(Bild: EMI)
Hallo ihr Blues-Freaks! Na, was geht ab bei euch? Wie lief es mit dem Chorus im Stil des guten alten Wes Montgomery? (hier geht’s zur letzten Folge) Beim Thema Improvisation spielt man zu Anfang der Reise in der Regel ein sehr pauschales System und versucht, möglichst viele Akkorde einer Stammtonart zuzuordnen. Dies nennt man Keycenter- oder Stammtonartdenken. Dieses eine Extrem, die größtmögliche Verallgemeinerung und Vereinfachung des Denkens, wird häufig in der Rock- und Popmusik angewandt. Das ist absolut legitim und zudem stark stilprägend. Macht man halt in verschiedenen Stilen so. Die ersten Folgen von BBC, in denen wir uns mit Pentatoniken beschäftigt haben, gingen ja auch genau in diese Richtung.
Das andere Extrem, das ich gerne die Jazz-Perspektive nenne, ist, dass man für jeden Akkord etwas Spezielles findet. Dies ist wiederum stark stilprägend für Jazz. Oft fängt man mit Akkordtönen an, dann Upper Structures, Skalen, Chromatik … Das ist die Richtung, die wir bei den BBC-Folgen der letzten Monate eingeschlagen haben. Dies ging ja so weit, dass wir uns zuletzt um halbtaktige Zellen gekümmert haben. Zwischen diesen beiden Polen gibt es einige Abstufungen: Dur/Moll-Mix im Blues, modale Harmonik und Improvisation in Rock und Pop, Skalensysteme wie Harmonisch und Melodisch Moll etc.
Wie schon in der letzten Folge angekündigt, geht es diesmal auch um Pat Martino und sein „Linear Expressions/ Convert To Minor“- Konzept, das irgendwo zwischen diesen Polen liegt. Es fängt an mit Miles Davis‘ Komposition ‚So What‘. Die war ein starker Kontrast zum Bebop in Bezug auf Tempo und harmonische Bewegung: Zuvor viele schnelle Akkordwechsel vs. quasi nur ein One-Chord-Vamp im mittleren Tempo. Dieser neue Sound war damals ein starker musikalischer Impuls für die gesamte Musikszene.
Der Funk nahm das auf und die dorische Tonalität mit ihrer angenehmen Ziellosigkeit wurde zum neuen Grundsound für die Jams der folgenden Jahre und Jahrzehnte. Der dorische Sound etablierte sich schnell als weiterer, neuer Grundsound in populärer Musik neben Dur und Moll. Vor allem in Musik, die einen BlackMusic-Ursprung hat. Einige Zeit später passiert dies auch nochmal mit Mixolydisch, als sich Ende der 60er der Dom7-Akkord-bezogene Classic Rock aus dem Blues entwickelt. Der dorische „So-What-Sound“ war also DER neue Sound.
Jetzt folgt ein interessanter Gedankenschritt: Anstelle der gewohnten Zuordnung von Akkorden nach Dur oder Moll, stellt sich die Frage, welcher DORISCHEN Tonalität man also einen Akkord oder eine Akkordfolge wie eine II-V-I zuordnen kann. Klingt Kompliziert? Ist es nicht. Man hat einfach eine weitere Zuordnungsmöglichkeit neben den gewohnten Kategorien Dur und Moll, die zu erstaunlichen Ergebnissen führt.
Als Beispiel mal die Akkordfolge Dm7–F–G–F. Man würde sie normalerweise als Stufenakkorde von C-Dur identifizieren und ggf. auch aus einer C-Dur-Perspektive heraus darüber improvisieren – mit welchem Konzept man auch immer vertraut sein mag (CAGED, 3-Noten-pro-Saite-Skalen etc.).
Der neue Schritt ist nun, sich zu fragen, mit welcher dorischen Tonleiter C-Dur verwandt ist – D-dorisch – und die Akkorde dann dieser dorischen Tonart zuzuordnen. Dorisch besteht aus denselben Tönen wie die C-Dur-Tonleiter, wird aber in der Regel deutlich anders bespielt. Klar, ist ja auch eine auf einem Mollakkord basierende Tonalität, und man nutzt häufig intuitiv andere Tools als über Durakkorde.
Gute Tools für einen Dm7-Akkord wären:
• D-Dorisch (wobei es an dieser Stelle einfach sehr wichtig ist, NICHT in alte motorische Gewohnheiten zurückzufallen und wieder in C-Dur zu denken und auf dem Ton C zu starten, sondern wirklich einmal auf dem Ton D zu beginnen.)
• die dorische BeBop-Skala
• D-Moll-Pentatonik, D-Bluesskala, A-Moll-Pentatonik
• Dm7- und Fmaj7-Arpeggien
• Dm-, Em-, F-Dur- und G-Dur-Dreiklänge
• angenehmerweise verträgt Dorisch auch mehr Chromatik.
