„Ich halte Amp-Modeling für so weit ausgereift, dass es den althergebrachten Amp-BoxenKombinationen ebenbürtig ist …“
Multimedia-Konzeptwerk: TesseracT im Interview
von Andreas Schiffmann, Artikel aus dem Archiv
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(Bild: Andy Ford)
Als führende Vertreter des modernen Progressive Metal haben TesseracT mit ihrem jüngsten Studioalbum ‚War Of Being‘ Maßstäbe in mehrfacher Hinsicht gesetzt: Das Konzeptwerk wird von einem aufwändigen KI-generierten Artwork, epischen Animationsvideos und einem Computerspiel flankiert, die den seit je bestehenden multimedialen Anspruch des britischen Quintetts unterstreichen.
Während Bassist Amos Williams die zugrundeliegende Geschichte schrieb, die Sänger Daniel Tompkins wiederum mit filmreifer Emotionalität anreicherte, sorgen die Gitarristen Acle Kahney und James Monteith gemeinsam mit Drummer Jay Postones für die metallische Erdung. Kurz vor Beginn ihrer Europatour sprechen wir mit den beiden über kreative Abläufe innerhalb der Band, die Überlegenheit digitaler Klangemulation und vieles mehr.
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INTERVIEW
Mit welchen Erwartungen begegnet ihr den anstehenden Konzerten? Die Resonanzen auf ‚War Of Being‘ waren überschwänglich, fühlt man sich da unter Druck gesetzt?
Acle: Es hält sich im Rahmen. Wir haben schon auf unserer letzten Amerikatour bemerkt, dass die Shows besser als zuvor besucht waren und konnten auch eine größere Produktion auffahren – was diesmal allerdings nicht möglich ist, weil wir unseren Anhänger laut europäischen Richtlinien überladen würden. Davon abgesehen sind schon einige Shows ausverkauft, und für manche gibt es nicht mehr viele Karten. Die Aufmerksamkeit, die der Band entgegengebracht wird, ist im Lauf der Jahre langsam größer geworden, so wie wir uns auf natürliche Weise weiterentwickelt haben. Es ist also nicht so, dass da jetzt plötzlich übermäßiger Druck bestünde.
In jedem Fall war es ein weiter Weg. Wie seid ihr zwei zur Musik gekommen und schließlich Gitarristen geworden?
Acle: Ich war zu Hause schon früh von Rockmusik und Gitarren umgeben, mein Stiefvater hörte Bands wie Pink Floyd und Led Zeppelin. Meine Stiefbrüder spielten Gitarre, und ich wollte das auch tun, als ich sieben oder acht Jahre alt war. Ich bekam eine Konzertgitarre und nahm anfangs auch Unterricht. Meine erste E-Gitarre war eine Epiphone SG. Es begann mit einfachem Nachspielen von Punk- und Nirvana-Songs, ehe ich schließlich bei Meshuggah und eher obskuren Metal-Sachen landete.
James: Ich komme auch aus einer musikbegeisterten Familie. Mein Dad spielte Bluesgitarre, und ich bekam Klavierunterricht, der die Grundlage für meine musiktheoretischen Kenntnisse bildete. Als Jugendlicher verlagerte ich mich dann auf die Gitarre, nachdem ich Guns N’ Roses gehört hatte, sie waren eine ganz wichtige Band für mich. Von da an ging es weiter zu Metallica, Slayer, Megadeth und schließlich progressiven Acts wie Dream Theater. Meshuggah habe ich tatsächlich erst später verstanden und gemocht, da war ich schon Mitte 20.
TesseracT hatten von Beginn an einen relativ eigenständigen Sound. Woran lag das, Acle?
Acle: Na ja, der Eindruck entsteht wohl, wenn man uns von außen betrachtet, aber die Leute können nicht wissen, was unserem ersten Album ‚One‘ 2011 alles vorausging. Ich gründete die Band als Soloprojekt, als ich gerade volljährig war, und hatte zuvor bei Fellsilent gespielt, die sehr aggressiv klangen und Meshuggah nacheiferten. TesseracT waren also quasi eine Fortsetzung davon, und unser Spektrum ist mit der Zeit breiter geworden, weil wir so viele musikalische Interessen haben, angefangen bei Jeff Buckley bis zu elektronischen Acts. Für den hohen Wiedererkennungswert spielte sicherlich auch der unverzerrte Gitarrensound auf ‚One‘ eine Rolle, der heute überall als Milton Cleans bekannt ist. Er ist zufällig entstanden und gefiel uns einfach, dahinter steckte keine revolutionäre Absicht oder so.
