Das Kollektiv aus Tucson, Arizona, reflektiert das wahre Amerika: Eine multikulturelle, ethnisch weitgefächerte Gesellschaft, die eben nicht nur weiß, hinterwäldlerisch und von Stadion-Rock besessen ist, sondern unterschiedliche Musikstile und Sprachen in sich vereint. Das bringen Calexico auf ihrem zehnten Studioalbum ‚El Mirador‘ mustergültig auf den Punkt – und finden damit vor allem in Europa Gehör. Grund genug für ein Gespräch mit Gitarrist & Sänger Joey Burns.
Boise, im US-Bundesstaat Iowa, ist ein erzkonservatives Provinzkaff mit einem korrespondierenden kulturellen Leben. Trotzdem bildet es die Wahlheimat des Calexico-Masterminds – weil es ein sicherer Wohnort für zwei Töchter im Grundschulalter ist und die Mieten günstig sind. Das sorgt dann wiederum dafür, dass Joey Burns jetzt sein eigenes Musikzimmer hat – ein gigantischer Raum über der heimischen Garage, der seine Platten, seine Gitarren und Teile seines Equipments birgt.
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Sprich: Alles, was nicht im Band-Proberaum in Arizona, steht. Hier empfängt der 56-Jährige, um ganz entspannt über seine Instrumente und sein schon zehntes Studio-Album zu plaudern: ‚El Mirador‘, Spanisch für „der Aussichtspunkt“. Ein Ort in luftigen Höhen, von dem man alles überblicken kann. Genau darum geht es in den zwölf Songs des Multikulti-Kollektivs: Sie analysieren die moderne Welt mit all ihren sozio-politischen Problemen und kommen zu der Schlussfolgerung, dass mehr Empathie, Liebe und Offenheit eine Menge verändern könnten.
Das korrespondiert wiederum mit der Musik, einem Hybrid aus westlichen und lateinamerikanischen Klängen: Cumbia, Mariachi oder Merengue treffen auf Punk-Rock, Country und fette Beastie-Boys-Grooves. Ein Mix, der für Freiheit, Vielfalt und Lebensfreude steht, der zum Tagträumen, Tanzen und Reisen verleitet. Dafür hat sich Joey sogar einen neuen Bass zugelegt, wie er stolz verkündet: „Einen 67er-Höfner-Club-Bass – er nennt sich ‚President‘. Ein großartiges Teil. Ähnlich wie das, was Paul McCartney bei den Beatles gespielt hat.“
Wie denn, hast du ebenfalls kleine Hände?
Oh, hat er die? Nein, mir ging es um den Ton – um die Pickups und die Flatwound-Saiten. Ich mag den Klang der Höfner-Bässe. Und auf ‚El Mirador‘ greife ich zudem auf den Univox-Bass unseres Keyboarders und Akkordeon-Spielers Sergio zurück. Er hat einen Gibson-Look, aber mit Flatwounds, und klingt wahnsinnig gut. Er fühlt sich an wie ein wunderbarer Mix aus einem Kontrabass und einem E-Bass. Er hat etwas Warmes, und wenn man ihn mit einem Pick spielt, sorgt er für diesen hölzernen Ton. Ryan Alfred, mein Freund in New York, hat ebenfalls so einen. Er hat mir eine Liste von Modellen geschickt, die zum Verkauf standen – darunter habe ich diesen gefunden, der sich in Amsterdam befand.
Zum besseren Verständnis: Bist du eigentlich der Bassist oder der Gitarrist von Calexico – wie lautet deine offizielle Berufsbezeichnung innerhalb der Band?
Bei Calexico bin ich in erster Linie Rhythmus- und gelegentlich Lead-Gitarrist. Dazu verwende ich zum Beispiel eine Airline aus den frühen 60ern. Und manchmal beschreibe ich mich selbst als einen „Bass-y Guitar Player“. Das rührt daher, dass mein älterer Bruder John einst zu mir meinte: „Es gibt schon so viele Gitarristen – warum greifst du nicht zum Bass?“ Das habe ich getan und mir seinen ausgeliehen, einen Rickenbacker aus den 70ern. Ich habe in der Highschool-Jazzband angefangen und dann in einer Formation gespielt, die Led Zeppelin, Beatles und Pat Benatar gecovert hat. Anschließend habe ich klassischen Bass an der Uni gespielt, wo ich vor allem Kontrabass studiert und auch einen offiziellen Abschluss gemacht habe. Aber ich habe immer Gitarren geliebt, besonders Nylon-Akustik-Gitarren. Außerdem stehe ich auf alte elektrische Teile.
Warum konzentrierst du dich nicht nur darauf, sondern übernimmst auch noch Akkordeon, Marimba, Keyboards und Cello?
