(Bild: Hajo Müller)
Was fragt man einen Gitarristen, der nicht über sein Gear, sein Spiel oder seinen Sound reden möchte? Ein Problem, vor das uns Steven Wilson seit Jahren stellt, weil der Songwriter, Produzent und Multiinstrumentalist nicht auf einen Aspekt seines Könnens reduziert werden möchte. Genauso wenig wie auf seine bekannteste Rolle: als Mastermind der Prog-Rock-Institution Porcupine Tree.
Wilson ist lieber Künstler, Freigeist und Pendler zwischen allen Genres. Weil er aber auch ein begnadeter Saitenhexer ist, behelfen wir uns zur Veröffentlichung seines siebten Solo-Albums ‚The Harmony Codex‘ eines kleinen Tricks: Wir konfrontieren ihn mit seinen Lieblingsgitarristen – und erfahren so viel über ihn selbst.
Tatort Berlin: Steven Wilson empfängt im Büro seiner Plattenfirma Virgin. Der schlaksige, hagere Brite wirkt etwas müde und ausgepowert. Kein Wunder: Er hat gerade das letzte Konzert der Sommer-Tournee von Porcupine Tree auf deutschem Boden absolviert und nutzt die Gelegenheit, um noch einen Tag Promo zu seinem neuesten Alleingang einzuschieben: ‚The Harmony Codex‘. Ein Werk, das während des Corona-Lockdowns 2021 entstanden ist, also direkt nach Veröffentlichung des Vorgängers ‚The Future Bites‘, und einem eher ungewöhnlichen Ansatz folgt – in kein Genre und keine Schublade zu passen.
Dazu dienen zehn Songs, die im kompletten Alleingang in seinem Londoner Heimstudio entstanden sind – nur unterstützt von ausgewählten Kollegen, die per Internet ein bisschen Schlagzeug, Saxofon oder auch ein paar elektronische Beats beigesteuert haben. Etwa Sam Fogarino von Interpol, Guy Pratt (u.a. Pink Floyd) oder Jack Dangers von Meat Beat Manifesto. Stilistisch steht das Ganze zwischen sämtlichen Stilen und Stühlen: Mal ist es Electronica, mal Pop, mal Prog, mal ein Hybrid aus allem. Aber: Es ist nicht greifbar und nicht auf eine Sache zu reduzieren.
Genau das ist die Intention des 55-Jährigen: Außerhalb aller Parameter zu agieren, engstirnigen Kritikern wie allzu vereinnahmenden Fans die lange Nase zu zeigen und schlichtweg frei zu sein – ohne sich und seine Kunst groß erklären zu müssen. Umso lieber redet er über seine musikalischen Vorbilder. Das ist etwas, an dem er sichtlich Spaß hat – und bei dem er vor allem viel über sich selbst verrät.
DAVID GILMOUR
(Bild: Sony Music / Sarah Lee)
„David ist unglaublich entspannt – geradezu tiefenentspannt. Er hat etwas Buddhahaftes. Und wenn es hart auf hart kommt, würde ich ihn als meinen Lieblingsgitarristen aller Zeiten bezeichnen. Nicht nur, weil er tatsächlich der erste war, den ich als Kind bewusst wahrgenommen habe − eben als mir mein Vater ‚Dark Side Of The Moon‘ vorgespielt hat.