Euer Bassist Amos meinte in einem Interview mit uns, die Kombination scheinbar widersprüchlicher Ideen sei eine Methode, die ihr beim Songwriting oft verwenden würdet. Kannst du das erläutern?
Acle: Ich glaube, er empfindet das so, weil er nicht nachvollziehen kann, wie ich auf bestimmte Riffs kommen. Wir sprechen in der Band generell viel miteinander, anders ginge es bei den vielen rhythmisch komplexen Sachen auch gar nicht.
James: Amos bezieht sich wahrscheinlich auch auf die Gegensätze, die in unserer Musik miteinander einhergehen: brutale Riffs und melodische Refrains, aufbrausende Parts und ruhige Momente. Ich fand das auch auffällig, als ich zur Band stieß, das war damals in dieser Form noch nicht so weit verbreitet wie heute.
Entsteht die rhythmische Komplexität intuitiv, oder ist sie doch eher Kopfsache?
Acle: Das hat sich wirklich erst mit der Zeit und auf natürliche Weise ergeben. Nur so kann man sich aufeinander eingrooven; wenn du bewusst darüber nachdenkst, funktioniert es nicht.
Trotzdem klingen eure Songs beileibe nicht nach einer Band, die ihr Material lässig beim Jammen im Proberaum schreibt.
Acle: Man jammt eher mit sich selbst und sucht etwas, das interessant zu spielen ist. Unkonventionelle Rhythmen fallen mir beispielsweise oft ein, dann muss ich sie nur noch aufnehmen und loopen, woraufhin sich alles weitere sehr schnell ergibt. Manchmal konstruiere ich meine Riffs aber auch regelrecht. Ich kann ein und dieselbe Idee stundenlang wiederholen, wobei ich auch mal bewusst einzelne Sechzehntelnoten auslasse oder hinzufüge, um einen gewissen Flow zu erzeugen.
James: Dazu ist es wichtig, Standard-Denkweisen über Bord zu werfen und sich auf das Feeling zu konzentrieren. Wenn man sich leidglich auf die üblichen Taktarten beschränkt, kommt man natürlich nicht so weit.
Acle: Wir merken das jetzt beim Proben für die Tour; man speichert die kniffligen Parts im motorischen Gedächtnis ab und kann sie rückwirkend gar nicht mehr richtig analysieren, geschweige denn jemand anderem erklären.
Amos hat das Artwork zu ‚War of Being‘ mithilfe der KI Midjourney entworfen, und euer Sänger Daniel ließ sich für seine Performance von den einzelnen Entwicklungsschritten der Bildgeneration inspirieren. Habt ihr das auch beim Komponieren getan?
Acle: Nein, das hat sich wirklich nur im Gesang niedergeschlagen und uns nicht beeinflusst, was auch daran liegt, dass die Musik größtenteils fertig war, als die KI ins Spiel kam.
Das Album beruht auf einer Geschichte, die Amos geschrieben hat, wie vertont man so etwas?
James: Gar nicht mal direkt, die Songs wurden weitgehend unabhängig davon geschrieben. Dann ging es nur noch darum, sie in eine Reihenfolge zu bringen, die der Erzählung gerecht wurde, und die eine oder andere Passage von ihrer Stimmung oder Dynamik her anzugleichen, damit alles am Ende auch zusammenpasste.
Erforderte diese Arbeitsweise Änderungen an eurem Equipment? Ihr seid da allgemein experimentierfreudig.
Acle: Für unser zweites und drittes Album ‚Altered State‘ und ‚Polaris‘ haben wir Fractal-Gitarrenprozessoren aus der Axe-FX-Reihe verwendet, danach auf ‚Sonder‘ vor allem den Kemper Profiler, der bei uns auch lange Zeit live im Einsatz war. Mittlerweile sind wir aber beim Neural DSP Quad Cortex angekommen, der echt winzig ist und sich deshalb wunderbar für die Bühne eignet, besonders wenn man auf Tour viel fliegen muss. Bei den jüngsten Aufnahmen haben wir alle drei benutzt – den Axe-FX II für die Rhythmusgitarrensounds, die dann für Konzerte auf den Quad Cortex übertragen wurden.
Die Synthesizer und Crunch-Settings stammen hingegen aus dem Kemper, die cleanen aus dem Quad Cortex. Ich bin oft Unentschlossen, was Amps angeht, und zu Beginn der Produktion von ‚War of Being‘ probierten wir sogar einige echte aus: den Diezel VH4, den ich liebe, dazu modifizierte Marshalls und Mesa/Boogies. Letzten Endes hatten wir uns aber so sehr an die simulierten Amps auf den Demoversionen der Songs gewöhnt, dass wir dabei geblieben sind. Sie verkörperten den TesseracT-Sound perfekt.
