Wir sprachen mit den Gitarristen

Post-Prog-Metal: Leprous im Interview

Anzeige
(Bild: Troll Toftenes)

Nachdem die Norweger 2017 mit ‚Malina‘ in der ersten Riege des Prog-Metals an kamen, war ‚Pitfalls‘ 2019 von ausufernden Arrangements, viel Pop-Appeal und vor allem wenigen verzerrten Gitarren geprägt. Mit ‚Aphelion‘ meldet sich das Quintett trotz (oder gerade wegen) ihrer abgesagten Tourneen eindrucksvoll mit ihrem bisher wohl abwechslungsreichsten Album zurück:

Feurige Gitarren-Eskapaden treffen auf schwebende Klavierballaden, moderne Rockmusik auf warme Vintage-Sounds. Wir sprachen mit den beiden gut gelaunten Gitarristen Tor Oddmund Suhrke und Robin Ognedal über eine unverhoffte Album-Entstehung, Song writing-Livestreams mit den Fans und AC/DC-Jams um neun Uhr morgens.

Anzeige

INTERVIEW

Robin und Tor, die Produktion von ‚Aphelion‘ wurde stark von der Pandemie beeinflusst. Wie lief der Entstehungsprozess des Albums ab?

Tor: Es waren natürlich dieses Mal ganz andere Umstände. Der Hauptunterschied liegt darin, wie groß die Zeitspanne war, in der die Songs aufgenommen wurden – und dazu noch an mehreren verschiedenen Orten. Es kamen diverse Amps zum Einsatz und Zeug, das wir im jeweiligen Studio gefunden haben. Daher haben viele Songs einen sehr eigenen, individuellen Sound. Der Prozess des Songwritings war auch anders: Wir hatten während der Aufnahme von ‚Pitfalls‘ vier Songs hintenangestellt, da wir vorhatten, nach dem Album eine EP zu veröffentlichen. Es war sogar der erste Tag des Lockdowns in Norwegen, der 12. März 2020. Robin und ich hatten Tickets, um nach Stockholm zu fliegen und diese vier Songs fertigzustellen.

Robin: Eigentlich war es rückblickend nur ein Song, den wir dort fertigstellen wollten – die anderen Songs wurden während der Pandemie fast vollständig neu gemacht. Wir haben eigentlich nur die Drum-Tracks benutzt und darauf basierend neue Songs geschrieben. Bei ‚Pitfalls‘ haben wir, wie sonst auch, mehr Songs aufgenommen, als wir brauchen. Dann wurde auf einmal alles abgesagt, und weil wir nichts anderes zu tun hatten, haben wir aus den Drum-Parts dieser Tracks neue Songs gemacht. Manche Teile sind aber natürlich auch gleichgeblieben.

Tor: Genau, ein Song war fast fertig: ‚Silhouette‘. ‚On Hold‘ eigentlich auch, aber wir haben dann entschieden, den Refrain neu zu arrangieren. Bei den anderen beiden Songs haben wir noch mehr gemacht: Wir mochten die Drums von ‚The Shadow Side‘, der andere hat uns aber Probleme gemacht. Ich habe versucht, etwas auf dem Schlagzeug zu arrangieren, das aber nicht so richtig passte – und schlussendlich zu ‚Castaway Angels‘ wurde. Den haben wir dann auch noch richtig aufgenommen. Und weil wir recht schnell damit fertig waren und noch einen Studiotag übrig hatten, haben wir dort noch ‚All The Moments‘ geschrieben und den Großteil aufgenommen. Und auf einmal hatten wir sechs Songs! Das war der Moment, an dem wir entschieden haben: Lass uns noch drei bis fünf Songs schreiben und ein Album statt einer EP machen.

Was lief beim Aufnahmeprozess anders ab als sonst?

Robin: Normalerweise starten wir immer mit den Drums, gehen weiter zum Bass und so weiter – wir bauen die verschiedenen Schichten auf. Auf vielen Songs dieses Albums haben wir aber zumindest die Hauptstruktur gemeinsam als Band im gleichen Raum aufgenommen. Sonst gehen wir ins Studio, wenn die Songs größtenteils fertig sind. Wir fügen nur noch ein paar Details hinzu. Eigentlich haben wir schon sehr detaillierte Demos, bevor wir ins Studio gehen. Dieses Mal bestanden die Demos aber aus Midi-Drums, ein paar Akkorden und vielleicht einer Gesangsmelodie – alles noch sehr unausgereift. Dann haben wir alles im Aufnahmeraum aufgebaut und konnten einfach auch mal Dinge ausprobieren. Es war eine ganz andere Dynamik, ein ganz eigener Flow.

