(Bild: ©ALYSSE GAFKJEN 2021)
Mit neuer Signature-Gitarre ausgestattet pendelt der New Yorker Gitarrist auf seinem neuesten Album ‚Squint‘ zwischen Jazz, Americana und freiem Spiel. Trotz aller harmonischer und spielerischer Raffinesse, bleibt die Musik des 33-jährigen Amerikaners auch für nicht-Jazzer zugänglich. Anklänge an Surf, Rockabilly und Country mischen sich mit Jazz-Sensibilität und Crunch-Sounds. Mehr über das interaktive Spiel seines Trios mit Bassist Jorge Roeder und Drummer Dave King und über das Album verrät ein gut gelaunter Julian Lage per Zoom-Interview aus einem New Yorker Park.
SQUINT
Wie fängst du für ein solches Album mit dem Schreiben an? Hast du einfach eine Sammlung von Stücken oder startest du mit einem Konzept?
Gute Frage! Das ist bei jeder Platte anders. Diesmal wusste ich, dass ich zusammen mit Dave und Jorge eine Platte mit eigener Musik aufnehmen wollte. Ich fing an zu schreiben, habe die Sachen dann aber beiseitegelegt. Als es konkret wurde, wollte ich mich auf bestimmte Themen konzentrieren. Das erste war die Überschneidung von melodischen Kompositionen und freier, spontaner Improvisation. Und einen Weg zu finden, so zu schreiben, dass du nicht wirklich den Unterschied bemerkst, zwischen dem was geschrieben und dem was improvisiert wurde.
Der zweite Ansatz war, sich mit Medium Swing zu beschäftigen, also Jazzmusik, die weder schnell noch langsam ist. Die ganzen Meister wie McCoy Tyner, Sonny Rollins und Ornette Coleman haben das verstanden. Ich habe sehr viele Songs geschrieben und dann haben wir mit der Band und unserer Produzentin Margaret Glasby bestimmte Sachen ausgeschlossen. Am Anfang waren es 30 bis 40 Songs, und am Schluss blieben die übrig, die auf der Platte sind.
Machst du Demos mit Ideen/Parts für Drums und Bass oder sind es eher Leadsheets und Gitarren-Ideen?
Ich bevorzuge Stift und Papier. Ich mache keine Demos mit Midi-Drums und Bass. Ich spiele eine Soloversion von jedem Stück ein und schicke sie der Band. Bei Swing-Musik geht es sehr stark darum, das Timing anzuziehen oder es zu entspannen, das birgt ein gewisses Geheimnis. Wenn ich einen Song fertig geschrieben habe, gibt es eine Aufnahme, bei der ich ihn mit Solo von Anfang bis Ende durchspiele. Und wenn er als Soloperformance gut klingt, wird er noch besser, wenn wir in einem Raum stehen und ihn mit Bass und Drums spielen.
Arbeitest du dann verschiedene Arten aus, die Melodie zu spielen? und hast du dann bereits eine Grundidee für das Solo?
Ich folge keinem bestimmten Konzept, wenn ich Stücke für das Solospiel arrangiere. Ich mache keine Chord-Melody-Version, sondern hüpfe irgendwie durch den Song. Es ist jedes Mal anders. Das Tempo und die Phrasierung der Melodie sind für mich klar und die Begleitung kann ich jederzeit verändern.
Es gibt also keine ausgeschriebenen Basslinien- oder Läufe?
Nein, nicht bei mir. Ich habe Leute engagiert, von denen ich denke, dass sie die besten der Welt sind. Mein Job ist die Gitarre, und ihr Job sind ihre Instrumente. Das ist eine sehr befreiende Erfahrung. Sie können nichts kaputt machen, es geht eher um Präferenzen. Sie bieten spielerisch etwas an, und ich sage dann: „Das hat mir gefallen, aber vielleicht könntest du an der Stelle auch auf dem Becken spielen.“ Sie können aus einem ganzen Leben voller Erfahrung schöpfen, das verbessert die Sache.
Lass uns über das Stück ‚Boo’s Blues‘ reden. Wer ist Boo?
Das ist geheim, aber ‚Boo’s Blues‘ ist ein Song in der Tradition von Billy Higgins, als er mit Sonny Rollins gespielt hat – ein ganz spezielles Swing-Feel.
