The Beatles und Sgt. Peppers Lonely Hearts Club Band
von Johnny Silver & Michael Doering, Artikel aus dem Archiv
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Nach ihrer letzten Welttournee 1966 verkündeten die Beatles überraschend, dass sie nie wieder live auftreten würden. Sie wollten sich von nun an ausschließlich der Studioarbeit widmen und sich als Künstler weiterentwickeln – und das taten sie mit einem derart durchschlagenden Erfolg, dass sie die Welt der damaligen Popularmusik wieder einmal völlig auf den Kopf stellten.
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Obwohl die Beatles in den zurückliegenden Jahren immer kräftigere Amps von ihrem Haus- und Hoflieferanten VOX verlangten und auch bekamen, war es kaum noch möglich, sich mit dem damaligen Equipment bei Live-Auftritten gegen Zehntausende kreischender Fans zu behaupten. Eine PA im heutigen Sinne gab es noch nicht, und das Publikum hörte ebenso wie die Band auf der Bühne (bzw. eben nicht) ausschließlich das, was die Backline hervorbrachte. Heute würde selbst eine Schülerband solche Bedingungen als inakzeptabel zurückweisen (abgesehen von den kreischenden Mädchen, Geld und Ruhm …).
Hinzu kam, dass die Musik der Beatles immer komplexer wurde und es damals aus technischen Gründen nicht zu realisieren gewesen wäre, ein komplettes Orchester in die Live-Show zu integrieren. Desweiteren setzten die Beatles auf ihren Schallplatten zunehmend Studiotricks ein, die Live nicht reproduzierbar waren (rückwärtslaufende Bänder etc.). An die Stelle der stereotypen 25-minütigen Live-Shows traten nun Promotion-Filme mit einer kreativen und avantgardhaften Umsetzung der jeweiligen Songs, womit man den Vorläufer der heutigen Videoclips aus der Taufe hob.
Studiotricks
In der letzten Folge haben wir bereits einige typische Aspekte der Studioarbeit der Beatles in den Jahren 1965 und 1966 beleuchtet. Hier nun die Fortsetzung unseres kleinen Beatles-Effekt-Exkurses.
Overloading: Ein nicht unumstrittener Effekt: Das Signal einer Gitarre wird direkt (DI) ins Mischpult geführt und absichtlich übersteuert, je nach Pegel (Gain-Einstellung) und eingangsseitigen elektronischen Bauteilen entsteht eine mehr oder minder heftige Verzerrung (bei Röhren sehr gut, bei Transistoren evtl. interessant, bei ICs nur für wirklich Hartgesottene). Anspieltip: ,Revolution‘, ,Everybody’s Got Something To Hide Except Me And My Monkey‘.
Bandkompression: Bei der Aufnahme erhöht man den Pegel des Signals, welches zur Bandmaschine geführt wird, bis der Sound sich verdichtet (komprimiert) und somit satter und fetter klingt. Auf diese Weise kann man unter Umständen auf eine weitere Aufnahmekompression verzichten.
Rotating Speaker (Leslie): Ein unverzichtbarer Effekt für die Hammond-Orgel, wurde von den unerschrockenen Beatles für alle (!) Instrumente inkl. Lead-Vocals eingesetzt. Sehr weich lässt dieser Effekt cleane Gitarren klingen (,It’s Only Love‘, ,Something‘), interessant das Solo bei der ,Let It Be‘ (Single-Version). Wirklich bizarr wird es, wenn die Vocals durchs Leslie laufen, wie erstmals bei ,Tomorrow Never Knows‘ (John wollte, dass seine Stimme klingt, als rufe er vom Berg des Himalaja herunter) oder später beim Chor von ,Octopuss Garden‘. Während die rotierenden Lautsprecher bei langsamen Geschwindigkeiten Chorus-ähnliche Resultate erzeugen, sorgen sie bei höheren Rotations-Geschwindigkeiten für einen schwirrenden und dezent verstimmten Sound (2. Solo von ,Yer Blues‘). George Harrison spielt im Film ,Let It Be‘ fast ausschließlich über das Röhren-Leslie. Wahrscheinlich ist dieses der wichtigste Beatles-Effekt der Studioperiode.
