Im Interview

St. Vincent: Das Chamäleon

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(Bild: Ernie Ball)

Auf den ersten Blick ist ‚Daddy’s Home‘, das sechste Epos von St. Vincent, ein Konzeptalbum über die Entlassung ihres Vaters aus einem US-Bundesgefängnis. Doch dahinter verbirgt sich – wie bei Annie Clark üblich – weitaus mehr: Das Ganze ist ein musikalischer Mittelfinger an die Massenmedien, das amerikanische Rechtssystem und den wütenden Zeitgeist – inszeniert mit einem warmen, harmonischen 70s-Pop/Rock sowie einem spannenden Instrumentarium. Gitarre & Bass hat der 39-jährigen Wahl-New-Yorkerin auf den Zahn gefühlt.

 

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Annie, als jemand, der sein Privatleben am liebsten unter Verschluss hält: Warum ein solches Konzeptalbum? Ist das kein Widerspruch?

(lacht) Ich würde sagen: Ich konnte nicht anders. Ich wollte das endlich abschließen und ein für alle Mal hinter mich bringen. Denn mich haben diese neun Jahre, die mein Vater eingesperrt war, wirklich belastet. Ganz zu schweigen von den Besuchen. Das ging so weit, dass ich bei meinem letzten sogar Autogramme im Besuchsraum geben musste.

Das meinst du nicht ernst?

Oh doch, es war bizarr – auf eine düstere, makabere Weise aber auch witzig. (lacht) Insofern: Es stimmt, dass es normalerweise kein Thema wäre, über das ich öffentlich sprechen würde. Aber es wurde mir quasi aufgezwungen, als die Boulevard-Presse das vor ein paar Jahren ans Tageslicht gezerrt hat. Von daher habe ich versucht, die Kontrolle über diese Geschichte zurückzugewinnen. Eben, indem ich sie selbst mit Humor erzähle und zu einem versöhnlichen Abschluss bringe. Das kann ich, weil mein Vater wieder zu Hause ist und das Ganze nichts Schmerzhaftes mehr hat. Es hat zwar verdammt wehgetan und war ziemlich traurig, aber das muss es ja nicht bleiben.

Das klingt therapeutisch.

Ja, ich habe das wirklich gebraucht. Allein, um die unliebsamen Erfahrungen mit dem amerikanischen Justizsystem zu verarbeiten. Ich meine, mein Vater ist ein älterer Mann, der wegen Steuerhinterziehung saß – nicht wegen eines Gewaltverbrechens. Die Insassen werden behandelt wie Vieh. Und auch ich wurde mehrfach schikaniert.

Wobei Daddy aber nicht das einzige Thema der Songs ist. Es geht auch um dein Leben in Downtown New York. Warum kombinierst du beides?

Weil beides anrüchige Geschichten sind – über leicht angeknackste Menschen, die versuchen, irgendwie klarzukommen, und die auch mal stolpern. Ich kann über all die Leute schreiben, weil ich mehr oder minder jeder einzelne von ihnen war. Also ich war nahezu jeder Charakter, der auf dem Album vertreten ist: Das Mädchen im ersten Morgenzug, das seine High Heels in der Hand hat und noch die Klamotten vom Vorabend trägt. Ich war diese Person auf der Weihnachtsfeier, ich habe all das selbst erlebt – all diese unterschiedlichen seelischen und äußerlichen Zustände. Einfach, weil das menschliche Befinden sind: Wir tasten uns durchs Leben und versuchen das zu bekommen, was alle wollen. Nämlich geliebt zu werden und ein Dach über dem Kopf zu haben. Grundbedürfnisse.

(Bild: Ernie Ball)

Seit 2014 hast du dich zur regelrechten Verwandlungskünstlerin gemausert. Folgst du dem Ansatz von Madonna oder David Bowie?

Ich finde es einfach toll, Bilder von ihnen zu sehen und instinktiv sagen zu können: „Oh, das war doch diese Ära.“ Also exakt zu wissen, wann und zu welcher Phase ihres Lebens sie entstanden sind. Ganz abgesehen davon, dass das Spiel mit der Mode ein Riesenspaß ist. Also ganz ähnlich wie der, den ich habe, wenn ich mich durch verschiedene musikalische Stile höre und denke: „Damit sollte ich mich etwas genauer beschäftigen.“ Genauso geht es mir bei der visuellen Seite.

