Es bedarf eines gewissen Naturells, intensive Faktoren wie Kreativität, Musikalität, Ambitionen und Zeitaufwand auf mehreren Gleisen gleichzeitig unter einen Hut zu bekommen. Sophie Chassée scheint eins dieser multitaskingfähigen Talente zu sein, die eine solche Komplexität quasi mit links erledigen. Denn Sophie spielt nicht nur mehrere Instrumente auf hohem Niveau, sondern überrascht in ihrer Akustikgitarren-Musik mit einer technisch anspruchsvollen Spieltechnik aus Two-Hand Tapping und groovendem Percussion-Einsatz, aber auch ausdrucksstarkem Gesang und starken Songs.
Direkt nach einer Probe mit ihrer Neo-Soul-Band Karanoon, bei der sie E-Gitarre spielt, treffe ich Sophie Chassée, um mich mit ihr über ihr neues Soloalbum zu unterhalten. Oben auf dem Osnabrücker Westerberg sitzen wir auf einer Parkbank und schauen von dort auf das Institut für Musik, wo sie im Juli 2021 ihr Examenskonzert bestritten hat – als Bassistin! Die 24-jährige Musikerin ist ungewöhnlich breit aufgestellt, was ihre musikalischen Aktivitäten angehen, und der vorläufige Höhepunkt ihres musikalischen Schaffens ist ‚Lesson Learned‘, das Album, das im März 2021 bei Acoustic Music Records erschienen ist.
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INTERVIEW
Sophie, was bedeutet dieses neue, vierte Album für dich? Wofür steht es?
Es steht vor allem für meinen Osnabrücker Lebensabschnitt, also die Studienzeit. Denn hier habe ich, wie alle in meinem Alter, durch die vielen Erfahrungen, die in allen Bereichen auf einen einprasseln, einen gewissen Reifeprozess durchlaufen, den man auch in den neuen Songs hört. Nicht umsonst heißt das Album ‚Lesson Learned‘ – das beinhaltet das Auf-die-Fresse-Fallen im privaten Bereich, genauso wie die vielen guten Momente in dieser Zeit.
Wie entsteht ein komplexer Chassée-Song mit all seinen Facetten?
Die Initialzündung zu einem neuen Song kommt oft, wenn ich mir andere Fingerstyle-Gitarrist:innen anhöre. Da kann mich zum Beispiel ein cooles Bass-Riff oder ein bestimmter Rhythmus zu eigenen Ideen inspirieren, und wenn ich dann in diese spezielle Stimmung reinkomme, entwickelt sich schnell der Charakter eines neuen Songs. Und ist der erstmal klar, entsteht der Rest fast von alleine. Wobei … die besten Ideen kommen mir tatsächlich beim Staubsaugen oder Haareföhnen, weil ich voll meditativ auf das White Noise dieser Geräte reagiere, dabei sehr gut entspannen kann und dann offen für kreative Peaks bin. Immer wenn ich merke, dass ich einen kreativen Hänger habe, schiebe ich das Projekt beiseite und staubsauge.
Wenn man sich eine solch komplexe Spieltechnik draufschafft, muss man schon Talent zu einer gewissen Koordination haben. Bei dir scheint es, dass diese Art von Komplexität ein Teil von dir selbst ist.
Ja, das ist wohl so. Mir fällt es jedenfalls relativ leicht, Automatismen für die jeweiligen Songs für die linke und die rechte Hand zu entwickeln, damit ich mich dann voll auf das Gefühl für den Song und den Gesang konzentrieren kann. Aber natürlich muss das auch intensiv geübt werden.
Wann und wie hast du diese Tapping-Technik gelernt? Hast du wie viele andere auch vor Jahren Andy McKee gesehen?
Ja, habe ich – da war ich 11 Jahre alt. Damals sagte mir ein Bekannter, dass ich niemals so werde spielen können – und dem Typ bin ich sehr dankbar, denn sein Kommentar stachelte mich regelrecht an, diese Spieltechnik immer wieder zu versuchen und solange zu üben, bis sie mir in Fleisch und Blut übergegangen ist. Auch von Ben Howard habe ich mir einige Sachen abgeschaut, z. B. wie er die Gitarre auf dem Schoß spielt. YouTube-Tutorials habe ich damals nicht genutzt, weil ich erst ganz spät Smartphone und Computer hatte. Mein Weg zur Musik war eher oldschool – morgens, noch vor der Schule, habe ich mir Songs rausgehört, aber auch z. B. Soli von John Mayer, der auch zu meinen Einflüssen gehört.
GEAR-TALK
Was muss denn eine Akustikgitarre können, damit sie zu dir und deiner Spieltechnik passt? Und was darf sie nicht haben?
Sie sollte keinen großen Korpus haben, aber ein Cutaway. Und auf keinen Fall eine Hochglanz-Lackierung! Denn auf Hochglanz funktionieren die Percussion-Sachen nicht gut. Außerdem sollte sie ein schmales Griffbrett und einen schön dünnen Hals haben, denn ich habe ziemlich kleine Hände.
Braucht die Gitarre eine ausgefuchste Abnahmetechnik á la Jon Gomm?
Jein. Im Moment ist meine Hauptgitarre, eine Lakewood, nur mit dem guten L.R.-Baggs-Anthem-Pickup ausgestattet, der ja auch die Percussion-Elemente überträgt. Manchmal hätte ich aber gerne noch etwas mehr „Boooom“ unten herum. Da werde ich weiter experimentieren, vielleicht mit einem zusätzlichen Mikro in der Gitarre.
Dein Album hast du noch mit einer Ibanez-Gitarre aufgenommen, aber jetzt spielst du Lakewood?