Aktiv Panning: Während des Abmischens wird das PANorama-Poti betätigt und somit die Platzierung des Signals im Stereobild verändert. Signale wandern so von einer Seite zur anderen und verstärken die psychedelische Wirkung eines Songs. Außerdem hebt Aktiv Panning ein zu statisches Klangbild auf, das wandernde Signal beansprucht nämlich unwillkürlich die Aufmerksamkeit des Zuhörers (Anspieltip Vocals: ,A Day In The Life‘, Arpeggio-Gitarre in ,Sun King‘). Jimi-Hendrix-Produzent Eddie Kramer hat diesen Effekt zu einem der Markenzeichen von Jimi werden lassen, wobei sich dessen Gitarren-Sound sicherlich auch ohne dieses Stilmittel noch deutlich von allem bisher dagewesenen abgehoben hätte …
Tremolo: Dieser Effekt lässt das Signal periodisch in der Lautstärke auf- und abschwingen. Die einstellbaren Parameter sind die Geschwindigkeit, die Effekt-Intensität und die Wellenform. Diese bestimmt, ob ein weiches Schwingen oder ein abgehacktes an/aus hörbar wird. Auch diesen Effekt wendeten die Beatles in allen erdenklichen Situationen an (Anspieltipps: das Klavier im Refrain von ,Penny Lane‘, die Intro-Gitarre von ,Don’t Let Me Down‘, Gitarre bei ,Flying‘).
Fuzzbass: Paul McCartney als Wegbereiter für Billy Sheehan und Co.? Wahrscheinlich ein wenig vereinfacht, doch er war der erste, der auf einem kommerziellen Album einen verzerrten Bass aufnahm. Bei ,Think For Yourself‘ sind zwei Bässe zu hören, von denen einer durch einen Vox-Verzerrer (Tonebender) geschickt wird und als Solo-Bass fungiert.
Midboost: Ein durchstimmbarer Mittenfilter, welcher einen Frequenzbereich zwischen 500 Hertz und ca. 1,2 Kilohertz steilbandig betont. Dieser Effekt ist auch durch ein festgestelltes Wah-Wah zu erreichen, das einer Sologitarre enorme Durchsetzungsfähigkeit verleiht. Natürlich wird der Frequenzgang der Gitarre ordentlich verbogen, die Quasi-Linearität ist dahin, zugunsten eines markanten Sounds. Das wohl bekannteste Beispiel für diesen Sound ist Mark Knopflers ,Money For Nothing‘. Die VOX-Transistorserie der 60er Jahre (Conquerer 30W, Defiant 50W und Supreme 120W) erlaubten dem Spieler, zwischen sechs voreingestellten festen Filter-Varianten zu wählen. Auf den Alben ,Sgt. Pepper‘ und ,The Beatles‘ (White Album) finden sich einige dieser Filter-Sounds, die recht deutlich von den bisher hauptsächlich eingesetzten Rickenbacker-Gretsch/Röhren-VOX-Sounds abweichen. ,Fixing A Hole‘ und ,Good Morning Good Morning‘, ,Revolution 1‘ und ,Birthday‘ dienen hier als weitere Beispiele.
Noise In: Musiktheoriebüchern kann man nachlesen: Ein Ton ist eine genau definierte Frequenz, ein Geräusch besteht hingegen aus unterschiedlichen, fluktuierenden Frequenzen, die sich gegenseitig überlagern (gewissermaßen ein Chaos). Aber genau wie Töne erzeugen auch Geräusche Assoziationen und diese wiederum Gefühle beim Zuhörer. Die sogenannte Programm-Musik baut sich beispielsweise aus realen (aus der Umwelt) oder synthetischen Klängen (Synthesizer!) auf. Wie bereits erwähnt, beschäftigte McCartney sich intensiv mit derartigen Experimenten. Geräusche auf Schallplattenaufnahmen waren eher ein zu vermeidendes Übel, die Studios achteten sehr auf eine Eliminierung von Störgeräuschen, damit die Musik möglichst ohne Rauschen, Brummen und sonstige akustische Verunreinigungen auf die Tonträger gelangte.
