger habe, was die Bespielbarkeit natürlich zusätzlich erschwert, aber auch ohne dieses Handicap ist die neunsaitige Ibanez wirklich ein Brocken. Aber wie steht es um den Sound? Die 28 Zoll Mensur der RG90 sorgt für einen straffen und tighten Klang … zumindest gilt das für einen Umfang von 8 Saiten.

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Bloß nicht die Überblick verlieren! (Bild: Simon Hawemann/John Strieder)

Bei der neunten, also der tiefsten Saite, lässt der Spaß allerdings etwas nach. Ab Werk kommen 9-Saiter in der Regel auf C# gestimmt – und wir sprechen hier über das C#, welches nur zwei Halbtöne über der tiefsten Note eines fünfsaitigen Basses liegt. Schon die angeschlagene Werks-Leersaite braucht eine Weile, bis sie sich auch tatsächlich aufs C# einschwingt. Und so richtig nach Gitarre klingt das auch nicht. Der Ton erinnert eher an einen verzerrten Bass, nur deutlich weniger straff und tight. Das mag alles noch vertretbar sein und seine Anwendung haben, aber sobald man anfängt, die tiefe Saite auch in verschiedenen Bünden zu greifen, ist Schluss mit lustig. Das Sustain stirbt so schnell ab, dass man das Gefühl hat, dass der Gitarre schlichtweg die Puste ausgeht. Da helfen auch die sonst wirklich ausgezeichneten Canines von Bare Knuckle Pickups nicht.

Diese klingen über die restlichen 8 Saiten richtig gut … aber bei der 9. Saite ist einfach Sense. Man bekommt schnell den Eindruck, dass diese schlussendlich lediglich als Effekt-Saite brauchbar ist, aber vermutlich nicht großartig ins Akkordspiel mit eingebunden werden kann. Und an dieser Stelle stellt sich natürlich die Frage, wie viel Sinn das ganze Unterfangen denn ergibt. Sicher, es gibt Möglichkeiten, das Ergebnis zu optimieren. Eine längere Mensur, besser abgestimmte Saitenstärken, ein perfektes Setup. Dennoch … alles in allem scheint das Instrument Gitarre hier so langsam an seine Grenzen zu stoßen.


Komponist und Gitarrist John Strieder (Coma Cluster Void) zu seiner 10-saitigen Gitarre:

„Schon als Teenager experimentierte ich mit Open Tunings, da das für tonale Musik ausgelegte Standard-Tuning für meinen natürlichen Ausdruck, der immer atonal ist und war, nicht zweckmässig ist. Die Idee hinter dem Tuning für Coma Cluster Void ist, das Instrument für meine Musik wieder geeignet zu machen.“


Over the Top

Die bisher ausbleibende Welle von Bands mit neun- oder gar zehnsaitigen Gitarren spricht eher dafür, dass mehr Saiten nicht unbedingt für mehr kreativen Output sorgen. Viel hilft nicht immer viel, könnte man sagen. Der Boom der 8- Saiter konnte jedenfalls bisher nicht ansatzweise wiederholt, geschweige denn übertroffen werden. Und das ist meiner Meinung nach auch für die Zukunft nicht absehbar. Für einen großen Teil der ERGZielgruppe, also junge Gitarristen mit einem eher modernen Musikgeschmack, dürfte am Ende des Tages nicht viel mehr aus solch extremen Gitarrenkonzepten herauszuholen sein, als die Möglichkeit krasser als andere Gitarristen rüberzukommen und beim lokalen Gig (oder auf YouTube) mit dem noch ausgefalleneren Instrument zu schocken. Musikalisch habe ich bisher jedenfalls wenig gesehen oder gehört, was über Tiefton-Gemurmel hinausgeht.

