Meilenstein 1973: The Rolling Stones & Goats Head Soup
von Matthias Mineur, Artikel aus dem Archiv
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Als im August 1973 das elfte Studioalbum der Rolling Stones veröffentlicht wurde, zeigten sich Presse und Fans enttäuscht. Viele hatten auf ein genauso spontanes Rhythm’n’Blues-Werk wie ,Exile On Main St‘ oder ein ähnlich erdiges Opus wie ,Sticky Fingers‘ gehofft. Dass ,Goats Head Soup‘ diesen Vorstellungen nicht entsprach – nicht entsprechen konnte – lag auf der Hand:
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Die Band befand sich in einer menschlich zerrissenen Situation. Mick Jagger nutzte die Erfolge der zurückliegenden Jahre, um das glamouröse Jetset-Leben zu genießen, Keith Richards manövrierte sich mit atemberaubendem Tempo in eine Heroinsucht, und Mick Taylor war zunehmend unzufrieden mit seiner Position innerhalb der Gruppe. Obwohl sicherlich der beste Musiker der Stones, durfte Taylor am Songwriting, das fest in Händen von Jagger/Richards lag, kaum bis gar nicht teilhaben. Anfang der 70er stimmte bei den Superstars also vieles nicht, dennoch ist ,Goats Head Soup‘ aus heutiger Sicht ein wunderbares Werk, dem man einfach nur unvoreingenommen begegnen muss.
Der Opener ,Dancing With Mr. D.‘ erweist sich als stoischer Rock-Track, eine weitere (textliche) Begegnung Jaggers mit dem Teufel, die zu Unrecht mit ,Sympathy For The Devil‘ verglichen wurde – und in diesem Zusammenhang nur verlieren konnte. Denn während Jagger 1969 eine geniale Parabel auf Krieg, Attentate und Kreuzigung verfasste, artikuliert er sich hier zwar konkreter aber weniger scharfzüngig. Das laszive Gitarren-Riff Richards hält den Groove in Gang, die Stones garnieren die Nummer mit einigen hysterisch kreischenden Frauenstimmen und wunderbaren Slide-Gitarren-Overdubs, die von Taylors Gibson Les
Paul Sunburst (über einen Hiwatt-Amp) stammen und in Sound und Attitüde von Paul Kossoff von Free inspiriert wurden (siehe ,Wishing Well‘ oder ,Alright Now‘).
Das folgende ,100 Years Ago‘ mogelt sich fast eine Spur zu brav ins Geschehen, startet mit einem Clavinet von Pianist/Organist Billy Preston und breitet sein schwarzes Feeling mit zunehmender Spieldauer immer stärker aus. Am Ende der Nummer, in der Jagger über die Vergänglichkeit des Lebens philosophiert, lassen die Stones ihren Lead-Gitarristen Taylor endlich (endlich!) so richtig von der Leine und stellen sein durch WahWah-Pedal und wunderbar psychedelische Aura orgiastisches Spiel auch mit entsprechender Lautstärke in den Mittelpunkt. Das anschließende ,Coming Down Again‘ ist die (fast schon) obligatorische Richards-Gesangsnummer, ein Bekenntnis zu Romantik und speziellen sexuellen Vorlieben („Slipped my tongue in someone else’s pie, tasting better every time”), allerdings bei weitem nicht so Adrenalin-befeuert wie der Richards-Gesang auf ,Happy‘ (von ,Exile On Main St‘).
The Rolling Stones ‘Doo Doo Doo Doo Doo (Heartbreaker)’ Live:
Den folgenden Track ,Doo Doo Doo Doo Doo (Heartbreaker)‘ koppelte die Plattenfirma in Amerika als Single aus und landete damit einen Treffer. Jagger erzählt von Gewalt- und Drogenszenen auf den Straßen New Yorks – ein Thema, das der Stones-Frontmann in seiner langen Karriere immer wieder aufgreift. Diese Nummer besitzt ein feuriges Gitarrenduell zwischen Richards und Taylor, der mit wunderbarem Klang (möglicherweise von seiner braunen Gibson SG stammend) erneut auf Kossoffs Spuren wandelt.