In den 90ern machte sich ein Gegentrend bemerkbar. Künstlich simuliertes Vinyl-Geknister und technokratische Geräusche aus dem Produktionsablauf einer Konsumgüterfabrik wurden den Aufnahmen beigemischt oder gesampelt. Das Album ,Sgt. Pepper‘ brachte den Stein für derartige Effekte innerhalb der Pop-Musik ins Rollen. Zwischen den Stücken sind Geräusche zu vernehmen, welche die einzelnen Songs nahtlos ineinander übergehen lassen. Der erste Song (,Sgt. Pepper‘) beginnt mit einer Publikums-Atmosphäre und erweckt den Eindruck einer Live-Performance. Es tauchen dann im Verlauf der Platte eine Reihe von Tiergeräuschen auf (Elefant, Löwe, Pferd, Hund, Katze, Hahn, Vögel), ein dilettantisches Getröte, ein verrücktspielendes Orchester, Kirmes-Atmosphäre etc.
Alles ist sehr imaginär und verstärkt die jeweilige Stimmung des Songs. Nicht zuletzt deswegen ist ,Sgt. Pepper‘ im Sommer der Liebe 1967 (das gleichnamige Buch von George Martin ist sehr empfehlenswert) die meistgehörte LP und am ehesten vergleichbar mit einem Film, der bei jedem weiteren Betrachten eine neue Nuance enthüllt. Auf den zukünftigen Alben der Fab Four schleicht sich eine Vielzahl derartiger Effekte ins Bewusstsein des Zuhörers: Die Glocke bei ,Penny Lane‘, eine rotierende Cola-Flasche auf ,Long, Long, Long‘, Gesprächssegmente in ,Helter Skelter‘, liebliches Vogelgezwitscher bei ,Blackbird‘, grunzende Schweine bei ,Piggies‘, eine eiskalte Moog-Synthesizer-Brise bei ,I Want You‘ und nicht zuletzt die Geräusch-Collage ,Revolution 9‘ – ein Ansatz, den John Lennon auf seinem ersten zusammen mit Yoko Ono veröffentlichten Soloalbum bis ins Extreme betrieb.
Mellotron: Dies ist kein Gitarrenwerkzeug, sondern ein eigenständiges Instrument, eine Art von prähistorischem Sampler. Jede Keyboardtaste ist mit einem Mechanismus versehen, der ein Tonband (welches mit einem Flöten-, Orchester- oder Violin-Sound bespielt ist) mit der gewünschten Tonhöhe in Gang setzt (definitiv nicht Realtime). Natürlich war es möglich, jede Taste mit einem anderen Instrument oder Geräusch zu versehen. Anspieltipp: Die berühmten Intros von ,Strawberry Fields Forever‘ und ,Flying‘.
Als Fazit wird klar, dass die Sounds und Effekte bei den Beatles zunehmend zu einem unverzichtbaren Bestandteil der jeweiligen Songs werden und untrennbar mit ihnen verbunden sind. Für viele nachfolgende Werke anderer Bands gilt natürlich dasselbe. Bands wie Genesis, Yes, King Crimson oder Pink Floyd identifiziert man nicht nur anhand der Musiker und Songs, sondern auch und vor allem an der herausragenden Originalität der verwendeten Sounds und Recording-Techniken.
https://www.youtube.com/watch?v=J3kIzikGl6w
Sgt. Pepper
Die Beatles waren Ende 1966 zu einer Institution geworden und damit zu Gefangenen ihres eigenen Ruhms. Aufgrund der außerordentlichen Beachtung, die ihr Handeln im In- und Ausland fand, wurde ihnen gegen ihren Willen eine geradezu politische Bedeutung zuteil.