Ich schätze, ich habe ein neugieriges, musikalisches Ohr und ich liebe es, möglichst viele unterschiedliche Instrumente zu spielen. Ich bin in einem sehr musikalischen Haushalt aufgewachsen, habe schon früh Klavier gelernt und hatte auch klassischen Unterricht. Diese Liebe zur Musik kommt wohl von meinem Großvater, der mir Akkordeon beigebracht hat und mir kurz vor seinem Tod sein Instrument geschenkt hat. Ich habe es auf so ziemlich jedem Calexico-Album verwendet. Es hat coole, unterschiedliche Sounds, die ich gerne in der Band eingebaut habe.
Während du mit Classic Rock, Beat und Punk aufgewachsen bist?
Stimmt! (lacht) So fing alles an. Ich habe alle mögliche Musik gehört, all das Zeug, das auch meine Freunde mochten, wie The Clash, die Sex Pistols und die Minutemen. Aber auch das, was bei mir zuhause lief, wie Brian Eno, Peter Gabriel, The Police, R.E.M oder The Smiths. Ich habe Johnny Marrs Gitarre geliebt und war schon immer ziemlich breit aufgestellt. Ich habe mich nie auf eine Sache versteift, sondern war sehr vielseitig.
Basiert euer Songwriting in der Band auf kollektiven Jams oder schreibt jeder für sich, ehe ihr euch trefft?
Meistens ist es so, dass ich ein paar Ideen habe, die ich dann zu unseren Treffen mitbringe. Aber für das neue Album war es nur eine einzige – und zwar für den Song ‚Cumbia Peninsula‘. Ich hatte da die Musik, aber keine Texte. Ich hatte eine Melodie, und das war auch alles, was ich gebraucht habe. Aber wenn es darum geht, mit fertigen Songs ins Studio zu gehen, so habe ich zwar oft behauptet, dass ich das hinkriege, aber in der Realität ist es nicht wirklich der Fall. (lacht)
Also sage ich mir selbst: Hey, warum etwas reparieren, das gar nicht kaputt ist? Wenn das die Art ist, wie das bei uns funktioniert, dann bleib halt dabei: Finde ein günstiges Studio, arbeite Zeit- und Budget-bewusst und kreiere Musik mit deinen Freunden. Das ist es, was ich gerne tue und was uns als Band ausmacht. Ich warte da nicht mit Demos und ausformulierten Ideen auf, wie alles sein sollte. Ich nutze die Gelegenheit vielmehr, um so kreativ wie möglich zu sein, und zu schauen, was überhaupt möglich ist bzw. mit welchen Sounds wir arbeiten können.
Nach 26 Jahren Calexico: Wie umfangreich ist deine Bass- & Gitarren-Sammlung? Wieviel davon ist eingelagert?
Das meiste von unserem Equipment ist immer noch in Tucson, weil das unser musikalisches Zuhause ist. Das ist der Ort, an dem die Band angefangen hat, wo wir unsere Ideen entwickeln, der unsere Identität ausmacht. Um zu proben und aufzunehmen, treffen wir uns dort. Von daher habe ich da etliche Gitarren, und viele werden kaum benutzt, weil ich auf Tour so wenig wie möglich mitzunehmen versuche, um es kostengünstig zu halten. Ich kann da nicht Hunderte von Gitarren mitnehmen. Das ist finanziell unmöglich. Deswegen komme ich mit ein paar Modellen aus: Ein paar Fender-Gitarren aus den 60ern, eine Gibson und eine Airline – da habe ich eine, die in Europa eingelagert ist, und eine, die bei mir zuhause an der Wand hängt. Was akustische Gitarren betrifft, reise ich nur mit meinem Nylon-Modell. Es ist sehr extrem reduziert, auch was Pedals betrifft. Ich versuche, es bei dem zu belassen, was ich habe – wahrscheinlich auch ein bisschen aus Bequemlichkeit.
Bild: Joey Burns
Joeys Airline-Gitarre mit Bigsby
Bild: Joey Burns
Danelectro 57 Limo Black
Bild: Joey Burns
Reverend Flatroc
Bild: Joey Burns
Nylonstring von Manuel Rodriguez
Also bist du kein Sammler?
Nicht wirklich. Ich habe nur am Anfang meiner Karriere ein bisschen gesammelt. Weil ich viel unterwegs war und zum ersten Mal genug Geld hatte, um hier und da ein paar billige Gitarren mitzunehmen. Nur: Ich habe mich nie an teure Modelle herangetraut. Bis heute nicht. Das letzte Instrument, das ich erstanden habe, war der Höfner-Bass von 1967, weil ich in der Pandemie keinen Bass hatte. Ich saß hier in Boise fest und habe ihn schrecklich vermisst. Von daher brauchte ich dringend einen Bass und dachte mir: „Ich wollte immer so ein Teil, also besorge ich es mir jetzt.“
Nimmst du ihn auch mit auf Tournee?