Bist du ein großer Bowie-Fan?

Massiv.

Stimmt es, dass du sogar eine seiner E-Gitarren besitzt?

Ja, eine von ihm signierte Airline, wie er sie öfter auf der Bühne verwendet hat.

Hast du sie auch auf dem neuen Album eingesetzt? Oder was spielst du da?

Die Airline definitiv nicht – sie ist an einem sicheren Ort, wo ihr nichts passieren kann. Auf dem Album hört man größtenteils meine Music-Man-Modelle. Ansonsten habe ich nur noch eine Acoustic eingesetzt – was für mich ein Novum war. Aber: Ich brauchte sie halt für diesen Sound – ohne ging es einfach nicht. Da ich keine eigene habe, musste ich mir eine 70s-Martin von einem Freund ausleihen. Und das war eine ganz neue Erfahrung. Die meisten meiner Gitarren sind modifizierte Flatwound-Bariton-Teile, also richtige Frankenstein-Monster … Und bevor ich es vergesse: Ich habe auch noch auf diese Danelectro Coral Sitar von 1967 zurückgegriffen. Ein wunderbares Teil.

Wie hat sich dein Spiel über die Jahre verändert? Welche Entwicklung kannst du da feststellen?

Ich bin der Meinung, dass es ein bisschen gefühlvoller geworden ist. Und ich denke, dass meine besten Gitarrenparts und auch meine besten spielerischen Momente darauf basieren, dass mir eine starke Melodie einfällt und ich sie mit Hilfe der Gitarre umsetze. Also dass ich zunächst ganz tief in mich hineinhorche und schaue, was ich da finde – und wenn da etwas ist, versuche ich, es mit der Gitarre hervorzuholen und festzuhalten. Das ist auch die Art, wie ich bei meinen Soli vorgehe: Ich singe sie erst einmal vor mich hin – dann spiele ich sie nach.

Es soll bald eine neue Version deiner Music Man geben. Was erwartet uns da?

Es ist definitiv eine Gitarre, die so etwas wie die Rückkehr zu den Pfandleih-Modellen darstellt, die ich jahrelang gespielt habe. Also zu der Zeit, als ich mir keine teuren Sachen leisten konnte – und ich nur davon geträumt habe, irgendwann mal eine Signature-Serie unter meinem Namen zu starten. (lacht) Sie hat einen eher Glockenspiel-artigen Sound. Einen, der kristallin ist – statt dieses kräftigen, stämmigen Rockmonsters. Das reflektiert, wo ich gerade bin. Nämlich bei einem etwas anderen, durchaus geschichtsträchtigen Sound …

Deine ersten Signature-Modelle, die 2017 erschienen sind, wurden damals als „reine Frauengitarren“ gehandelt. Ein Missverständnis?

Und was für eins! Was bezeichnender Weise meine eigene Schuld war, und ich befürchte, dass ich damit die gesamte Marketing-Kampagne von Ernie Ball zerschossen habe. Dabei habe ich bei einem Interview über die Gitarren einfach nur kurz nicht aufgepasst und einen charmanten, kleinen Witz gemacht. Nämlich, dass der Korpus so designt sei, dass da noch ein oder zwei Brüste Platz hätten. Und das wurde so verdreht und so aus dem Kontext gerissen, dass ich wirklich baff war. Denn es war etwas, das ich aus einer Laune heraus gesagt habe.

Ich habe da nicht groß nachgedacht – und was ist passiert? Es wurde zu diesem Satz, der überall zitiert wurde. Schon war es eine reine Frauen-Gitarre – was sie nie sein sollte und was ein absoluter Albtraum fürs Marketing war. Na ja, für mich war das ein Augenöffner. Nach dem Motto: „Das ist also die Art, wie solche Dinge passieren. So schnell geht das – und so fatal kann das sein. Ich muss in Zukunft mehr aufpassen, was ich sage.“ Und das tue ich, auch wenn es eine Menge Disziplin erfordert.

Wenn du sagst, dass dein nächstes Signature-Modell eine Rückkehr zu den billigen Pfandhaus-Errungenschaften der frühen 2000er sei, dann gilt das irgendwie auch für dich – du veränderst dich ebenfalls nicht wirklich.