Die Vietnam-Krise, der sich wandelnde Zeitgeist mit der Auflösung autoritärer Strukturen und einer erkämpften Liberalisierung der Jugend, ihre Bedürfnisse nach freierer Sexualität und eigener altersspezifischer Kultur bzw. Subkultur verlangten nach einem Sprachrohr. Auf Anraten ihres Managers Brian Epsteins hielten sich die Beatles bis dato aus politischen Themen völlig heraus. Doch dies änderte sich zunehmend. Zuerst mit dem zaghaften Statement: „Wir mögen den Krieg nicht“, dann in einem öffentlichen Bekenntnis: „Wir nehmen auch Drogen, kriminalisiert dies nicht“, bis hin zu Sympathiebekundungen für fernöstliche Religionen. So mancher Pop-Band hätten diese Aussagen das Genick gebrochen, nicht aber den Beatles. Sie schienen wieder einmal stellvertretend für ihre Generation die gesellschaftlichen Vibes zu artikulieren. Dabei war es zu dieser Zeit wirklich schlecht um die Band bestellt und man stand wahrscheinlich kurz davor, sich aufzulösen. Nach Abschluss der letzten Tournee 1966 hatten die Beatles für John aufgehört zu existieren, er drehte erst einmal einen Film (,How I Won The War‘). Auch George meinte: „That’s it“ und Paul machte mit Lieblings-Roadie Mal Evans einen Kreativurlaub in Afrika. Aber auf dem Rückflug kam ihm die Idee für einen gigantischen Befreiungsschlag und spätestens von nun an wurde McCartney zur treibenden Kraft:
Wenn sie nicht mehr die Beatles wären, sondern eine imaginäre andere Band, könnten sie ihr Zwangskorsett abstreifen und völlig frei vom Erwartungsdruck der Öffentlichkeit neue Wege beschreiten. Pauls Kollegen waren begeistert und die Beatles wurden zur Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band. Lennons Konsum an halluzinogenen Drogen nahm massive Formen an und äußerte sich in zunehmender Gleichgültigkeit, jedoch wurden seine kreativen Kanäle durch Pauls Konzept reanimiert und führten ihn zu frischem Aktivismus.
Die Arbeiten für das Album begannen im Winter 1966/67 mit den Aufnahmen von ,Strawberry Fields‘ und ,Penny Lane‘. Beide Songs waren gemäß George Martin ursprünglich für das Pepper-Album bestimmt, wurden jedoch aus marketingtechnischen Gründen bereits vorab als Doppel-A-Seiten-Single veröffentlicht und waren damit für das Album tabu. Er erklärte später, man hätte es damals den Fans gegenüber noch als unfair empfunden, eine Single auf dem nachfolgenden Album noch einmal zu veröffentlichen. Die Fans sollten schließlich nicht zweimal für dasselbe Produkt bezahlen. In der heutigen Zeit, wo Alben oft nur noch um einen einzigen Single-Hit herumgestrickt werden, wäre ein solches Vorgehen schon aus verkaufspolitischen Erwägungen völlig undenkbar. Es zeigt jedoch, welchen kreativen Output die Beatles damals hervorbrachten.
Die Arbeiten am Album begannen also von vorn, wobei der Hauptunterschied zu den ersten Alben der Beatles deutlich wird: Während man früher mit fertigen Songs ins Studio kam, entstanden die Songs bei ,Pepper‘ größtenteils erst während der Aufnahme. Hierdurch wurde das gesamte Abbey-Road-Studio nicht nur zu einem gigantischen Experimental-Labor umfunktioniert (nicht zuletzt für George Martin), sondern zu einem regelrechten Kompositionswerkzeug. Aufgrund des Goldesel-Stellenwertes der Beatles für die EMI ließ man ihnen nun alle Freiheiten. Die Aufnahmen fanden kaum noch tagsüber statt, sondern begannen selten vor 18 Uhr. Oft fing man erst um 23 Uhr an und arbeitete dafür die ganze Nacht hindurch. Hierbei musste nicht nur George Martin anwesend sein, sondern nahezu die gesamte Studio-Crew. Schon der normale Studio-Betrieb und erst recht die zahlreichen Experimente konnten nur mit Hilfe der Techniker gelingen. Die Studiomitarbeiter waren demnach ständig auf Stand-by für den Fall einer genialen Eingebung der Hauptpersonen Lennon & McCartney oder auch George Martins, so dass die Langeweile für einen Großteil der Studiocrew zu einem echten Problem wurde. Ringo sagte einmal, seine deutlichste Erinnerung an ,Sgt. Pepper‘ sei, dass er dabei Schach spielen gelernt habe … John und Paul hingegen brauchten die Zeit zum Experimentieren und bekamen sie endlich. Beide hatten auch bei sich Zuhause kleine Experimentierkammern eingerichtet. John ließ mehrere Brennel Tonbandmaschinen installieren, Paul Revox A-77-Maschinen. Diverse Keyboards und Gitarren halfen beim Tüfteln.