Tor: Der erste Song, den wir so geschrieben und aufgenommen haben, war ‚Running Low‘. Während wir im Aufnahmeraum saßen, haben wir die Arrangements ausgearbeitet. Für mich war es das erste Mal, dass ich meinen Gitarrenpart live mit den Drums eingespielt habe, was eine tolle Erfahrung war. Das führt auch dazu, dass die Songs als Gitarrist viel natürlicher zu spielen sind, als an ein paar Midi-Riffs zu sitzen und zu versuchen, daraus einen Gitarrenpart zu erarbeiten. Und ein Jahr später sollst du das dann auf der Bühne spielen.

Robin: Dadurch, dass es so ein langer Prozess war, habe ich manchmal auch einfach zu Hause aufgenommen und das DI-Signal David (Castillo, Recording-Engineer, Anm. d. Aut.) geschickt. Er hat es dann gereampt und mir in einem Zoom-Meeting seinen Audio Output gestreamt. Wir haben also zusammengearbeitet, aber von unterschiedlichen Ländern aus. Und ich konnte trotzdem sagen: “Ein bisschen weniger Mitten.”

Ein Teil der Entstehung des Albums habt ihr auch für eure Fans gestreamt.

Robin: Genau! ‚Nighttime Disguise‘ haben wir mit den Fans geschrieben und live eingespielt. Manchmal haben wir noch etwas ausgetauscht oder neu aufgenommen.

Tor: Es gab dabei auch viel weniger Reamping aufgrund dessen, dass du mit dem Ocean Sound in Norwegen halt wirklich in einem tollen Studio bist und unfassbare Gitarrensounds hast. Robin und ich haben drei oder vier Nächte lang fast die ganze Nacht nur an Details gearbeitet, das war toll. Dabei haben Menschen aus unterschiedlichen Zeitzonen zugeguckt, teilweise die ganze Nacht – auch, wenn es in einem AC/DC-Jam um neun Uhr morgens geendet hat. (lacht)

Songwriting im Ocean Sound Studio (Bild: Tor Oddmund Suhrke / Bjorn Tore Moen / Tobias Aasgarden)

Robin: Das war toll!

Tor: Etwas, wovon ich auch immer nur gehört hatte und nie dachte, dass ich es selbst mal mache: Einfach ins Studio gehen, ohne irgendeinen Plan zu haben. Damit hake ich auf jeden Fall etwas von meiner Bucketlist ab.

Robin: So war das auch schon bei ‚All The Moments‘, nur dass das noch weniger geplant war. Wir haben ‚Castaway Angels‘ schneller aufgenommen, als wir dachten, und haben einfach die Nacht durchgejammt. Was sonst soll man in einem der besten Studios der Welt machen? Am Ende kam ein Song dabei heraus, was wir so vorher noch nie gemacht haben. Zumindest für mich war das schon ein Selbstvertrauens-Boost vor der ganzen Streaming-Sache. Zu wissen: Wir können es wirklich. So haben wir nämlich vorher nie Songwriting betrieben.

Tor: Ich glaube aber, wir können beide sagen, dass wir vor dem Stream schon etwas nervös waren. (lacht)

Robin: Ein bisschen, auf jeden Fall!

Tor und Robin beim Songwriting-Livestream
Liverecording-Setup mit Fender Bassman, Marshall-Box, HiWatt Custom 50 und HiWatt-Box

Wie viele andere Bands, musstet auch ihr eure Tour absagen. War der Livestream auch eine Verbindung zu den Fans, die euch sonst gefehlt hätte?

Robin: Auf jeden Fall die Konzerte, die wir als Livestream gespielt haben. Aber die Hälfte des Spaßes vom Livespielen ist ja die Interaktion mit den Menschen, die vor dir stehen – ihre Energie zu spüren. Unser Produktions-Livestream war eher eine Erinnerung, dass wir immer noch eine Band sind, wir immer noch Fans haben, es immer noch etwas für uns gibt nach der ganzen Pandemie. Ich bin wirklich sehr dankbar für diese Woche. Es klingt wie ein Klischee, aber: Es war großartig zu sehen, dass die Fans uns treu sind. Sie waren unglaublich unterstützend. Auch beim Stream: Wir hatten immer einen Zoom-Chat offen und haben mit Zuschauern kommuniziert.

Tor: Wir waren mit ihnen in gewisser Weise sogar viel näher als sonst. Normalerweise trinke ich meinen morgendlichen Kaffee nicht mit den Fans, jetzt war das meine tägliche Routine. Vielleicht war es bei den Streaming-Shows sogar ähnlich: Da gab es nicht so viel Interaktion, wir hatten aber einen Zoom-Stream, in dem man sich Songwünsche kaufen und abstimmen konnte, welche Songs wir spielen. Insgesamt also fast mehr Interaktion als sonst! (lacht) Ich freue mich so sehr darauf, wieder unterwegs zu sein und ‚Nighttime Disguise‘, also den Livestream-Song, zu spielen und zu fühlen, dass vielleicht irgendjemand im Publikum wirklich Teil von dessen Entstehungsprozess war. Und jetzt kennen sie auch alle unsere kleinen Macken.

