Crime Jazz oder Surf Noir nennt der New Yorker Gitarrist Stephen Ulrich seine Musik, die in einer amerikanischen Parallelwelt stattfindet. Bevölkert wird sie von desillusionierten Privatdetektiven, die mithilfe alter Ford-Autos geheimnisvolle Schönheiten suchen. Auf langen Autofahrten durch Geisterstädte und weite Landschaften liefern Bruchstücke aus Jazz, Surf, Country, Rockabilly und Filmthemen den musikalischen Soundtrack zur Szenerie. Hinter diesem Setting, das an einen finsteren Jim-Thompson-Roman erinnert, steckt ein freundlicher, hart arbeitender Musiker, den wir in dieser Folge genauer vorstellen.
LEBEN
Stephen Ulrich wurde in Newhaven, Connecticut, geboren und begann erst als Teenager Gitarre zu spielen: „Mit 13 oder 14 lernte ich mein erstes Riff − irgendetwas von Jeff Beck − und spielte Surf & Rock‘n‘Roll in einer Garagen-Band. Später fuhr ich nach New York und nahm Gitarrenstunden beim Jazz-Gitarristen Sal Salvador.
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Er war ein Bebop-Gitarrist, mit einem Büro im Ed Sullivan Theater und hat auch eine Menge Bücher geschrieben. Ich mochte den Unterricht, aber es fühlte sich immer wie die Musik von jemand anderem an. Also habe ich mich in die New Yorker Underground-Szene begeben und Punk und experimentellen Rock gehört. Heute bewege ich mich zwischen diesen beiden Polen. Ich bin irgendwie zum Jazz zurückgekehrt, aber versuche kein Straight-Ahead-Jazz-Gitarrist zu sein. Ich fühlte mich immer mehr zu etwas wie den Lounge Lizards hingezogen. Eine der besten Dinge am Punk Rock war, dass er mir die Ohren für viele Sachen geöffnet hat. Ich hörte Rockabilly, Surf, Tango, Latin Music und merkte: Es gibt keine Regeln.“
Mit 20 spielte Ulrich in der Band Skunkadelic, die eine Mischung aus Ska und Pop mit Einflüssen von The Slits und Talking Heads spielten: „Wir zogen nach Paris und veröffentlichten ein Album bei Virgin Records.“ Leider blieb der große Erfolg aus. Die Band kehrte nach New York zurück und löste sich auf. Ulrich musste sich durchbeißen und gründete eine Band namens Lazy Boy: „Wir spielten eine Mischung aus Country, Jazz und Tom Waits. Unsere erste Platte wurde für eine Fernsehsendung verwendet. Der Name der Band ging auf einen berühmten amerikanischen Sessel namens Lazy Boy zurück. Das war als Witz gedacht, aber dann hat uns die Firma verklagt und wir mussten den Namen ändern…“
BIG LAZY
So entstand Big Lazy, ein Trio, das bis heute Ulrichs Hauptbetätigungsfeld ist. Die erste Inkarnation der Band bestand von 1996 bis 2005. Seit 2007 spielen Drummer Yuval Lion und Bassist Andrew Hall an der Seite des Gitarristen und Bandleaders: „Ich schreibe die Songs, mache Demos und dann kommt die Band dazu und macht alles besser“ beschreibt Ulrich den Arbeitsprozess. Trotz klassischer Sounds und Reminiszenzen an unzählige amerikanische Musikstile, sieht er die Band nicht als Retro-Kapelle: „Natürlich nutzen wir Archetypen aus der Vergangenheit und die Leute, die uns live sehen fühlen sich in einen alten Film versetzt. Aber ich mache das nicht aus sentimentalen Gründen, sondern nutze es als Vehikel, um etwas Modernes zu machen.“
Die Band ist live sehr aktiv: „Wir spielen ständig in New York und haben vier Clubs, in denen wir regelmäßig auftreten. Unser Hauptquartier ist der Club Barbes, in dem wir seit 10 Jahren fast jede Woche spielen. Wir haben aber auch im ganzen Land getourt, allein in kleinen Bars und als Support von Reverend Horton Heat. In letzter Zeit spielen wir auch größere Jazzfestivals. Das möchte ich noch mehr machen, raus aus den Clubs und auf größere Bühnen“. Bei Gigs spielt Big Lazy als Trio. Im Studio oder zu speziellen Auftritten gesellen sich aber auch Gäste: „Ich arrangiere für Bläser und Streicher.“ Auf dem Album ‚Dear Trouble‘ war Tom-Waits-Gitarrist Marc Ribot als Gast dabei: „Er kam rein, hatte noch seinen Mantel an, schaute auf das Lead Sheet und hat sofort angefangen zu spielen ohne den Song zu kennen. Wir haben direkt aufgenommen und jeder Take den er gemacht hat, war ein perfekter musikalischer Gedanke. Er spielt ziemlich abgefuckt und durcheinander, aber er ist so musikalisch.“
FILM
Neben der Band arbeitet Ulrich als Komponist für Film und Radio. Die erste Lazy-Boy-LP war dabei der Türöffner: „Ein Regisseur war bei einem Gig und hat mir Arbeit angeboten. Wir bekamen das Etikett „Crime Jazz“ und Angebote für Filme und Dokumentationen. Ich habe die Musik für die HBO-Serie ‚Bored To Death‘ geschrieben. Filmarbeit ist sehr eng getaktet. Aber ich mag es. Es ist, als ob eine Knarre auf deinen Kopf gerichtet ist. Du musst etwas abliefern, alles andere tritt zur Seite und du bist total konzentriert.“
Ulrichs neues Solo-Album entstand aus der Arbeit für die Radioshow ‚American Life‘: „Ich schreibe sehr cinematisch, und sie haben mich bezahlt, 10 Stücke zu schreiben, die sie dann eingebaut haben. Für die Versionen der Radiosendung habe ich alle Instrumente allein aufgenommen, aber für das Album haben wir einen echten Drummer und Keyboarder benutzt.“
‚Music From This American Life‘ klingt etwas ruhiger als Big Lazy: „Big Lazy ist mehr wie eine Rock‘n‘Roll-Band, aber diese Platte klingt eher nach Filmmusik, etwas entspannter, aber mein Gitarren-Ton ist immer noch das Hauptelement.“
Damit es nicht langweilig wird, kollaboriert Ulrich auch noch mit anderen Gitarristen wie Itamar Ziegler auf dem Duo-Album ‚Ulrich Ziegler‘ und unterrichtet 10 Schüler. Sein Haupteinkommen kommt jedoch von Liveshows und den Tantiemen für seine Kompositionen. Sideman-Gigs macht er nur selten: „Ich habe immer meine eigene Musik gemacht, und es hat lange gedauert, bis sie nach mir klang. Ich habe mich meiner eigenen Musik verschrieben. Das war der Plan und es hat einigermaßen funktioniert“, erzählt Stephen lachend.