Die nicht zuletzt durch Drogen neu gewonnenen Bewusstseins-Erweiterungen sollten in die Sprache der Musik übersetzt werden, und da es noch keine Synthesizer gab, mussten neue Wege erschlossen werden. John und Paul sagten bei den Aufnahmen zu ,Sgt. Pepper‘ ständig zu George Martin: „Wir wollen nicht, dass ein Klavier wie ein Klavier und eine Gitarre wie eine Gitarre klingt! Mach was damit!“ Und nie zuvor hatten Gitarren so geklungen.
A Day In The Life
Nachdem ,Strawberry Fields Forever‘ und ,Penny Lane‘ nicht mehr für das Album in Frage kamen, war ,A Day In The Life‘ nach ,When I’m 64‘ der zweite Song, der für ,Pepper‘ aufgenommen wurde. Die Entstehungsgeschichte dieses Songs soll hier als Beispiel für den Einfluss der neuen Freiheiten im Studio auf den neuen Sound der Beatles dienen:
John hatte noch nicht viel mehr als ein Song-Fragment, als sie am 19. Januar 1967 um 19 Uhr 30 mit der Aufnahme begannen. Paul arbeitete seinerseits an einem unfertigen Stück, das sich als Mittelteil für Johns Song eignete. Da beide Song-Teile in verschiedenen Tonarten standen und man noch keinen Verbindungsteil hatte, ließ man bei der Aufnahme 24 Takte zwischen beiden Teilen frei.
Die erste Spur mit Paul am Piano und John an der Akustik-Gitarre dient als Rhythmus-Track. Ringo spielt Bongos und George Maracas. Gleichzeitig wird Johns Lead-Vocal auf Spur vier aufgenommen, zusammen mit einem schweren Band-Echo, denn dieser Effekt hilft ihm „in time“ zu bleiben. Die verbleibenden Spuren werden in weiteren Takes zunächst für Overdubs von Lennons Lead-Vocals genutzt, während Paul die Piano-Akkorde am Beginn des Stückes beisteuert. Das wird zur standardisierten Vorgehensweise: Paul spielt frühe Basic-Tracks mit dem Klavier ein, den Basspart arbeitet er später intensivst aus und erzielt so kreative Highlights. Die 24 Takte Pause werden überbrückt, indem der Roadie Mal Evans laut mitzählt. In Takt 24 lassen sie einen Wecker klingeln, zunächst ohne tiefere Bedeutung. Doch da er optimal zum späteren Text des Mittelteils passt („Woke up, fell out of bed …“), wird er beibehalten. Die Session endet am frühen Morgen um 2 Uhr 30. Am nächsten Abend erfolgt der erste Downmix auf zwei neue Spuren, wobei die Instrumente Spur 1 und ein Mix aus Johns Lead-Vocals Spur 2 bilden. Auf derselben Spur werden Pauls Vocals im Mittelteil aufgenommen.
In einem weiteren Overdub werden Pauls Bass und Ringos Drums auf Spur 3 festgehalten. In den folgenden zwei Wochen wird an anderen Songs gearbeitet. Am 3. Februar geht man erneut ans Werk, und Paul ersetzt seine Lead-Vocals im Mittelteil. Auch Drums und Bass werden durch ein neues Overdub ersetzt, wobei sie wiederum gemeinsam auf Spur 3 aufgenommen werden. George Martin war gezwungen, extrem mit den verfügbaren Spuren zu haushalten, da sich die unerwünschten Nebengeräusche mit jedem weiteren Down-Mix potenzieren. Sowohl Paul als auch Ringo müssen also extrem diszipliniert spielen, um nicht einen potentiell genialen Take ihres Kollegen zu ruinieren. Spur 4 nutzt Paul für weitere Piano-Overdubs. Inzwischen hat er eine recht klare Vorstellung davon, was in dem 24-taktigen Übergangsteil passieren soll: Er will ein Symphonie-Orchester (90 Mann!), womit er George Martin wohl doch ein wenig erschreckt. Man einigt sich auf ein 40-köpfiges Orchester, das für den Abend des 10. Februar gebucht wird.