Robin: Sie wissen, dass ich mit euch kämpfen wollte, als ihr das Tempo gesteigert habt. Das Riff war einfach so schwierig. (lacht)

Tor: Als wir bei so etwas nicht einer Meinung waren, haben wir einfach eine Abstimmung in der Zoom-Sitzung gestartet. Ich benutze bei dem Song außerdem eine Sechssaiter, Achtsaiter und Akustik-Gitarre, denn jedes Mal, wenn wir gefragt haben, welche Gitarre die Fans wollen, haben sie nur „alle drei“ angekreuzt.

Robin: Es ist wirklich ein „mehr ist mehr“-Song.

Tor: Drei verschiedene Tonarten, drei verschiedene Modulationen zwischen jedem Refrain und so weiter. Er macht sehr viel Spaß.

Robin, du spielst eine Fender Stratocaster und Fender-Amps. Ist das nicht relativ ungewöhnlich mit einem Metal-Hintergrund?

Robin: Früher habe ich Ibanez-Gitarren und einen Peavey 5150 gespielt. Ich mochte einfach Hair Metal und liebte es, zu shredden. Gitarre zu spielen hieß für mich, Soli zu spielen. Als ich etwas älter wurde, habe ich angefangen, Fender und Vintage-Gear zu mögen – lange bevor ich bei Leprous einstieg. Ich habe sie aber auch in Metalbands benutzt. Es ist nicht gerade gewöhnlich, dort eine Strat zu spielen. Leprous ist nicht mehr so Metal, ich habe aber auch in einer Black-Metal-Band gespielt, dem Soloprojekt vom Sänger von Emperor. Wirklich harte Musik.

Fender 70s Silverface Bandmaster, den Robin auf ‚Nighttime Disguise‘ spielt
HiWatt Custom 50, den Tor auf ‚Nighttime Disguise‘ spielt

Als ich zur ersten Probe mit meiner Strat kam, war ich tatsächlich etwas nervös. Ich hatte alle meine Ibanez-Gitarren verkauft! Ich finde irgendwie, der Vintage-Kram lebt ein bisschen mehr. Er hat eine größere dynamische Palette als das moderne Gear.

Welche Gitarren spielst du, Tor?

Tor: Ich hatte nie viele Vintage-Gitarren. Ich mochte Gibson, hatte aber nur eine Epiphone. Meine Traum-Gitarre war die Gibson Les Paul Gothic. Als ich mich dann eher High-End-Gitarren zuwandte, fing ich an, PRS zu spielen. Die benutzte ich für mehrere Jahre und die ersten Leprous-Recordings. Dann brauchte ich eine Achtsaiter. Ich hatte eine Ibanez, die ich aber nicht so mochte und fand dann eine niederländische Firma names Aristides. Eigentlich das genaue Gegenteil von Vintage-Gitarren, weil sie ihre Instrumente nicht aus Holz, sondern aus einem eigenen Material machen: Arium. Damit bekommt die Gitarre ein optimales Sustain und viel Resonanz. Die Achtsaiter, die ich von ihnen bekommen habe, war so viel besser als jede andere Achtsaiter, die ich bisher gespielt habe. Du kannst bei Akkorden auch die dicken Saiten unglaublich klar hören.

Aristides 020 und 080 von Tor (Bild: Tor Oddmund Suhrke / Bjorn Tore Moen / Tobias Aasgarden)

Als ich dann damit Songs von unserem Album ‚The Congregation‘ spielte, ist mir aufgefallen, dass ich manche Parts die ganze Zeit falsch gespielt habe! Ich hatte es einfach nie richtig gehört. Ich habe außerdem von meiner PRS auf die Aristides Sechssaiter, die 020, gewechselt. Sie fühlen sich fast gleich an und klingen auch ähnlich. Damit habe ich das Gefühl, den perfekten Mittelweg zwischen neu und Vintage gefunden zu haben: Einen modernen Sound, aber trotzdem so viel vom Strat-Sound wie möglich, durch Coil-Splitting an den Humbuckern. Meine nächste Gitarre wird die Telecaster von Aristides sein, die T/O. Mittlerweile benutze ich eh nur noch Singlecoils.

Es gibt so viele wunderbare Gitarrensounds auf eurem Album. Welches Setup habt ihr etwa beim funky Singlenote-Intro von ‚The Silent Revelation‘ gespielt?

Robin: Das ist meine Fender Custom Shop Stratocaster mit einem Marshall JCM800.

