Das Jahr 1969 war für den britischen Jazz-Gitarristen John McLaughlin wohl das bedeutendste seiner Karriere. Der damals 27-jährige Musiker hatte im Frühjahr sein Debüt-Album ,Extra polation‘ veröffentlicht. Schließlich flog er nach New York City, um sich Lifetime, der Band von Drummer Tony Williams anzuschließen. Doch vorher sollte noch etwas dazwischen kommen.
Einen Tag nach seiner Ankunft fand sich John bereits im Studio wieder, als Begleiter von Jazz-Trompeten-Star Miles Davis, der abgesehen von den beiden letzten Dekaden seiner Karriere so gut wie nie mit Gitarristen gearbeitet hatte. Davis versuchte, angetrieben von der Musik des von ihm bewunderten Jimi Hendrix, den experimentellen Rock-Sounds und energetischen Funk-Grooves dieser Zeit, auch die Grenzen seiner eigenen Jazz-Musik zu erweitern.
Anzeige
Bei der Session am 18. Februar 1969 in New York waren Wayne Shorter (ts), Dave Holland (b) und Tony Williams (dr) mit Davis im Studio, zudem gehörten aber auch noch gleich drei E-Pianisten zum Personal: Herbie Hancock, Chick Corea und Joe Zawinul, der auch Hammond-Orgel spielte – plus John McLaughlin an der E-Gitarre. [Die selbe Band, nur mit Drummer Joe Chambers, war am 20. Februar 1969 noch mal im Studio; die Aufnahmen wurden auf dem 2001 erschienenen 3-CD-Boxset Miles Davis: ,The Complete In A Silent Way Sessions‘ veröffentlicht; d.Red.]
Und diese o.g. Besetzung erspielte für ,In A Silent Way‘ zwei lange Stücke, die beide bis an die 20-Minuten-Grenze einer LP-Seite dauerten. Angetrieben wurde ,Shhh/Peaceful‘ von pulsierenden wie minimalistischen Drums. Der Kontrabass klinkt sich geradezu vorsichtig ein und allmählich entwickelt sich ein Groove, über dem sich Fender-Rhodes-Piano und Orgel nach und nach ausbreiten. Dazwischen findet die Gitarre ihren Weg, oft mit virtuosen Läufen, die im Hintergrund schnell dahin huschen, wie akustische Farbtupfer. Präsenter sind McLaughlins sparsame Voicings und teils arpeggierte Harmoniefragmente, die gelegentlich länger stehen bleiben. Über allem thront dann die sparsame und eigen intonierte Trompete des Bandleaders, der so das Zusammenspiel forciert und hier und da so etwas wie ein Thema diktiert.
Toll wie McLaughlin zu Beginn von ,In A Silent Way/It‘s About That Time‘ über einer sphärischen Keyboard-Begleitung nach und nach eine Melodie entwickelt – und dabei rhythmisch und harmonisch sehr frei agiert. Schließlich greift das Tenorsaxophon mit einem weichen Vibrato die Melodie auf. Dann Schnitt, und aus dem Nichts tauchen ein funky Drum-Groove und eine knackige Trompeten-Linie auf. Über einem monotonen E-Piano-Riff entfaltet McLaughlin kurze, hektisch-schnelle Licks. Grandios, wie Bassist Dave Holland (ab ca. 8:20 min) zusammen mit der Orgel einen Funk-Groove aufbaut. Der bricht allmählich in sich zusammen, nur um dann noch knackiger abzugehen, und dann wacht Drummer Tony Williams auf und rockt einige Takte, bevor es dynamisch wieder runtergeht.
Gegen Ende hat McLaughlin noch einmal seinen Auftritt mit der von ihm gestalteten Eingangsmelodie. Und hier kann man noch einmal seine trockene Intonation und fast schon spröde Phrasierung erleben. Ganz passend dazu ist sein unverzerrter und klarer Amp-Sound, der sich vom klassischen eher dumpfen JazzGitarrenklang mit vielen Bass-Anteilen absetzte. Wobei hier nichts und niemand nach klassischem straight ahead gespielten Jazz klingt. McLaughlin griff bei dieser Session angeblich auf eine Fender Mustang zurück, eines der preisgünstigeren Einsteiger-Modelle des amerikanischen Herstellers. Dank des tollen Gesamt-Sounds ist das Live-Feeling dieser Aufnahmen fast schon greifbar. Man kann sich richtig gut vorstellen, wie Davis die Musiker wie bei seinen Konzerten mit kleinen Gesten dirigierte.
Bei jedem Hören offenbaren sich neue Details und fantastische Improvisationen, die auch knapp fünf Jahrzehnte später dazu inspirieren, die Gitarre in die Hand zu nehmen. Diese Musik strahlt eine unglaubliche Intensität und irgendwie auch Zerbrechlichkeit aus. Die Spannung bleibt stets erhalten. Was geschieht als nächstes? Aus welcher Tonfolge entwickelt sich etwas? Welches Instrument ergreift die Initiative? Diese Wirkung resultierte auch aus einer fortschrittlichen Maßnahme: Produzent Teo Macero hatte die beiden Stücke aus den insgesamt etwa 80 Minuten dauernden Aufnahmen zusammengesetzt. Komposition im Sinne des Wortes also. Als das Album schließlich im August ’69 erschien, löste es in der Musikwelt kontroverse Reaktionen aus.
Für Teile des Jazz-Publikums war der neue Miles zu sehr Rock, dafür erreichte er zunehmend auch das Pop-Publikum. Miles Davis hatte mit ,In A Silent Way‘ die Tür zum Jazz-Rock weit aufgestoßen. Aber es steckt schon im Albumtitel: Hier gab es noch ein ruhiges und eher vorsichtiges Herantasten an die neuen Möglichkeiten der Verschmelzung Jazz mit Funk und Rock. Rückblickend ist ,In A Silent Way‘ so etwas wie ein tiefes Luftholen vor dem großen Sprung, der 1970 mit dem Opus Magnum ,Bitches Brew‘ folgte [das immer wieder als die Geburtsstunde der Jazz-Funk-Rock-Fusion genannt wird; diese Einordnung passt eigentlich schon auf ,In A Silent Way‘. Wobei Tony Williams’ Lifetime-Aufnahmen zu ,Emergency‘, vom Mai 1969 ebenfalls noch drei Monate vor den ersten Takes von Davis’ ,Bitches Brew‘-Sessions entstanden. In allen Fällen hatte John McLaughlin eine Schlüsselposition, die nicht zu unterschätzen ist. d.Red.]
Knapp drei Jahrzehnte nach seinem Erscheinen feierte ,In A Silent Way‘ übrigens eine Auferstehung. Produzent Bill Laswell hatte auf ,Panthalassa: The Music Of Miles Davis 1969-1974‘ verschiedene Aufnahmen neu strukturiert und auch remixt. Es ist durchaus spannend zu hören, wie etwa die Gitarre plötzlich weiter vorne steht und dissonante Reibung erzeugt. Laswells Interpretation unterstreicht noch einmal die Modernität und das Potential von Davis’ Musik und seinen Musikern jener Phase. Am 26. Mai 2016 jährt sich der Geburtstag des Jazz-Innovators zum 90. Mal, im September folgt der 25. Todestag von Miles Davis.