Die Aufnahme wird zu einem gigantischen Happening. Die Beatles bestehen darauf, dass das Orchester inkl. George Martin in Abendgarderobe erscheint, scheuen aber andererseits nicht davor zurück, die hochdekorierten Musiker – die Crème de la Crème der klassischen britischen Musikszene – mit Karnevalsartikeln wie roten Pappnasen etc. auszustatten. Eingeladen sind zahlreiche Freunde der Beatles, wie etwa Mick Jagger, Keith Richards und Marianne Faithful. Natürlich wird dieses Event gefilmt und ist in einem späteren Promotion-Film zu sehen. Während der 24 Takte soll jeder einzelne Musiker so leise wie möglich mit dem jeweils tiefsten Ton seines Instrumentes beginnen und in einem gleichmäßigen Anstieg sowohl der Tonhöhe als auch der Lautstärke mit dem höchsten Ton in größtmöglicher Lautstärke enden. In dieser Nacht herrscht also Anarchie in der Abbey Road! Hierbei wird insbesondere der Einfluss Stockhausens und der Londoner Avantgarde auf McCartney überdeutlich.
Die Aufnahme des Orchesters erfolgt auf einer zweiten 4-Spur-Maschine, während die erste 4-Spur-Maschine das Masterband abspielt. Ken Townsend hat eigens für die Session einen technischen Trick entwickelt, um die beiden Maschinen mit Hilfe eines 50 Hertz Impulses weitgehend synchron laufen zu lassen (der SMPTE-Code zur Synchronisation verschiedener Maschinen wurde erst Jahre später entwickelt). Als Problem stellte sich später jedoch heraus, dass es fast unmöglich war, beide Maschinen gleichzeitig an der richtigen Stelle zu starten – selbst wenn sie (nahezu!) im selben Tempo liefen. George Martin bezeichnete die mühsamen Versuche später als „Hit-or-miss“-Methode. Trotz der technischen Unzulänglichkeiten entsprechen die Orchester-Aufnahmen den hochgesteckten Erwartungen.
Man nimmt insgesamt 5 Takes auf, jeden Take jeweils auf alle vier Spuren, wodurch man einen wirklich dichten Sound erzielt. Das Orchester-Crescendo wird schließlich nicht nur in der Mitte, sondern auch am Ende eingesetzt. Das Einstimmen der Instrumente verwendet man später für das Intro von ,Sgt. Pepper‘. Für den bombastischen Schluss-Akkord in ,A Day In The Life“ werden in einer weiteren Nacht-Session am 22. Februar insgesamt drei Pianos in Mitleidenschaft gezogen, auf denen John, Paul, Ringo und der Roadie Mal Evans gleichzeitig mit maximaler Lautstärke einen E-Dur-Akkord anschlagen. Um ein schnelles Abklingen zu verhindern, wird der Sound stark komprimiert. Gleichzeitig dreht Geoff Emerick, George Martins Chief Engineer, während des Abklingens des Akkordes den Gain manuell kontinuierlich bis zum Maximum auf und erreicht so eine noch nie gehörte Decay-Zeit des Piano-Sounds.
Meilensteine
Wegen der für damalige Verhältnisse gigantischen Produktionsdauer und dem zuvor verkündeten Ende ihrer Live-Auftritte munkelten die Gazetten im Vorfeld der Veröffentlichung, mit der Kreativität der Liverpooler ginge es bergab, und es stünde nicht mehr genügend hochklassiges Material zur Verfügung. Aber insbesondere Paul wusste, wieviel innovativen und protagonistischen Stoff ,Pepper‘ beinhaltet („You just wait!“). Unmittelbar vor der Veröffentlichung bekam er dennoch ein flaues Gefühl und war sogar zeitweise geneigt, das Projekt zu kippen. Er hatte plötzlich Zweifel bezüglich der Zumutbarkeit für ihre bisherigen Fans. Niemand erwartete solch ein komplexes und anspruchsvolles Werk von einer Pop-Band. Bei der Release-Party im Hause Epsteins erklang die Musik über unzählige Lautsprecher und wurde von den Gästen enthusiastisch aufgenommen, die Bedenken waren also überflüssig.