Der Megahit des Albums ist natürlich ,Angie‘, die erfolgreichste und bedeutendste Ballade, die von den Rolling Stones jemals aufgenommen wurde. Während einige Jahre zuvor das hymnische ,You Can’t Always Get What You Want‘ in einem orchestralen Nirvana endet, halten die Stones ,Angie‘ bewusst klein, intim und unglaublich persönlich. Die sanfte Geige in der zweiten Hälfte des Songs krönt das clevere Zusammenspiel aus akustischer Gitarre, Klavier und dezenter, punktgenauer Bassbegleitung. Das Gerücht, dieser Song arbeite Jaggers unglückliche Liebesbeziehung zu David-Bowie-Ehefrau Angela auf, ist unbestätigt.
Mit ,Silver Train‘ nehmen Jagger & Co. anschließend wieder Fahrt auf. Und wie! Stones-Pianist Ian Stewart hackt ein munteres Boogie- Woogie-Thema in die Tasten, Charlie Watts und Bill Wyman steigern kontinuierlich die Dynamik, während Taylor mit Slide-Bottleneck-Gitarre und Richards (er spielte seinerzeit schwerpunktmäßig Gibson ES-335, eine weiße SG, eine blonde Fender Telecaster, später auch eine Gibson Firebird) aus vollen Rohren feuern. Wenn die Nummer nach knapp viereinhalb Minuten in den Bahnhof einrollt, sind alle Passagiere atemlos.
,Hide Your Love‘ entspringt einer spontanen Klavier-Jam-Session Jaggers in den ,Olympic Studios‘, eine von Gospel und Soul beeinflusste Hookline, der Taylor mit wunderbar bluesigen Tönen die Krönung beschert. Das Gospel-Feeling spiegelt sich auch in Jaggers Text wieder, der sich wie ein Prediger („Oh, babe, I’m reachin’, reachin’ high, oh, yeah, I‘ m fallin’ out of the sky“) geriert und hier die Kunst des Improvisierens pflegt.
,Winter‘ gehört sicherlich zu jenen Perlen, die es zwar nie an die vorderste Front der Stones-Klassiker schafften, aber dennoch die besonderen Qualitäten dieser Gruppe dokumentieren. Dieser Song klingt flüssiger, weniger zickig als die anderen Nummern der Scheibe, ein Umstand, der möglicherweise auf das vollständige Fehlen von Keith Richards zurückzuführen ist. Jagger artikuliert auf wunderbar lyrische Weise das Gefühl von Einsamkeit und Verlassenheit, dazu spielt Mick Taylor eine zwar unauffällige aber ungemein geschmackvolle Gitarre, die in zwei kurze tolle Soli mündet.
,Can You Hear The Music‘ durchzieht ein ähnlich psychedelisches Flair wie das Album ,Their Satanic Majesty Request‘, ohne jedoch die Magie von beispielsweise ,2000 Light Years From Home‘ oder ,She’s A Rainbow‘ zu erreichen. Himmlisch aber die WahWah-Gitarre, die allerdings schnell in den Hintergrund eines Songs rückt, der hypnotisch-stoisch seinen Weg beibehält.
The Rolling Stones ‘Star Star’ live:
Die finale Rock’n‘Roll-Nummer ,Star Star‘ sollte – seinem Thema entsprechend – eigentlich ,Starfucker‘ heißen, wurde auf Veto der Plattenfirma jedoch entschärft. Natürlich empörte der Text über Groupies amerikanische Frauenrechtlerinnen, doch letztendlich plauderte Jagger nur aus dem Nähkästchen. Auf der anschließenden Tour (man höre und genieße die Live-CD ,Brussels Affair‘) inszenierte Jagger diesen Song mit einem gigantisch großen aufblasbaren Phallus, der dann alle offiziellen Moralhüter der Welt auf den Plan rief. Der würdige Abschluss eines Albums, das – trotz der damaligen Kritik – in der Retrospektive zu den besten da überraschendsten und vielseitigsten Veröffentlichungen der Rolling Stones gehört.