(lacht) Stimmt. Diese Pickups und der glockenartige Sound mit dem kristallinen High-End und dem „low output“ haben auch in meinem Fall mit Nostalgie zu tun. Davon kann ich mich nicht freisprechen. Nur: Ich würde mich nicht persönlich angegriffen fühlen, wenn mir jemand eine spannende Alternative dazu präsentieren würde. Das ist der Unterschied.

Also ist das neue Signature-Modell nicht einfach eine Generalüberholung deiner Music Man oder der günstigeren Sterling?

Nein, es ist eine ganz andere Gitarre, die nichts mit der Music Man oder der Sterling zu tun hat. Und das auf eine positive Weise, denn sie zielt nicht darauf ab, die bisherigen Modelle zu ersetzen. Es ist einfach eine vollkommen eigenständige Sache.

(Bild: Ernie Ball)

Würden Jimi Hendrix und Kurt Cobain – deine Gitarrenhelden – heute noch leben, würden sie die Music Man zumindest einmal ausprobieren?

Das ist ein schöner Gedanke. Und ich würde sagen: warum nicht? Anhand dessen, was ich so über sie gelesen und gehört habe, denke ich, dass sie beide offen genug dafür gewesen wären. Also sie hätten sich bestimmt darauf eingelassen – und sei es nur, weil sie mitbekommen hätten, dass ich ein großer Fan von ihnen bin. Sie hätten sich gesagt: „Das Mädel redet doch so oft und so gut über uns, dass ihre Gitarre gar nicht so verkehrt sein kann.“ (lacht) Und ich rede wirklich viel über sie.

Die Hendrix-Version von ‚All Along The Watchtower‘ war schließlich der Grund, warum ich mich überhaupt erst für Gitarren interessiert habe – weil ich den Song im Film ‚Forrest Gump‘ gehört habe. Damals war ich in der sechsten Klasse und komplett hin und weg. Dann hat mir der Vater eines Freundes seine weiße Stratocaster aus den 60ern gezeigt und mir ein paar Riffs aus dem Song beigebracht. Das war mein Startschuss – und dann wollte ich Kurt Cobain sein, den ich unglaublich toll fand. Ein verdammtes Genie. Ich fand es irre, was für tolle Melodien da in diesem rauen, kantigen Sound versteckt waren. Deshalb habe ich meine Eltern bekniet, mir meine erste E-Gitarre zu kaufen. Der Rest der Geschichte ist hinlänglich bekannt…

Welche Musiker oder Gitarristen bewunderst du heute? Sind darunter auch ein paar Frauen?

Oh, ich könnte sogar nur Frauen nennen. Etwa Taylor Swift, die ich für eine großartige Songwriterin und Performerin halte. Dann Tash Sultana aus Australien, die ein paar wirklich spannende Sachen auf der Gitarre macht und damit richtig durchgestartet ist. Aber auch Noveller – eine Gitarristin aus New York, die zuletzt mit Iggy Pop gearbeitet hat und irre Sounds kreiert. Also: Es gibt gerade ein paar sehr interessante Frauen. Und mir fallen bestimmt noch mehr ein, wenn ich ein bisschen darüber nachdenke.

Obwohl Live-Konzerte auf absehbare Zeit nicht möglich sein werden: Hast du dir schon Gedanken darüber gemacht, wie du die neuen Stück live präsentieren könntest?

Das tue ich immer. 2017, als mein letztes Album erschienen ist, hatte ich z. B. das Gefühl, dass es da eine Art Wettrüsten bezüglich der Bühnenproduktion gab. Was gut zu meiner damaligen Musik gepasst hat, denn die Show musste einfach ein totaler Angriff auf alle Sinne sein. Etwas, das vollständigen Besitz vom Zuschauer ergreift. Aber diese neue Musik ist etwas anderes und bedarf insofern einer anderen Show. Ich denke, dass es etwas Positives, Zuversichtliches wird, weil wir alle heilfroh sein werden, uns wieder an einem Ort zu versammeln und Musik zu hören bzw. zu spielen. Deshalb werden wir auch nicht diesen ganzen Schnickschnack für unsere Show brauchen. Es wird einfach eine Live-Darbietung mit Gesang und Instrumenten. Ich denke, das reicht vollkommen aus – und es passt zu dieser Musik.

(erschienen in Gitarre & Bass 09/2021)

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