Dieser Perspektivwechsel klingt deutlich anders, als wenn man aus einer Dur-Perspektive darüber spielt – obwohl es technisch gesehen ja dieselben sieben Töne sind. Ausprobiert? Okay. Weiter geht’s: Dieser Sound wird in den späten 50er- und 60er-Jahren sehr populär. Man findet ihn bei Wes Montgomery, George Benson, Grant Green, Pat Martino und anderen.
Apropos Pat Martino: Während man absolut davon ausgehen kann, dass diese Klänge von den oben genannten Gitarristen vorrangig über das Hören und imitieren gelernt und intuitiv eingesetzt wurden – weil es damals einfach der angesagte Style war und weil bluesige Klänge einfach gut zum Jazz passen – hat sich Pat Martino einige Jahre später, ausgelöst durch seine Nähe zum GIT und dem REH-Verlag, intensiver und auch auf intellektueller Ebene mit diesem Konzept auseinandergesetzt. Dabei ist ein 1983 veröffentlichtes Buch entstanden, das den Titel „Linear Expressions“ trägt. In diesem Buch stellt Pat Martino zuerst einmal fünf längere Lines, die er Activities nennt, für einen Moll7 -Akkord als zweiten Stufenakkord, vor.
Diese Lines sind gespickt mit allem was man in der Jazzimprovisation so mag: Ein wenig Blues, Arpeggiofragmente, etwas Chromatik. In Beispiel 1 findest du fünf ähnliche Lines für einen Am7. Sie sind zwar technisch anspruchsvoll, klingen aber sehr cool (übrigens auch in anderen Styles als nur Jazz).
Jetzt kommt der entscheidende Gedanke: Diese Lines funktionieren auch genauso gut für D7, F#m7b5, Cmaj7 und Ab7alt, womit man alle Akkordtypen abgedeckt hätte. Würde in einem Song nun einer dieser Akkorde oder Akkordtypen auftauchen, fragt man sich jetzt nicht mehr, zu welcher Durtonart er wohl gehört, sondern „rechnet“ es in die verwandte dorische Tonart um und spielt dann eine entsprechende Activity Tonart darüber (siehe Beispiel 2).
Ein paar Übungsbeispiele: D7 wäre eigentlich in G-Dur enthalten. Die verwandte dorische Tonart von G-Dur findet man einen Ganzton höher, also A-Dorisch und Activities in A. C7 wäre eigentlich F-Dur – also G-Dorisch/Activities in G. A7 wäre D-Dur also E-Dorisch/Activities in E. Hm7b5 wäre eigentlich C-Dur, also D-Dorisch/Activities in D. Got it?
Was bringt einem dieses Wissen nun? Denkt und spielt man über II-V die ursprüngliche Stammtonart, klingt es bei vielen Leuten (übrigens auch bei mir) sehr lange eigentlich nicht wirklich nach Jazz. Behandelt man jeden Akkord getrennt, wird das zwar besser, aber man ist mitunter beim Spielen sehr mit Denken beschäftigt. Das Pat-Martino-Konzept hat das Beste aus beiden Welten: harmonische Vereinfachung und trotzdem sehr attraktive jazzige Klänge.
Die Activities sind auch ziemlich gut klingende Technikübungen. Sie klingen außerdem auch sehr sexy über modale Vamps und Akkordfolgen und sind im Blues ein schöner Kontrast zu traditionellen Blues-Klängen. Wichtig ist vielleicht auch noch, dass man die Activities natürlich nicht immer komplett spielen muss, sondern es für den Anfang reicht, sich erstmal die Lieblingspassage herauszuziehen. Man könnte sich auch eigene Activities zusammenbasteln. Es gibt so viele Möglichkeiten …
Beim Solo dieser Episode werden Elemente von Wes Montgomery und Pat Martino miteinander kombiniert. Die Akkordfolge (siehe Beispiel 3) ist im Stil von ‚Four On Six‘ gehalten (siehe G&B 09/2023).
Im Solo (Beispiel 4) habe ich folgende Ideen verarbeitet:
Takt 1 bis 4: Eine Line, die einige Elemente aus Beispiel 1c enthält
Takt 5: Typisch Wes – Ebmaj7-Arpeggio über Cm7 und F7
Takt 6: Akkordtöne von Bbm7 und Eb7
Takt 7: BeBop Skala über Am7 und D7
Takt 8: Akkordtöne von Ebm7 und Ab7
Takt 9 bis 12: eine melodische Auflockerung basierend auf Akkordtönen
Takt 13 bis 15: Akkordtöne
Takt 16: Terz-b9-Lick
So, das war es für diesen Monat. Tastet euch langsam an das Material ran und bleibt echt.
(erschienen in Gitarre & Bass 11/2023)