Das soll nicht heißen, dass diese Gitarren keinerlei Einsatzgebiete hätten, aber mir fallen insgesamt nur zwei Bands ein, die Gitarren mit mehr als 8 Saiten spielen und sich damit überhaupt beachtlich Gehör verschaffen konnten. Einerseits wären da Glass Cloud, die Band von Ausnahmegitarrist Joshua Travis (ehemals The Tony Danza Tapdance Extravaganza). Aber leider ist deren Musik recht generischer, moderner Metalcore – da helfen auch die ausgefallenen Gitarren nicht! Was ein Instrument mit 9 oder 10 Saiten wirklich braucht, sind Querdenker. Unkonventionelle Künstler, die nicht „nur“ technisch fähig sind, diese gigantischen Gitarren zu beherrschen, sondern auch kreativ dazu in der Lage, die Range spannend zu nutzen. Und da fällt mir nur ein Beispiel ein: Coma Cluster Void.

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Agile 10-String von John Strieder (Coma Cluster Void) (Bild: Simon Hawemann/John Strieder)

Neue-Musik-Komponist und Gitarrist John Strieder ist ein Freund, der vor einigen Jahren mit mir für ein Album meiner alten Band War From a Harlots Mouth kollaborierte. Für ‚Voyeur‘ schrieb und performte er einige Interludes auf einem Violoncello. Sein atonaler Stil ergänzte sich perfekt mit der musikalischen Marschrichtung des Albums und seine Stücke verhalfen dazu, das Album atmosphärisch homogen zusammenzufügen. Kurz darauf machte sich John an die Arbeit und schrieb das erste Material für sein eigenes Extrem-Metal-Projekt auf einer 10-String von Agile, die er speziell auf atonale Intervalle gestimmt hatte.

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Sonderanfertigungen: Instrumental Pickups SFTY3-10 (Bild: Simon Hawemann/John Strieder)

Trotz aller Skepsis gegenüber der Nutzbarkeit von solchen Instrumenten war ich mir sicher, dass es bei Coma Cluster Void spannend und unkonventionell werden würde. Und so over the Top wie eine Gitarre mit 10 Saiten, dürfte den meisten Hörern sicher auch die Musik von Coma Cluster Void vorkommen. Diese spielt sich fast vollkommen außerhalb jeglicher Konventionen ab. Tonalität nach Harmonielehre oder leicht erschließbare Rock-Beats sucht man auf dem gerade erschienenen Debüt ‚Mind Cemeteries‘ vergeblich. Aber mehr dazu gibt es in meiner Musikempfehlung des Monats, die seit der letzten Ausgabe übrigens regelmäßiger Teil dieser Kolumne ist.

Zur Nische verdammt

Verdammt?! Das klingt negativ. Aber ist das wirklich so eine schlechte Sache? Auf keinen Fall! Jede Nische hat ihre Daseinsberechtigung – und das gilt auch für Gitarren mit mehr als acht Saiten. Denke ich, dass neun oder gar zehn Saiten notwendig sind? Nein. Denke ich, dass sich solche Instrumente gut oder einfach spielen? Beim besten Willen nicht. Klingt ein tiefes C#-Tuning überhaupt noch nach Gitarre? Kaum. Aber ein Instrument muss keinen Mass Appeal haben um zu existieren und benutzt zu werden. Sich darüber zu streiten (und Gitarristen streiten bekanntlich gerne über ungeschriebene Regeln) ist sinnlos. Den Durchbruch der 8-String wird kein noch extremeres Extended Range Instrument toppen können. Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass zumindest die großen Hersteller wie Ibanez oder Schecter in nicht allzu ferner Zukunft den Verkauf ihrer neunsaitigen Modelle einstellen werden. Für die meisten von uns ist mit 8 Saiten das Maximum an Bespielbarkeit, Notenumfang und schierer Benutzbarkeit erreicht – wenn nicht oft schon überschritten. Alles darüber hinaus wird weiterhin Seltenheitswert haben oder sogar über kurz oder lang fast komplett von der Bildfläche verschwinden… da bin ich mir ziemlich sicher.


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