Die Gitarrensoli auf diesem Album haben geradezu biblische Proportionen. Sie sind der Inbegriff davon, nicht einfach 50 Noten zu spielen, die in ein Ohr reingehen und gleich wieder aus dem anderen herauskommen, sondern sie stehen dafür, einfach eine einzige Note zu spielen, die einem allerdings das Herz bricht. Die einem richtig nahegeht. Genau das ist David. Er kann dich mit ganz wenig auf einem tiefen, emotionalen Level ansprechen. Und wenn ich all die modernen Gitarristen und Shredder höre, dann würde ich mir wünschen, sie würden mehr von seiner Idee übernehmen.“
MIKAEL ÅKERFELDT (OPETH)
(Bild: Warner Music)
„Ich würde sagen, Mikael ist so etwas wie das Äquivalent zu Gilmour im Metal-Bereich. Denn da wird traditionell viel geshreddet – zumindest bei der modernen Generation an Metal-Musikern. Da geht es um seitenweise Noten und darum, so viele wie möglich zu spielen. Doch dann taucht da plötzlich dieser Typ aus dem Death Metal auf, der unglaublich melodisch, langsam und mit einem wahnsinnigen Gefühl spielt. Ich bezeichne ihn gerne als den einsamen Schweden, der sich in einem Wald aus Sounds verlaufen hat. Genauso klingt er für mich.
Er besitzt eine unfassbare melancholische, nostalgische, melodische Qualität. Also durchaus in der Art von jemandem wie Gilmour, Peter Green oder Andy Latimer von Camel. Und Latimer ist übrigens auch noch einer von Mikaels größten Helden – was im Death-Metal-Kontext absolut ungewöhnlich und bemerkenswert ist. Das war auch einer der Gründe, warum ich in seinen Anfangstagen mit ihm arbeiten wollte – weil ich so etwas noch nie zuvor gehört hatte. Also diese Kombination aus Sounds und Stilen.
Insofern: Er ist einer meiner Lieblingsgitarristen – und gerade aus der Szene, in der er sich bewegt. Da ist er die ganz große Ausnahme.“
PRINCE
(Bild: Sony Music)
„Prince war als Gitarrist völlig unterbewertet, weil er halt so viele andere Sachen verkörpert hat: Er war ein Popstar, ein Sänger, ein Songwriter, ein Produzent, eine Mode-Ikone, ein Tänzer. Er konnte einfach alles. Er war ein echtes Universalgenie – was leider komplett überlagert, dass er auch ein unfassbar intuitiver Gitarrist war. Ein Naturtalent vor dem Herren. Und es sah immer so aus, als würde er sich da keine große Mühe geben – er hat das einfach mit Links gemacht. Was wahrscheinlich auch sein Problem war.
Und das ist wiederum der Grund, warum die Leute seinem Spiel nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt haben, wie sie es hätten sollen: Er hat es so aussehen lassen, als würde ihm das keine große Mühe bereiten, als fiele es ihm wahnsinnig leicht, und als könne es folglich nicht wirklich ernst genommen werden. Ich denke, da hatte Prince ein echtes Problem: Er hat es so aussehen lassen, als wäre es für ihn nichts anderes als ein Spaziergang im Park, dabei war er ein außergewöhnlich guter Gitarrist. Und jemand, der genauso im Rock wie im Funk, Soul, R&B und etlichen anderen Genres verwurzelt war. Und dann diese Gitarren! Göttlich!“
REEVES GABRELS (DAVID BOWIE, THE CURE)
(Bild: Ben Houdijk/Shutterstock)
„Das erste Album, das er mit Bowie gemacht hat, war diese Tin-Machine-Platte, die mir seinerzeit nicht wirklich gefiel. Aber was ich dann doch daran mag, ist das Gitarrenspiel, weil er diesen eigenwilligen Ansatz eines regelrechten Klangdesigns im Sinne von Robert Fripp verfolgt hat. Genau das ist es, was ich bei vielen Vertretern der modernen Generation an Gitarristen vermisse – eben diesen Ansatz und diese Fähigkeit. Nach dem Motto: ‚OK, du kannst also richtig gut spielen – aber ist das der einzige Sound, den du hast?‘
Denn seien wir ehrlich: Was heutzutage so toll daran ist, ein Gitarrist zu sein, ist doch dieses unglaubliche Arsenal an Sounds und Effekten, das dir zur Verfügung steht. Eben all diese Wege, deinen Sound zu manipulieren, zu bearbeiten und ihn in unendlich viele Richtungen zu führen.