Wahrscheinlich nicht. Dafür ist er einfach zu wertvoll. Wahrscheinlich würde es von dem Gig abhängen, für den ich oder wir gebucht sind. Also, ob ich da mit einem Kontrabass oder einem elektrischen Bass aufwarten muss. Ich finde, Kontrabass zu spielen, ist wirklich das Beste. Wenn es jedoch ein Gig ist, bei dem der Höfner besser passt und ich ein vernünftiges, sicheres Roadcase dafür finde, könnte ich mir auch vorstellen, auf ihn zurückzugreifen.
Ansonsten verfährst du nach der Maxime: weniger ist mehr? Oder leichter reisen bedeutet günstiger reisen?
Ja, ich habe zum Beispiel nie einen Verstärker in Europa dabei. Ich habe dann einen vor Ort, den ich verwende. In den Staaten sind es ein paar mehr, aber es ist wichtig, so leicht wie möglich unterwegs zu sein. Von daher haben wir einen Teil unseres Gears in Europa eingelagert und greifen darauf zurück, wenn wir es brauchen.
Die Airline-Modelle sind erst durch Jack White richtig teuer geworden. Vorher wurden sie als Billiggitarren erachtet.
Jack hat wirklich dafür gesorgt, dass sie sehr begehrt sind. Wobei es noch eine Firma namens Eastwood gibt, die Replikas aus einem anderen Material anfertigt, nämlich aus Holz – während die Originale aus Fiberglas sind, also aus zwei übereinandergelegten Plastik-Schalen. Auch die Pickups sind einmalig – gerade bei den alten Teilen. Das ist ihre Schönheit: Die Elektronik.
Verstimmen sich deine auch ständig?
Damit habe ich kein Problem, weil ich die Original-Bridge aus Holz durch eine Gibson Chromatic ersetzt habe. Das sorgt dafür, dass sie sich kaum noch verstimmen – obwohl meine beiden Airline-Gitarren auch einen Bigsby-Whammy-Bar haben, was normalerweise für schnelles Verstimmen sorgt. Aber mit dem Chromatic ist das OK. Außerdem lasse ich sie nach jeder längeren Tour gründlich warten, um ihre Lebenszeit zu erhöhen.
Hat sich dein Spiel über all die Jahre in irgendeiner Form verändert?
Ein kleines bisschen bestimmt. Einerseits habe ich das Gefühl, dass ich nicht mehr ganz so viel Gitarre spiele, wie es früher der Fall war. Andererseits konzentriere ich mich mehr auf bestimmte Sachen, die ich an anderen Musikern mag. Wie zum Beispiel, mehr Dreiklänge zu verwenden oder kleinere Umkehrungen von Akkorden statt der vollen Barrégriffe. Vor allem im Latin-Stil und beeinflusst von Freunden oder anderen Latin-Spielern. Ich war auch immer mehr ein rhythmischer Strummer. Soll heißen: Ich kann zwar Leads übernehmen, und manchmal mache ich das auch, doch es kommt halt nicht wirklich oft vor. Für gewöhnlich versteife ich mich aufs Strumming.
Auf dem Album findet sich zumindest ein Gitarrensolo – in ‚Rancho Azul‘. Stammt das von dir?
(lacht) Ja, das bin ich auf einer alten Telecaster.
Warum machst du das nicht öfter? Warum hältst du dich so zurück?
Na ja, ich würde das schon öfter hinkriegen, aber die Wahrheit ist: Ich höre viel zu gerne anderen Gitarristen zu. Und: Ich hake mich lieber bei fremden Ideen ein und führe sie fort. Natürlich kriege ich auch Soli hin, aber gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass mein Ansatz und mein Stil etwas eingeschränkt sind. Ich bin z.B. nicht so gut im Shredden. Von daher genieße ich es als Singer/Songwriter wie Produzent, andere in den Mix einzubringen.
Dafür deckst du eine große stilistische Bandbreite ab – von Tex Mex, Twang, New Wave, Mariachi über Punk, cineastisches Soundscaping bis hin zu folkigem Akustik-Kram. Wie kommt das?
Das ist einfach der Sack an Tricks, den ich schon immer mit mir herumtrage: Eine kleine Sammlung von Sachen, die alle für sich stehen können – die ihre eigene Stimme und Farbe haben. Diese Vielfalt ist so etwas wie mein Ding – anstatt ein E-Gitarrist zu sein, der nur eine Art von Musik spielt. Das spiegelt wider, wer ich bin und was mich interessiert.