Equipment und Transkription auf Seite 2 …
EQUIPMENT
Ulrichs Equipment ist übersichtlich. Seine Hauptgitarre ist eine 1955 Gretsch Duo Jet, mit einem festgestellten Bigsby, die er von einem Kubaner, der auf dem East River in einem Hausboot wohnte, geschenkt bekam: „Man kann heute noch den Rost an einigen Stellen sehen“. Hinzu kommen eine 1960er Silvertone U2, eine Fifties-Airline-Lapsteel, eine 1965er Telecaster und eine 1963er Harmony Rocket. Für tiefere Töne nutzt Ulrich eine Danelectro Baritone oder eine Eastwood Sidejack.
Live setzt er auch zwei Customgitarren von Mehmet Dogu ein. Teilweise kommt eine spezielle Stimmung zum Einsatz: DADFAD, ein offenes D-Moll-Tuning, das typisch für viele Big-Lazy-Songs ist. Gespielt werden diese Gitarren über Carr-Amps. Im Studio kommen auch Vintage-Modelle wie ein 1963 Gibson Falcon oder ein 1940er Silvertone Model 1430 sowie ein 1964 Blackface Super Reverb zum Einsatz.
Effekte setzt Ulrich nur selten ein. Die Verzerrung im Studio kommt meist vom Amp, der klassisch mit Mikro aufgenommen wird. Live sorgt ein Klon Centaur für leichten Crunch. „Damals fand ich den Preis von 250 Dollar überteuert (lacht), aber es klingt sehr transparent. Wie ich nach ein paar Drinks … “ Tremolo und Hall kommt vom Amp, ein Ernie-Ball-Volume-Pedal wird für Swells eingesetzt, und ein Boss- oder MXR-Carbon-Copy-Delay sorgen für Slapback-Echo.
PLAY IT!
Um einen Einblick in Stephens Stil zu geben, habe ich ein paar Songs seiner letzten beiden Alben transkribiert.
Beispiel 1 ist das Solo aus dem Song ‚Handheld‘. Über die I-IV-V-Akkordfolge in F-Moll nutzt Ulrich oft spannungsreiche Töne wie die maj7 und große Sexte über den F-Moll-Akkord und spielt gerne mit Leersaiten, was einen speziellen Sound ergibt.
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Beispiel 2 ist eher kompositorisch interessant. In den ersten acht Takten orientiert sich die Melodie auf jazzige Art an den Akkorden und landet immer auf einem Akkordton, den Ulrich mal chromatisch, mal mit der Tonleiter umspielt.
Im zweiten Teil des Songs erfolgt ein Tonartwechsel nach C#m/E-Dur, der melodisch so geschickt gemacht ist, dass es beim ersten Hören gar nicht auffällt. Die Melodie baut auf eher langen Tönen auf, hinzu kommen einige Hendrix-artige Fills. Clever ist auch die Rückführung zu F-Moll, bei der derselbe Lauf verwendet wird, der vorher zu C#-Moll führt (Takt 24 und 32), nur eben in der neuen Tonart.
Beispiel 3 und 4 erforschen eher die tiefen Register der Gitarre.
Beispiel 4 ist auf einer auf B gestimmten Baritone-Gitarre gespielt, klingt also in B-Moll, funktioniert aber auch in E-Moll. Auch hier verzahnen sich Bass, Gitarre und Drums gut ineinander, und durch die Snare auf der Zählzeit 4 entsteht eine ungewöhnliche Betonung. Reinhören lohnt sich also, denn die Musik des New Yorker Gitarristen bietet viele ungewöhnliche Grooves und Stimmungen, abseits des gitarristischen Mainstreams. Ich wünsche viel Spaß beim Nachspielen und Entdecken!
Einer meiner momentanen Lieblings-Gitarristen – bin positiv erstaunt, HIER über ihn zu lesen, nachdem er in Europa ziemlich unbekannt ist…