Ja, das war die Ibanez AWFS, eine super Gitarre. Aber dann kam ich in Kontakt mit Lakewood und spiele seitdem eine tolle M-34 mit Padouk-Korpus und Zederndecke. Ich bin nämlich nicht so der Fichte-Typ! Die Lakewood-Jungs waren sogar so nett, mir mein Tattoo in das Griffbrett einzulegen.
(Bild: S. Chassée)
Diese Gitarre klang von Anfang so gut, dass ich zum ersten Mal das Gefühl hatte, dass ein Instrument perfekt zu mir passt – und ich zu ihm.
Brauchen deine Tunings spezielle Saiten und Saitenstärken?
Nein, eigentlich nicht. Ich habe lange einen normalen .012er-Satz Elixir Nano Web gespielt und bin seit kurzem auf .013er umgestiegen. Das wirkt sich vor allem dann positiv aus, wenn ich auf C runter stimme, denn dann sind die Obertöne nicht so fies und der Bassbereich hat mehr Definition.
Thema E-Gitarre … Ich habe dich mit einer mir unbekannten Gitarre gesehen. Was ist das?
Das ist meine Nr. 1 – eine sehr spezielle Gitarre, ein Einzelstück von Franfret Guitars aus Spanien. Eigentlich sollte ich diese Gitarre bei der letzten Holy Grail Guitar Show vorführen, aber die Show ist dem Corona-Virus zum Opfer gefallen. Weil mir die Gitarre extrem gut gefiel, habe ich sie Francisco José Rodríguez Torrón, dem Gitarrenbauer und Firmenchef von Franfret, dann abkaufen können.
Was gefällt dir an ihr so gut?
Einiges! Zum Beispiel der Name – dieses Modell heißt Queen of Hearts. Sie ist ergonomisch speziell für Frauen konzipiert, ist zudem schön leicht und hat eine ganz besondere Ästhetik – auch klanglich –, die mir sehr gut gefällt.
(Bild: Fanfret Guitars)
Meine anderen E-Gitarren sind eine hellblaue Fender Strat mit EMGs und die Fender Thinline Tele, beides Mexiko-Gitarren, und ich habe auch mit ihnen viel Spaß. Das Einzige, was mir noch fehlt, ist eine Gibson 335 …
… deren Konzeption aber nicht gerade frauenfreundlich ist!
Das stimmt (lacht), aber es gibt ja auch noch die 339 … Mein Amp ist übrigens ein Peavey Classic Tweed 30. Ich habe ihn mit den angesagten Fender Amps wie Deluxe Reverb, Twin Reverb etc. verglichen, und er hat mir tatsächlich besser gefallen.
Du machst auch E-Bass-Videos für den YouTube-Kanal von Harley Benton. Spielst du privat auch einen Harley-Benton-Bass?
Ja sicher! Der Harley Benton Enhanced MP-4MN ist sogar mein heimlicher Liebling, denn er ist richtig gut und hat dank der aktiven Klangregelung auch richtig viel Punch. Im Prinzip bin ich ein Fender-Player. Mein eigentlicher Hauptbass ist ein roter 60s Road Worn Jazz Bass.
Dann habe ich noch einen hellblauen Precision, einen aktiven 5-String Jazz Bass aus den Neunzigern und einen Squier 70s Jazz Bass.
Du spielst fast ausschließlich in offenen Stimmungen. Wann weißt du, welches Tuning ein neuer Song bekommt?
Das ist eine sehr gute Frage! Ich schaue in der Regel erstmal, wie der Bass aussehen könnte. Ob z. B. der Grundton auf einer leeren Saite liegen muss, und/oder ob ich die Quinte dazu auch leer brauche. Dann stimme ich mir den Grund-Akkord des Songs intuitiv zurecht und schaue, wie die verschiedenen Griffmuster damit funktionieren. Gibt es da Probleme, verändere ich das Tuning so lange, bis es auch für die Greifhand Sinn macht.
Wie kann man sich das merken? Denn in jedem Tuning sind die Griffe ja dann andere.
Das stimmt, aber ich habe mittlerweile eine Art Struktur entwickelt, die ich bei vielen meiner Songs nutze. Ich spiele oft eine Art Basis-Stimmung der drei Bass-Saiten, bei der die tonalen Abständen zueinander gleich sind – meist ein Moll- oder Major9-Muster. Die verschiedenen Stimmungen entstehen dann durch Variationen auf der G- und H-Saite. Diese Struktur ist wie ein eigener Tunnel, in dem nur ich mich auskenne. Bisher arbeite ich mit etwa 25 verschiedenen Stimmungen. Und ich habe mir genau aufgeschrieben, welche Songs in welchem Tuning gespielt werden.
Warum studierst du eigentlich Bass, und nicht Gitarre?
Ich habe in Osnabrück zuerst E-Gitarre studiert, aber schnell gemerkt, dass ich Gitarre in einem akademischen Rahmen nicht so lernen kann, wie ich das will. Fingerstyle unterrichtet sowieso kein Dozent, und außerdem wollte ich keine Prüfung im Fach Gitarre machen, weil ich gemerkt habe, dass mir das die Lust am Gitarrenspiel nehmen würde. Anfangs hatte ich Bass als Nebenfach gewählt und konnte dann innerhalb des Studiums Haupt- und Nebenfach tauschen und Bass eben als Hauptfach studieren. Das war eine gute Entscheidung.
Kann man sagen: Bass ist dein Beruf, Gitarre deine Berufung?
Ja, das trifft es wohl, denn ich habe tatsächlich viele Anfragen bekommen, um Bass zu spielen. Zum Beispiel bin ich die Bassistin in der Band von Alli Neumann. Wobei ich aber auf einem sehr guten Weg bin, auch die Gitarre zu meinem Beruf zu machen.