Er fängt als simpler I-IV-V-Blues an, geht dann aber in eine B-Section mit anderen Harmonien. Hattest du das Gefühl, der Song braucht noch etwas, das ihn von einem regulären Blues unterscheidet?
Absolut. Ich dachte, da muss noch etwas kommen nach dem Eingangs-Statement. Einen Blues mit einer Bridge wollte ich schon lange schreiben, und das war die perfekte Gelegenheit.
In ‚Saint Rose‘ benutzt du viele Double Stops und Dreiklänge. Hast du an so etwas gearbeitet und versuchst damit die vollen Jazzakkorde von Leuten wie Barney Kessel zu vermeiden?
Die Tradition von Barney Kessel, Tal Farlow oder Joe Pass ist definitiv auf diesen großen Voicings aufgebaut und hat einen üppigen Klang. Aber gleichzeitig gab es auch Jim Hall, Jimmy Raney, John Abercrombie und Ralph Towner, die Mehrstimmigkeit in einer nicht komplementären Weise benutzt haben. Diesen Stil gibt es schon, und ich erhebe keinen Anspruch darauf, etwas Neues zu machen. (lacht) Quarten und Double Stops haben auch einen vollen Sound, und wenn du viele aneinanderhängst, wird er noch voller. Selbst Freddie Green hat mit 3-Noten-Akkorden angefangen, auf vielen Platten aber nur eine Note auf der D-Saite gespielt. Eine Note kann ein Akkord sein und zwei Noten eine Symphonie, wenn du es willst.
Wie gehst du eine Version eines Gesangsstücks an? Transkribierst du die Melodie oder spielst du ihn eher aus dem Gedächtnis, bis er so klingt wie du es willst?
Eher das Letztere. Ich glaube, dass – egal welche Sprache du sprichst – Worte schon eine Abstraktion der eigentlichen Bedeutung sind. Ein Wort ist kein Ding und das gilt auch für Noten oder Rhythmen auf der Gitarre. Ich versuche, Noten nicht als weniger bedeutsam anzusehen als Worte, sie verdienen die gleiche Aufmerksamkeit.
Ich überlege dann, diese Note sollte länger sein, jene eher staccato gespielt werden, diese etwas verzögert. So gehe ich durch jede Phrase, bis sie so bedeutungsvoll klingt, als wäre sie gesprochen. Dieser Prozess macht mir Spaß, und gerade langsame Songs bieten da viele Möglichkeiten.
Wo habt ihr das Album eigentlich aufgenommen?
In einem großen Studio in Nashville namens Sound Emporium. Wir waren in einem großen Raum zusammen, recht weit voneinander entfernt, trugen aber keine Kopfhörer. Wir konnten uns sehen, und der Amp war im selben Raum wie die Band. In der Mitte des Raumes stand ein Mikrofon, das den Sound einfängt. Dadurch gibt es zwar viele Übersprechungen, aber ich mag, wie die Aufnahmen klingen.
(Bild: Alysse Gafkjen)
ÜBEN & ARRANGIEREN
Du scheinst generell mehr an alten Jazzstilen interessiert zu sein als viele deiner Kollegen. Was gefällt dir daran?
Jazz war immer eine moderne Entwicklung. An jeder wichtigen Stelle der Jazz-Entwicklung gab es moderne Pioniere. Von Louis Armstrong zu Max Roach, George Barnes oder Django. Charlie Christian war ein Modernist, er war damals nicht altmodisch. Ich finde es toll, dass es eine Zeit gab, wo alles so frisch war, dass es „old school“ nicht gab. Die besten modernen Musiker haben einen Bezug zur Geschichte, wollen aber nicht zurück in die Dreißiger. Es ist 2021, wir müssen neue Musik spielen.
Ich mag die Kraft, den Sound und Geist dieser Musik. Ich sehe es aber eher als Unterstützung an: Sich alten Jazztraditionen verbunden zu fühlen, stärkt auch die Verbindung zu moderner Musik. Wenn ich mich davon abgrenzen muss, fühlt sich das sehr komisch an. Duke Ellington zum Beispiel war einer der futuristischsten Musiker, die es je gab!
Findest du, dass sich diese Songs leichter arrangieren lassen, weil sie einfacher sind als moderne Jazz- und Fusion-Sachen?
