Nach einer aufsehenerregenden Kooperation mit Iron-Maiden-Leadgitarrist Adrian Smith vor vier Jahren und der Veröffentlichung des dritten Studioalbums seiner Allstar-Band The Winery Dogs (feat. Bassist Billy Sheehan und Schlagzeuger Mike Portnoy) im Februar 2023 präsentiert Richie Kotzen sein neuestes Solowerk. Die Scheibe hört auf den Namen ‚Nomad‘ und zeigt den amerikanischen Ausnahmemusiker als stilistischen Grenzgänger zwischen Rock, Jazz, Rhythm‘n‘Blues, Fusion und Funk. Diese Mischung entspräche zu 100 Prozent seiner künstlerischen DNA, behauptet der 54-Jährige, der sich auch beim Equipment als überzeugter Traditionalist erweist. Aber lest selbst!
Interview
Hallo Richie, du siehst erstaunlich gut erholt aus!
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Danke! Ich bin froh, nach der langen Tour im Sommer endlich ein paar Tage zuhause verbringen und mich regenerieren zu können. In Kürze startet allerdings schon wieder die nächste Etappe mit weiteren 18 Shows. Man hat fast das Gefühl, dass es niemals endet.
Du trägst seit einiger Zeit die Haare sehr kurz. Ich finde, es steht dir ausgesprochen gut und macht dich deutlich jünger.
Jünger, aber auch etwas infantiler? Oder jünger und gleichzeitig weiser? (lacht) Es war an der Zeit, die Mähne mal etwas stutzen zu lassen. Mein Friseur freut sich natürlich, denn jetzt muss ich regelmäßig bei ihm auflaufen, um den Schnitt in Fasson zu halten.
Sprechen wir über dein neues Soloalbum ‚Nomad‘, das erstaunlich viele verschiedene Musikstile umfasst, von Rock und Rhythm‘n‘Blues über Funk bis zu Jazz, ein wirklich bunter Mix. Die Songs für deine Band Winery Dogs sind da deutlich engmaschiger.
Ich halte es immer so: Wenn ich eine Nummer komplett und allein schreibe, von Anfang bis Ende, dann wird sie Bestandteil eines meiner Soloalben. Wenn ich nur Fragmente anliefere und sie beispielsweise mit Billy (Sheehan, Anm. d. Verf.) oder Mike (Portnoy) bespreche, wird es ein Song für die Band. Es gibt zwar auch Ausnahmen wie ‚Damaged‘, ‚Mad World‘ oder ‚The Bridge‘, aber generell bin ich der Meinung, dass meine Kollegen daran beteiligt sein sollten, wenn es eine Bandnummer werden soll. Oft stammt bei The Winery Dogs die Idee ja auch von Billy und ich steige mit der Gitarre darauf ein. Bevor ich mit ihm und Mike gemeinsame Sache gemacht habe, existierten die Winery Dogs ja noch nicht wirklich, sonst wären Stücke wie ‚Regret‘ oder ‚I‘m No Angel‘ möglicherweise auf einer meiner Soloscheiben gelandet.
Ich hörte, dass du auf ‚Nomad‘ – mit zwei kleinen Ausnahmen – sämtliche Instrumente selbst gespielt hast.
Das stimmt, nur im Titelsong hat Dan Potruch getrommelt, und in ‚These Doors‘ ist Kyle Hughes am Schlagzeug zu hören.
Das bedeutet, in ‚These Doors‘ stammt auch die Billy-Sheehantypische Basslinie von dir? Und wurde auch von dir persönlich eingespielt?
(lacht) Ja, das bin ich, den du da hörst. Der Song hat zwei treibende Kräfte, nämlich die Bass-Figur und den Clavinet-Part, die ich so gegeneinander gemischt habe, dass der Bass im Vordergrund steht.
Aber inspiriert wurde der Song von Sheehan, oder?
Ich hatte ehrlich gesagt keinen konkreten Bassisten im Hinterkopf, sondern nur eine Nummer mit einem simplen Aufbau, in dem einige unerwartete Wechsel zu hören sein sollen. Ich bin sehr stolz darauf und wirklich sehr glücklich mit dieser Nummer.
Wie bringt man als Komponist Rock, Jazz, Funk und Blues unter einen Hut?
Für mich gibt es da keine so großen Unterschiede wie für den Zuhörer. Ich erlebe die Songs sowieso ganz anders als mein Publikum, ich habe immer nur ein Ziel: Das, was sich in meinem Kopf abspielt, soll später so exakt wie möglich aus den Lautsprecherboxen kommen. Es gibt da keine Geheimnisse, es existiert auch niemals die Frage nach einem bestimmten Stil. Für mich beantwortet der Song sämtliche Fragen von ganz allein. Meine Alben sind immer ein Produkt dessen, womit ich aufgewachsen bin.