Ich selbst bin mit Gitarristen wie Robin Guthrie von den Cocteau Twins aufgewachsen, die lediglich eine Note gespielt und sie dann durch diese ganzen Effekte wie Echos, Reverbs und was-weiß-ich gejagt haben, die alle miteinander verkettet waren. Durch dieses Aufblasen ist dann ein wunderbarer, spektraler Sound entstanden, der einmal mehr die Antithese zum modernen Shredder darstellt, der einfach die ganze Zeit mit einem sehr langweiligen, sauberen Sound aufwartet.“
ROBERT FRIPP (KING CRIMSON)
(Bild: Jim Summaria CC BY-SA 3.0)
„Ein sehr altes Foto von Robert – und wisst ihr, warum: Weil er da beim Spielen noch aufrecht steht. Ich selbst habe Robert z.B. noch nie stehend auf der Bühne erlebt. Ich denke auch nicht, dass er das seit den Anfangstagen von King Crimson je wieder getan hat. Von daher muss dieses Bild verdammt alt sein. Was mich an Robert fasziniert, ist, dass er eigentlich kein natürlicher Gitarrist ist, was er auch sofort selbst zugeben würde. Wohingegen jemand wie Prince so etwas wie der geborene Gitarrist war. Genau wie Clapton oder andere, sehr talentierte Musiker. Das war Robert nie, und er ist es bis heute nicht.
Alles an Robert ist Einsatz und Intellekt – und das schlägt sich auch in seinem Gitarrenspiel nieder. Obwohl er in der Lage ist, auf eine sehr instinktive und intuitive Art zu spielen, kommt das meiste doch von seinem Intellekt und der Tatsache, dass er täglich vier, fünf Stunden übt. Und er wäre der erste, der zugeben würde, dass es daran liegt, dass er eben kein geborener Gitarrist ist. Das ist auch der Grund, warum er spielt wie er spielt. Nämlich oft mit den falschen Noten, aber eben auf eine Art, die sie doch richtig klingen lässt. Und auch er ist die Antithese des traditionellen, pentatonischen Blues-Spielers. Er agiert schlichtweg in seiner eigenen Liga.“
ALEX LIFESON (RUSH)
(Bild: Universal)
„Für mich ist Alex einer der unterbewertetsten Gitarristen aller Zeiten – in einer der unterbewertetsten Bands aller Zeiten. Und das ist es, was Rush ausmacht: Dass diese drei außergewöhnlichen Musiker – vielleicht mit der Ausnahme von Neil, der oft in einschlägigen Drum-Polls erwähnt wurde – chronisch übersehen wurden. Gerade Alex als Gitarrist.
Vielleicht liegt es daran, weil er Teil einer Band mit so einer unverwechselbaren Rhythmus-Sektion war, dass die Leute halt einfach vergessen haben, über den Gitarristen zu sprechen. Dabei ist er unglaublich. Und auch für ihn gilt: Ich würde mir wünschen, dass einige der moderneren Gitarren-Generationen zu einem Spieler wie Alex aufsehen und erkennen würden, dass er zu den Typen gehört, die alles können. Er kann shredden, aber er hat auch das Gefühl, er hat den Ton und die Fantasie.“
ROLAND ORZABAL (TEARS FOR FEARS)
(Bild: Zoren Gold)
„Noch ein großartiger Typ – aber noch jemand, den ich gar nicht so sehr als Gitarristen sehe; selbst wenn er definitiv sehr, sehr gut ist. Von allen Leuten, die ich hier kommentiere, ist Roland vielleicht das größte Vorbild für mich. Einfach weil er ein Songwriter ist. Ein Songwriter, der auch Gitarre spielt, singt und produziert.