Ja und nein. Mit weniger Material hast du mehr Freiheit, aber ich würde nicht sagen, dass es einfacher ist, nur anders. Moderne Musik ist vielleicht dichter. Dichte Musik schreibt dir aber harmonisch auch viel vor und zwingt dich, auf eine bestimmte Art zu spielen. In Songs, die auf einem oder ein paar Akkorden aufgebaut sind, hast du eine andere Verantwortung. Du musst mehr überlegen, wie du etwas phrasierst oder welche Harmonien du darüberlegst. Ich finde das nicht einfacher, sondern es ist eine Herausforderung, der ich mich gerne stelle.
Hast du ein bestimmtes Übungskonzept? Oder arbeitest du einfach an Musik?
Im Moment bin ich sehr glücklich, so viel zuhause zu sein. Ich übe jeden Tag und arbeite speziell am tiefen Register der Gitarre, versuche flüssiger und expressiver auf den tiefen Saiten zu werden. Damit verbringe ich Zeit, spiele ein paar Songs, spiele unterschiedliche Soli und versuche, neue Musik zu schreiben.
Du wachst also nicht auf und übst erstmal 30 Minuten Tonleitern?
Nein. So etwas hat immer zwei Seiten. Die eine ist die Regelmäßigkeit. Es ist schwierig, eine solche Übe-Routine aufrechtzuerhalten. Der Nachteil ist, dass ich davon abhängig werde. Mich fühle, als ob ich nicht spielen könnte, bevor ich es getan habe. Ich mag Üben, das sich unstabil anfühlt. Ich möchte jeden Tag einen neuen Plan machen, der zu dem Tag passt. Dadurch leide ich weniger. Ich habe früher jeden Tag stundenlang geübt, immer zur selben Zeit und wenn ich nur 10 Minuten verpasst habe, habe ich mich elend gefühlt. (lacht) Irgendwann dachte ich, das ist es nicht wert, so zu leiden.
GUITARS & GEAR
Du hast eine neue Signature-Gitarre, die Collings 470 JL. Ist das ein ganz neues Design oder eine Variante eines bestehenden Modells?
Das ist ein neues Design für die Firma. Das Modell ist um die Tonabnehmer herum designt. Wir haben hier die tollen Duosonic-Pickups von Ron Ellis verwendet. Die findest du in keiner neuen Gitarre. Früher waren sie in Gretsch- und Guild-Gitarren eingebaut.
Bringt sie dich näher an den Sound, der dir vorschwebt? Vorher hast du ja Gretsch und Telecaster gespielt?
Der Tele-Ton, den ich will, funktioniert mit einem Champ, das passt zusammen. Aber wenn ich einen anderen Amp benutze, verliere ich etwas von dem Dreck, den ich möchte. Die Collings-Pickups sind laute Tonabnehmer und schieben jeden Amp an. Dadurch klingt es dann fast wie eine Tele mit Clean Boost.
Hast du verschiedene Gitarren für die Aufnahme verwendet?
Ich benutze zwei Gitarren, die Collings und eine 1955er Les Paul für ein paar Songs.
Und welche Amps?
Ich benutze einen Verstärker der Firma Magic Amps von Mike Moody, einen Vibro Deluxe und einen 1959er Fender Tweed Champ.
Kommen da noch Pedale dazu?
Ein Strymon Flint für Hall und Tremolo und ein Pedal namens Shin-ei B1G, ein Clean-Boost in der Art eines API-Preamps. Er ist sehr clean, fügt keine Verzerrung hinzu, sondern eher glitzernde Höhen. Der ist eigentlich immer an. Die Gitarre geht durch den Hall und den Clean-Boost in die Amps und das war es.
Vielen Dank für das nette Gespräch!
NOTENBEISPIELE
In Beispiel 1 siehst du die Hauptfigur von ‚Boo’s Blues‘, die im Song variiert wird. Beispiel 2 und 3 stammen aus dem Stück ‚Saint Rose‘ und zeigen, wie man mit Double Stops und Dreiklängen jazzig klingen kann. Beispiel 4 zeigt drei Arten, einen einzigen Ton interessant klanglich zu färben – durch Oktavierung oder Dopplung, mit Hammer On oder Bending, was ihn wie einen spannenden Akkord klingen lässt.
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(erschienen in Gitarre & Bass 01/2022)