In meiner Jugend habe ich sehr viel Led Zeppelin gehört, und auch bei denen kam nicht alles aus dem gleichen Kochtopf. Es gab ‚Black Dog‘, es gab die Akustiksongs, und es gab funky Anteile. Mir gefällt nicht, was dann in den Achtzigern passiert ist, denn die Achtziger haben die Rocksongs getötet. Alles klang gleich, alles wurde über einen Kamm geschoren. Hör dir dagegen Led Zeppelin, Prince oder David Bowie an, in ihren Songs existiert Tiefe.
Diese Musik wurde von Menschen produziert, und Menschen sind nun einmal grundverschieden und geben auch nicht immer die gleichen Antworten. Mal basieren meine Songs nur auf Gitarre und Drums, ein anderes Mal vielleicht auf Gitarre und Geige.
Hast du ‚Nomad‘ eigentlich selbst engineered?
Ja, anders ist so etwas finanziell nicht machbar. Natürlich, wenn gerade jemand bei mir zu Besuch war, der mir helfen konnte, habe ich schnell etwas aufgenommen. Aber einen vollbezahlten Toningenieur könnte ich mir nicht leisten. Deswegen gibt es ja das Studio in meinem Haus, da es viel zu teuer wäre, ein reguläres Studio anzumieten. Außerdem habe ich hier bei mir zuhause alle Freiheiten, immer dann aufzunehmen, wenn ich gerade Lust dazu habe. Ich nehme auf, wann immer ich die Muße dazu finde.
Zum Glück konnte ich mir bei früheren Produktionen eine Menge von erfahrenen Toningenieuren abschauen und sie fragen: „Weshalb positionierst du die Mikrofone in dieser Anordnung? Weshalb nimmst du diese Gitarre? Was genau macht dieser Effekt?“ Vor 20 Jahren hatte ich ja sogar noch eine richtige 2“-Bandmaschine, die ich irgendwann aber verkauft habe, weil ich sie jetzt nicht mehr benötige. Allerdings habe ich ‚Nomad‘ nicht selbst gemischt, da es in der betreffenden Zeit Probleme mit meinem Gehör gab. Ich hatte ein permanentes Klingeln im Ohr, deshalb habe ich jemand anderen gebeten, das Album zu mischen.
Mit welchen Gitarren hast du ‚Nomad‘ eingespielt?
Zum einen war es meine Haupt-Telecaster, die ich auch fast immer auf der Bühne spiele. Hinzu kamen meine Fender-Signature-Stratocaster, eine Yamaha-Hollowbody mit Vibrato für den typischen Gretsch-Sound sowie meine Taylor-Akustikgitarre. Die Yamaha-Hollowbody kann man vor allem im Titelsong ‚Nomad‘ hören. Der Bass, den ich im Studio gespielt habe, war ein Fender Jazzbass, als Gitarrenverstärker ist ein alter 1959er Marshall mit 100 Watt zum Einsatz gekommen, mit dem ich direkt verkabelt war. Dann und wann habe ich auch auf mein Tech 21 SansAmp RK5 Fly Rig zurückgegriffen.
Bild: Matthias Mineur
Fender Richie Kotzen Telecaster, Baujahr 1996
Bild: Matthias Mineur
Kotzens Taylor-Akustikgitarre
Plug-ins kamen also nicht zum Einsatz?
Nein, mit Plug-ins kann ich mich nicht anfreunden. Ich habe im Grunde genommen mit dem gleichen Equipment gespielt, das auch meine Frau Julia für ihre Musik benutzt. Ich finde Plug-ins klingen in ihren Grundsounds, vor allem im Bassbereich, irgendwie sonderbar, sehr unnatürlich, nicht wie von Menschenhand gespielt. Es bleibt ein riesengroßer Unterschied, ob man ein Mikrofon vor eine Lautsprecherbox mit angeschlossenem Röhrenamp stellt oder einfach mit dem Kabel in ein Plug-in geht.
Ich verstehe, dass viele Musiker die bequeme Bedienbarkeit von Plug-ins schätzen, aber für mich gilt: Wenn ich Gitarre spiele, soll der menschliche Faktor immer zu hören sein. Okay, wenn man es eilig hat und keine Zeit für ein sorgfältiges Mikrofonieren, dann mögen Plug-ins ihre Vorteile haben. Aber es ist nach wie vor empfehlenswert, sich bei Produktionen ausreichend Zeit zu nehmen und alles in möglichst natürlicher Weise aufzunehmen.