Digitale vs. analoge Technik und mehr Gear-Talk auf Seite 2 …
(Bild: Andy Ford)
Ihr seid also überhaupt nicht nostalgisch in Bezug auf echte Verstärker und Boxen, sondern haltet die Digitaltechnik für besser?
Acle: Das nicht unbedingt. Tatsächlich vermissen wir den Umgang mit richtige Geräten zum Anpacken. Gerade das Gefühl, eine Box hinter sich stehen zu haben, die ordentlich drückt, lässt sich durch nichts ersetzen, doch wir verzichten darauf, weil digitales Profiling unterwegs einfach praktischer ist und beständigere Ergebnisse erzielt; man klingt einfach in jeder Konzertsituation gleich gut.
James: Vor zehn, elf Jahren hatten wir noch Amps wie den Peavey 6505 Plus, Engl Powerball und Dual Rectifier auf der Bühne. Ich habe ein kleines Nebenprojekt gestartet, um diese Geräte wieder nutzen zu können, oder auch einen EVH 5150. Dennoch halte ich Amp-Modeling jetzt für so weit ausgereift, dass es den althergebrachten Amp-Boxen-Kombinationen ebenbürtig ist, falls nicht sogar besser, auch wenn mir die Puristen da bestimmt widersprechen. Dadurch, dass die virtuellen Lautsprecher und die Position des Mikrofons davor unverändert bleiben, muss man auf weniger Variablen achten und kann sich besser aufs Wesentliche konzentrieren – das Spielen.
Acle: Man schleppt nicht mehr so viel mit sich herum, dafür kann unser Schlagzeuger jetzt mehr Toms und Becken mitnehmen. In kleinen Clubs hat das Full Stack nach wie vor seinen Platz und klingt klasse, doch auf Festivalbühnen kann man viele Faktoren nicht beeinflussen, die auf einen mikrofonierten Amp einwirken, zum Beispiel den Wind.
Der Unterschied wird wohl noch unerheblicher, wenn man bedenkt, dass Musik heutzutage gängigerweise in niedriger Auflösung über Mobiltelefone konsumiert wird.
Acle: Unterm Strich wollen wir das Beste aus beiden Welten vereinen würde ich sagen. Auf dem neuen Album haben wir zum ersten Mal seit unserem Debüt wieder echte statt programmierter Drums, allein das vermittelt schon ein analoges Feeling.
Lasst uns abschließend noch über den aktuellen Stand bei euren Gitarren sprechen.
Acle: Auf ‚War of Being‘ spielen wir unsere Signature-Modelle, ich die Mayones Setius AK1 7 mit Bare-Knuckle-Black-Hawk-Tonabnehmern, James seine Ibanez Prestige.
James: Ich verwende auch Pickups von Bare Knuckle, die Modelle Aftermath und Silo. Was Gitarren angeht, hat sich in den letzten paar Jahren also nicht viel bei uns geändert.
Acle: Und weitere Effektgeräte brauchen wir nicht, der Quad Cortex deckt alles ab, auch wenn das Einstellen etwas fummelig werden kann, weil er so kompakt ist.
Wie lange habt ihr eigentlich gebraucht, bis ihr intuitiv mit der ganzen Technik umgegangen seid?
Acle: Ich finde, dass unser Setup immer recht simpel war. Früher benutzten wir das Direktsignal eines Line6 Pod für cleane Sounds und einen richtigen Amp für verzerrte Riffs, beides wurde über einen Midi-A/B-Schalter angesteuert. Das Prinzip ist heute noch das gleiche, nur mit besserer Technik.
Eure Gitarrenstimmungen beruhen weiterhin auf D-A-D-G-A-D?
Acle: Genau, aber übertragen auf Bb und in ein paar Songs auf A beziehungsweise als Dropped Tuning.
James: Herkömmliches Üben von Skalen wird deshalb schwierig, also verbessern wir uns an unseren Instrumenten beim Komponieren oder Einstudieren der Songs.
Acle: Ja, Grenzen ausloten, sich ungewöhnliche Dinge trauen und das, was man im Kopf hat, auf die Gitarre übertragen. Wenn man es darauf anlegt, muss man sich auch nicht zum Üben zwingen. Es wird ein Teil des Schaffensprozesses.