Robin mit seiner Fender Stratocaster (Bild: Tor Oddmund Suhrke / Bjorn Tore Moen / Tobias Aasgarden)

Tor: Ich habe meine Aristides 020 in meinen Diezel VH4 gespielt. Da war ich sehr zwischen dem Neck- und Bridge-Pickup hin- und hergerissen – ich wollte die Gitarre auch etwas wie eine Strat klingen lassen.

Habt ihr auch wieder unterschiedliche Tunings benutzt?

Tor: So viele! Fast auf jedem Song ein anderes

Robin: Meistens ist es die tiefe E-Saite, die wir herunterstimmen um an eine tiefe Note zu kommen. Ich will dieses tiefe C, verstehst du? Also droppe ich auf C runter. Und finde dann heraus, wie ich den Rest irgendwie spielen kann.

Nach meinem Empfinden setzt ‚Aphelion‘ ähnlich wie ‚Pitfalls‘ die Gitarren oft eher als Teil des Ganzen ein, anstatt den Fokus primär darauf zu legen. Wie habt ihr eure Rolle als Gitarristen während der Albumproduktion gesehen?

Robin: Ich glaube, ich würde dir zustimmen. Es ist keine ‚Wall of Guitars‘. Es ist aber trotzdem ein bisschen Riff-basierter als ‚Pitfalls‘. Da haben wir sehr viel gelayert und die Gitarren eher als Würze oben drauf gelegt. Jetzt sind die Songs in einem höheren Maße auch auf der Gitarre geschrieben. Die Gitarre wurde im Songwriting-Prozess viel früher eingeführt. Ich glaube auch einfach nicht, dass viele unserer Bandmitglieder immer noch viel Metal mit dicken Gitarren hören. Um für mich zu sprechen: Ich höre viel elektronische Musik, Hip Hop und alle verschiedenen Genres.

Wenn mir jemand vor zehn Jahren gesagt hätte, ich solle die Gitarren auf ‚Pitfalls‘ spielen, hätte ich ein großes Problem mit meinem Ego gehabt. Damals wollte ich die ganze Zeit gehört werden. Auf unseren letzten beiden Alben lag unser Fokus aber eher darauf, mehr dem Song als unseren Egos zu dienen. Anstatt darüber nachzudenken, wie ich am meisten Gitarre in diesen Song pressen kann, ziehe ich es jetzt eher vor, zu überlegen: Was braucht dieser Part? Wie mache ich ihn interessanter? Und sehr oft ist das einfach keine riesige Gitarrenwand.

Tor: Es geht wirklich darum, als Band zu reifen. Von ganz früher, als man noch dachte, viele Gitarren, einen Metal Zone voll aufgedreht und ganz viel Distortion haben zu müssen …

Robin: Ich hatte nie einen Metal Zone!

Tor: Ich aber! (lacht) Auf ‚Malina‘ war der Sound so etwas wie Anti-Distortion. Nun denke ich, dass es sich etwas ausgeglichen hat. Nachdem Robin zur Band gekommen ist (2017, Anm. d. Aut.), habe ich viel mehr über Gitarrensounds und meine Rolle als Gitarrist gelernt. Ich entwickle mich die ganze Zeit weiter und will herausfinden, welcher Gitarrensound auf den jeweiligen Song passt.

Tor mit Kemper Stage, Strymon Big Sky, EHX POG und Fulltone Fulldrive

Daher haben wir dieses Mal auch mehrere verschiedene Amps und Effekte benutzt. Nicht nur, weil wir in drei verschiedenen Studios aufgenommen haben: Die Gitarren haben unterschiedliche Rollen. Es geht einfach darum, sich klar zu machen, dass manche Songs auch mal ohne Gitarre besser sind. Was natürlich eine schwierige Sache für viele Gitarristen ist!


EQUIPMENT

TORS GITARREN:

    • Aristides 020
    • Aristides 080
    • Babicz Identity
    • Martin

ROBINS GITARREN:

    • Fender Custom Shop 20th Anniversary Relic Stratocaster
    • Fender American Deluxe Stratocaster
    • Fender American Deluxe Telecaster

AMPS:

    • Fender 70s Silverface Bandmaster
    • Hiwatt Custom 50
    • Marshall JCM 800
    • Kemper Profiler Stage
    • Fender Bassman
    • Diezel VH4

PEDALS:

    • Fulltone OCD
    • Strymon Big Sky
    • EHX Small Stone Whammy 1975
    • T-Rex Möller Overdrive EHX Soul Food
    • Fulltone Tube Tape Echo
    • EHX Holy Grail
    • Xotic BB Preamp
    • Mad Professor Sweet Honey Overdrive

(erschienen in Gitarre & Bass 10/2021)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.