(Bild: Joey Burns)
Joeys Pedalboard: Boss DD-5, Boss DM-2w, Diaz Tremodillo, J.Rockett Archer Ikon, Way Huge Pork Loin, Smallsound/Bigsound Buzzz, Red Panda Particle
(Bild: Joey Burns)
Wie bist du zu all diesen Einflüssen aus Latein- und Südamerika gekommen?
Einfach, indem ich mit anderen Leuten agiere – oder zu irgendeiner Musik mitspiele. Dabei habe ich eigentlich immer das Gefühl, zumindest ein bisschen etwas Neues zu lernen. Aber es ist nicht so, als ob ich mich fünf Tage die Woche hinsetzen und stundenlang studieren und üben würde. Das mache ich nicht mehr. Ich verfolge lieber diese ganzen Gitarristen, die auf Instagram kurze Unterrichtseinheiten anbieten, in denen sie zum Beispiel Country-Riffs vermitteln. Wie dieser japanische Typ, den ich gerade entdeckt habe und den ich sehr mag. Außerdem ist da dieser Engländer, der Licks in der Manier von Django Reinhardt, aber auch Jimmy-Page-Riffs vorexerziert. Eine großartige Mischung. Also: Das ist alles, was ich brauche! Und ich mag es, mich hinzusetzen und etwas zu lernen. Diese Disziplin, das bewusst zu tun und mich auf Neues einzulassen, ist die Herausforderung für mich.
Worin besteht für dich der Unterschied zwischen westlichen Instrumenten und solchen aus dem latein-/südamerikanischen Kulturkreis? Kannst du das in Worte fassen?
Ich schätze schon. Ich habe zum Beispiel Freunde in Deutschland, deshalb weiß ich, dass eine Akustik-Gitarre mit Stahlsaiten dort als Western-Gitarre bezeichnet wird. Ein Begriff, den wir hier in den Staaten nicht kennen – hier heißt sie einfach „Steel String“. Von daher gibt es Akustik-Gitarren, die mit Stahlsaiten gespielt werden. Andere, wie die kubanische Tres haben sechs Saiten, die in drei Zweiergruppen angeordnet sind. Das geht mit einer anderen Form, einem anderen Sound und einer anderen Korpus-Größe einher. Und dann gibt es Nylonsaiten-Instrumente wie die klassische spanische Gitarre – und eine Vielzahl von Gitarren in Latein- und Südamerika, die Abwandlungen davon sind, aber auch Elemente von Harfen aufgreifen.
Was zeigt, dass alles irgendwie miteinander verwandt ist. Und das liebe ich: Die Vorstellung, dass alles anders und doch ähnlich ist, und dass die Idee eines bestimmten Instruments wie der Gitarre so universell ist, dass sie überall auf diesem Planeten auftaucht – aber immer wieder anders. Darüber gibt es auch eine tolle Dokumentation namens ‚Safe Journey‘ (1993) von Tony Gatlif über die Musik der Sinti und Roma, in der alle möglichen Instrumente auftauchen. Da erkennt man Parallelen zur Musik und Instrumentierung von vielen unterschiedlichen Kulturkreisen. Und das verdeutlicht zu bekommen, hat mich wirklich fasziniert.
Wie intensiv musstet ihr – nach der langen Pause – für eure laufende Tour proben? Wie lange hat es gedauert, um wiede in Form zu kommen?
Wir haben vier Tage im Februar geprobt – weil das die einzige Zeit war, in der jeder verfügbar war. Also in der wir alle zusammen in einem Raum sein konnten. Anschließend haben wir noch einmal zwei Tage in Berlin angesetzt, unmittelbar vor dem Tourstart. Vorher konnten wir uns nur telefonisch oder per Video-Konferenzen über Ideen und Parts unterhalten, die noch zur Diskussion standen. Nur: Wir sind ja Profis, wir sind da gut vorbereitet aufgeschlagen. Aber gerade ich musste tatsächlich erst wieder in Form kommen – rein körperlich, emotional, musikalisch. Ich war total von der Rolle.
Waren die ersten Gigs dann ziemlich abenteuerlich?
Die erste Show war in Linz, Österreich. Und lustigerweise können solche Premieren auch ziemlich großartig sein. Nach dem Motto: „Oh mein Gott, wir haben es hinbekommen.“ Unsere Crew meinte dagegen: „Klang wirklich gut.“ Doch ein paar Tage später, als alles mehr eingespielt war, hieß es: „Heute Abend war es wirklich toll“. Und das passiert immer wieder. (lacht) Wobei wir die Setliste ständig verändern, ohne gleich alle verrückt zu machen. Wir haben definitiv eine Menge Spaß, und die neuen Songs eignen sich hervorragend für die Bühne. Was will man mehr?