Ich hörte, dass du seit einiger Zeit im Studio auch wieder mit Plektrum spielst.
Ja, das stimmt. Ich hatte mich vor 15 Jahren eigentlich entschieden, nur noch mit den Fingern zu spielen. Es war in Südamerika, ich hatte zwei Shows an zwei direkt aufeinanderfolgenden Abenden. Am ersten Abend spielte ich mit, am zweiten ohne Plektrum. Ich war verblüfft, wie sehr sich bei mir durch den reinen Einsatz der Finger sofort das Interesse an Gitarren wieder verstärkte. Seither habe ich auf ein Plektrum in meinen Shows weitestgehend verzichtet.
Im Studio ist es etwas anderes, da würde ich die Gewichtung zwischen Plektrum und Fingern auf 50/50 tippen. Bei Studioaufnahmen ist der Unterschied zwischen Plektrum- und Fingerspiel eh nicht allzu groß, in meinen Konzerten dagegen gibt es viele Jam-Parts, viele spontane Improvisationen, und hierfür bietet das Spiel mit Fingern einfach deutlich mehr Freiheiten. Im Studio mag ich den Zugewinn an klanglichen Optionen, wenn man zwischen Plektrum und Finger variiert. Den Song ‚Cheap Shots‘ habe ich beispielsweise mit Plektrum eingespielt, werde ihn auf der Bühne aber mit Fingern spielen, zumal hier der Unterschied sowieso nicht allzu groß wäre.
Und wie hältst du es beim Bass?
Bass spiele ich ausschließlich mit Fingern! Alle meine Vorbilder am Bass haben mit Fingern gespielt, weil es einfach viel mehr Sinn ergibt.
Sind dies Erfahrungswerte, die du auch bei der Produktion zu ‚Nomad‘ sammeln konntest?
Ja, aber vor allem habe ich durch ‚Nomad‘ einen kräftigen Schub an Selbstvertrauen bekommen. Ich bin sehr stolz darauf, dass ich in der Lage war, mit nur wenigen Songs ein wirklich starkes musikalisches Statement abzugeben. Auf ‚Nomad‘ gibt es lediglich acht Stücke, aber so ähnlich waren Schallplatten ja auch in meiner Jugend aufgebaut. Auf früheren Alben gab es deutlich weniger Songs als heute, aber jeder von ihnen hatte eine besondere Bedeutung. Jedes einzelne Stück auf ‚Nomad‘ repräsentiert zu 100% mich und meine künstlerischen Visionen. Das Album ist wie eine Art Reise, unterteilt in zwei Abschnitte, sozusagen in Seite A und Seite B.
Wie wichtig ist Selbstvertrauen für einen grandiosen Musiker wie dich überhaupt? Du müsstest vor Selbstbewusstsein doch geradezu strotzen!
Selbstvertrauen ist in der Musik das Allerwichtigste. Als junger Künstler hat man ständig den Drang, sich beweisen zu wollen. Dadurch neigt man dazu, Dinge zu übertreiben und übers Ziel hinauszuschießen. Mit zunehmendem Alter wird man gleichzeitig auch gelassener. Auf meinem 2020er Album ‚50 For 50‘ wusste ich noch nicht so genau, wer ich bin, ich war noch auf der Suche nach meiner wahren Identität. Das hat sich mit ‚Nomad‘ grundlegend geändert. Das neue Album definiert mich unmissverständlich als Studiomusiker und Komponisten.
Letzte Frage: Was ist eigentlich aus deiner Kooperation mit Adrian Smith von Iron Maiden geworden? Ihr habt doch glänzende Kritiken für euer erstes gemeinsames Album bekommen.
Ja, und darüber haben wir uns natürlich sehr gefreut, sodass derzeit die Idee im Raum steht, eine weitere gemeinsame Scheibe aufzunehmen. Die Resonanzen waren wirklich sehr ermutigend, vor allem nach den Shows in Kalifornien und England. Die Zusammenarbeit mit Adrian hat riesigen Spaß gemacht, obwohl sie in einer generell schwierigen Zeit stattgefunden hat. Denn wir kamen aus der Pandemie, alles war unglaublich mühsam, das meiste lief nur sehr schleppend. Trotzdem haben wir es geschafft, zehn oder elf Shows zu spielen. Deshalb ist die Hoffnung groß, dass es uns auch gelingt, ein zweites Album an den Start zu bringen.