McCartneys Freund und Business-Kontrahent Brian Wilson war fassungslos und zugleich tief erschüttert, so dass er die laufenden Aufnahmen der neuen Beach Boys-Platte abbrach und in eine tiefe kreative Depression verfiel. Er hat ,Pepper‘ wahrscheinlich niemals ganz überwunden. Interessant ist, dass die Beatles ihrerseits (inklusive George Martin) einen tiefen Respekt vor den Beach Boys hatten, insbesondere vor ihren herausragenden Vocal-Arrangements. McCartney sagte später, „wenn die Beatles jemals einen wirklichen Konkurrenten hatten, dann waren es die Beach Boys“ und beide Bands stachelten sich in ihrem transatlantischen Konkurrenzkampf gegenseitig zu immer spektakuläreren Aufnahmen an. Die so oft beschworene Konkurrenz zwischen den Beatles und Stones betrachtet Paul dagegen als Unsinn. In der Tat gehörte Mick Jagger zu seinem engsten Freundeskreis. Beide sprachen sich vor der Veröffentlichung neuen Materials ab, damit man sich nicht gegenseitig ins Gehege kam, und die häufige Anwesenheit Jaggers bei Beatles-Sessions zeigt die enge Verbundenheit beider Bands. Sicherlich hat ,Pepper“ auch die Arbeit der Stones beeinflusst, obwohl diese offenkundig in einem anderen Teich fischten.
Doch warum war dieses Album so bahnbrechend? Es enthält klassische Orchester-Sounds und verbindet ethnische Klänge, Psychedelisches und Pop, ein Vocalstück mit ausschließlicher Harfen- und Streicherbegleitung (,She’s Leaving Home‘), Vaudeville- Sound der 20er Jahre (,When I’m 64‘), Heavy-Rock (,Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band‘), prosaische und surreale Texte, Elemente von Programm-Musik, eine nicht enden wollende Auslaufrille (Seite 2) und einen Ausschneidebogen zum Basteln.
Das Cover war in der Gestaltung und Herstellung extrem teuer und wurde als separates Kunstwerk betrachtet. Das Frontbild regte die Fantasie des Betrachters an – das „Paul is dead“-Gerücht entstand. Das Cover enthielt zum ersten Mal die kompletten Lyrics. Die Stücke gehen ohne Leerlaufsekunden ineinander über (Stichwort Konzeptalbum). Die Produktionsdauer betrug fünf Monate, davon etwa 700 Stunden reine Studiozeit (zum Vergleich: Für das Album ,Please Please Me‘ benötigte man nicht einmal 10). Die Produktionskosten lagen bei etwa £ 25.000 (damals sehr viel Geld!).
Man integrierte Geräusche jenseits der 20.000-Hertz-Marke, die nur Hunde hören können (Paul wollte etwas für seinen neuen Hund „Martha“). Wahrscheinlich wurde kein Album vorher oder nachher von so vielen Hunden gehört (und gemocht).
Magical Mystery
Gleich im Anschluss an ,Pepper‘ begannen die Aufnahmen zum Soundtrack von ,Magical Mystery Tour‘, wobei der Übergang fließend
war und sich die Produktionsweise der beiden Alben kaum unterschied. Zwischendurch wurde eine Auftragskomposition für die weltweite Erstausstrahlung des Farbfernsehens erstellt (,All You Need Is Love‘). Hierfür standen den Beatles ausnahmsweise die Abbey Road-Studios nicht zur Verfügung und man wich in die Olympic-Studios aus. Dort hatte man schon auf 8-Spur umgerüstet und konnte noch freier Experimentieren. Die Beatles merkten nach relativ unproduktiven Sessions, dass sie eine Pause benötigten, bevor sie das nächste Mammutwerk in Angriff nehmen könnten. So standen die nächsten Monate – überschattet vom Tod ihres genialen Managers Brian Epstein – ganz im Zeichen von indischer Philosophie und Meditation, einem einfachen Leben und einer Abkehr von den harten Drogen. Nur Ringo vermisste in Indien seine „Heinz Baked Beans“. Mit dem Indien-Aufenthalt begann eine neue Phase im Schaffen der Beatles, mit der wir uns in der nächsten und letzten Folge beschäftigen werden.
Über die Autoren: Michael Doering und Johnny Silver bilden die Gitarrenfraktion der „Silver Beatles“, der einzigen deutschen Beatles-Coverband, die 1998 und 1999 bei der „International Beatles Convention“ in Liverpool dabei war. Die Silver Beatles spielten bereits viermal im legendären Liverpooler Cavern Club und können neben ihrer eigenen intensiven Beschäftigung mit der Musik der Beatles auf eines der umfangreichsten Beatles-Archive in Deutschland zurückgreifen. Weitere Infos: http://www.silverbeatles.de