In allem ist er wahnsinnig gut, aber gleichzeitig hat er etwas von einem Autorenfilmer: Er hat eine Idee für ein großes Stück Musik oder ein großes Album und er ist unschlagbar darin, das umzusetzen und die richtigen Partner auszuwählen, mit denen er das Ganze erschaffen kann. Zudem ist er sehr neugierig, was Sounds betrifft – und da spielt die Gitarre natürlich eine wichtige Rolle. Aber er ist auch sehr interessiert an elektronischer Musik.
Und seit ich ein Kind war, habe ich stark auf Leute reagiert, bei denen ich das Gefühl hatte, dass sie der uneingeschränkte Kapitän ihres Schiffs sind – wie Jeff Lynne, Roger Waters oder Roland Orzabal. Das sind die Leader-Typen – die Pete Townshend-Charaktere. Und ganz nebenbei sind sie noch ausgezeichnete Gitarristen. Aber in erster Linie haben sie eine musikalische Vision, bei der die Gitarre eine elementare Rolle spielt. Und in dieser Beziehung – als Songwriter und Musiker – ist Roland definitiv einer der Größten für mich.“
ANDY PARTRIDGE & DAVE GREGORY (XTC)
(Bild: Virgin)
„Ein weiterer Buddy von mir – oder besser gesagt: zwei Buddys. Denn XTC hat tatsächlich zwei großartige Gitarristen in seinen Reihen. Und zwar zwei mit sehr unterschiedlichem Ansatz: Dave ist eher der ruhige, nachdenkliche Typ. Sehr introvertiert. Während Andy diese intuitive Art von Musiker ist, aus der die Ideen regelrecht hervorsprudeln, ohne dass er weiß, was er da eigentlich tut oder wie die Akkorde, die er da spielt, heißen. Was wiederum eine Sache ist, die ich an ihm liebe; dass er die Gitarre einerseits wie ein vollkommener Autodidakt, vielleicht sogar wie ein regelrechter Anarchist angeht, aber gleichzeitig auch aus der Perspektive eines außergewöhnlich guten Songwriters. Eben im Grunde wie Roland, aber vielleicht noch ein bisschen punkiger und wilder.
Und eine der Möglichkeiten, die die Gitarre einem Songwriter offeriert, ist eben nicht nur damit anzugeben, sondern wirklich spannende und ungewöhnliche Parts zu kreieren. Also etwas richtig Interessantes, Einmaliges und Besonderes. Was für mich tolle Musik ausmacht: Sie hat die Oberflächlichkeit des Pop, die ein großes Publikum erreicht. Aber wenn man ein bisschen tiefer geht und unter die Oberfläche blickt, entdeckt man da all diese Schichten, die absolut aufregend sind.
All diese Bands – Tears For Fears, XTC, E.L.O., 10cc – weisen eine enorme Komplexität im Aufbau ihrer Musik auf, aber man kann sie auch einfach als brillante Popsongs empfinden und Spaß damit haben. Darin waren und sind XTC wahre Meister. Und sie sind exquisite Gitarristen, die viel von George Harrison, John Lennon und Ray Davies gelernt haben.“
(erschienen in Gitarre & Bass 11/2023)
Sehr erfrischend, dass nicht immer die gleichen Gitarren-Heroen genannt werden, sondern auch mal Gitarristen die unspektakulärer agieren, aber trotzdem oder gerade deshalb tolles Songwriting betreiben. Ich bin musikalisch ein Kind der 80er und finde, dass sich in vielen Songs interessante Gitarrenparts finden, die aber in der Wahrnehmung untergehen, weil diese Gitarristen nicht so übertrieben heroisiert werden wie so mancher Blues- und Rockgitarrist. Als Gitarrist in einer 80er Coverband erkenne ich, wie tricky so manche Parts sind, von anderen Gitarristen werde ich daher etwas abschätzend angeguckt, wer etwas auf sich hält, spilet doch was anderes ?
Danke für die tolle Idee der Annäherung an diesen Ausnahmemusiker!