Mit Ankündigung ihres neuen Albums ,Dystopia‘ schien bei Megadeth alles seinen gewohnten Gang zu gehen. Doch ein Blick hinter die Kulissen zeigt: Im Camp von MegaDave hat es wieder einmal ordentlich gerappelt. Ist Mr. Mustaine also ein good guy oder ein bad guy?
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Für die Medien sind Dave Mustaine und seine Band Megadeth immer wieder ein gefundenes Fressen. Der eigenwillige Rotschopf nimmt es mit Diplomatie und Etikette nicht immer so genau, knöpft sich unliebsame Journalisten auch schon mal persönlich vor, streitet mit Konzert-Agenturen, brüskiert Veranstalter und liegt mit einigen seiner Musikerkollegen im Dauerstreit. Berühmt geworden ist seine handgreifliche Auseinandersetzung mit Metallica-Frontmann James Hetfield Anfang der Achtziger, als beide noch Band-Kollegen waren.
Ein Riesenfehler angesichts der anschließend beispielslosen Karriere der amerikanischen Thrash-Metaller, an der Mustaine aufgrund des sofortigen Rauswurfs nicht mehr beteiligt war. Dave weiß das, und er bedauert vieles von dem, was er zu Beginn seiner Musikerlaufbahn angestellt hat. „Ich habe viele Fehler in meinem Leben gemacht“, verblüfft er mit unverstellter Offenheit. „Ich schäme mich dafür, meinem Freund James Hetfield ins Gesicht geschlagen zu haben. Und ich schäme mich dafür, dass ich öffentlich über ihn gelästert habe. So etwas macht man nicht einmal mit seinem Feind, geschweige denn mit seinem besten Freund.“
Für Mustaine kam Kirk Hammett, Metallicas Erfolgsgeschichte nahm ihren Lauf. Der exzentrische Wutkopf stand dagegen von einem Tag auf den anderen ohne Job da. Mustaine gründete daraufhin Megadeth und erklärte es öffentlich zum vorrangigen Ziel, Metallica so schnell wie möglich den Rang abzulaufen und sich dafür „den Arsch abzuspielen.“ Letzteres haben Megadeth bis heute geschafft. Aber – Hand aufs Herz – wer hätte der einstmals größten Metal-Band überhaupt das Wasser reichen können?
Allerdings: Momentan könnte sich der Wind drehen. Denn während Metallica seit Jahren in einer ernsthaften Krise zu stecken scheinen, ist bei Mustaine und seinen Mannen offenbar endlich die notwendige Zuverlässigkeit eingekehrt. Das neue Album ,Dystopia‘ könnte der Erfolgsgeschichte der Band deshalb durchaus ein besonders erfreuliches Kapitel hinzufügen und – wenn man diesen Gedanken mal weiter spinnt – über kurz oder lang sogar eine Wachablösung im Thrash-Metal-Olymp nach sich ziehen. Wären da nicht schon wieder Unruhen im Camp von Megadave.
https://www.youtube.com/watch?v=SLLSmfZaOVQ
Personalkarussell
Es ist noch nicht allzu lange her, da lobte Mustaine die seit 2008 existierende Bandbesetzung mit Bassist Dave Ellefson, Gitarrist Chris Broderick und Schlagzeuger Shawn Drover über den grünen Klee. Besonders Broderick wurde von Mustaine als idealer Partner angepriesen, als wunderbarer Teamplayer und grandioser Solist, der sich voll und ganz in den Dienst der Band stellt: „Chris übt bis zu 13 Stunden am Tag Gitarre, dementsprechend groß sind seine handwerklichen Fähigkeiten und sein theoretisches Wissen. Wir alle profitieren ungemein von ihm.
Für mich ist Chris der beste Gitarrist, den Megadeth je hatte“, tönte es noch vor gut zwei Jahren aus dem Munde des Bandleaders. Im Winter 2015/2016 klingt das nun plötzlich völlig anders. „Früher gab es bei uns Gitarristen, die mit ihren zwar technisch anspruchsvollen aber gefühllosen Soli die Fans langweilten“, ätzt Mustaine. Der Grund: Broderick und Drover haben vor wenigen Monaten die Gruppe verlassen. Überraschend? Zumindest für die Öffentlichkeit. Und scheinbar auch für Mustaine. „Ich habe ihre Entscheidung auf die gleiche Weise erfahren wie alle anderen, nämlich übers Internet. Ich finde diese Vorgehensweise feige, sie hätten vorher mit mir darüber sprechen sollen anstatt es über die Presse bekanntzugeben.“
Aber es muss doch irgendetwas vorgefallen sein, weshalb die beiden Musiker das Weite gesucht haben, oder? Mustaine: „Ich denke, dass sie das geglaubt haben, was ihnen jemand anderes erzählt hat. Dave Ellefson hatte erklärt, dass die Fans auf eine ,Rust In Peace‘-Reunion warten. Wenn ich in einer Band wäre, in der ich hören muss, dass die Fans lieber eine andere Besetzung wollen, wäre ich sicherlich auch enttäuscht. Ich wünsche ihnen trotzdem alles Gute für die Zukunft.“
Dave Ellefson
Nicht schlecht: Zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen, denn mit dieser Aussage bekommt auch gleich noch Bassist Ellefson einen kleinen verbalen Leberhaken verabreicht. Ausgerechnet Ellefson, Mustaines treuester Gefolgsmann, der die Band vor 32 Jahren mit ihm gegründet hat, ihr bis zur temporären Auflösung 2002 angehörte und seit einigen Jahren wieder mit an Bord ist. Zwischenzeitlich herrschte Funkstille zwischen Ellefson und Mustaine, da Dave ohne Rücksprache mit seinem treuen Paladin einfach Rechte aus dem Back-Katalog verkauft hatte.
Sich mit Ellefson zu streiten gilt unter seinen Kollegen als nahezu unmöglich. Mustaine schaffte es trotzdem. Doch der blonde Bassist ist nicht nachtragend, er sagt: „Dave legt größten Wert darauf, der Chef der Gruppe zu sein. Ich dagegen kam Anfang der Achtziger von einer Farm in Minnesota nach Los Angeles, war völlig unerfahren und wollte einfach nur dabei sein. Ich bin nicht stolz darauf, dass ich manchmal Dingen zugestimmt habe, die ich hätte ablehnen müssen. Dave nannte mich immer den Diplomaten, das sagt ja wohl alles.“
Mittlerweile haben sich die beiden wieder versöhnt, sodass der besonnene Ellefson seinem Naturell entsprechend häufig als Friedensrichter im Zank-Camp agiert. Aber eben auch schon mal als Sündenbock herhalten muss, wenn gerade einer gesucht wird.
Marty Friedman
So manches im aktuellen Konflikt ähnelt der Schlammschlacht, die Mustaine nach dem Split von Brodericks Vorvorgänger Marty Friedman anzettelte (zwischenzeitlich gehörte Al Pitrelli von Savatage zur Band und spielte die Alben ,World Needs A Hero‘ und ,Rude Awakening‘ ein). „Marty wollte nur noch melodische Sachen spielen und Megadeth komplett umkrempeln“, trat Megadave im Herbst 2000 gegen seinen früheren LeadGitarristen nach. „Ich hätte meiner Aufgabe als Bandleader nachkommen und ihn schon früher feuern sollen. Ich weiß nicht, warum ich es nicht tat. Als Marty weg war, machten wir sofort wieder ein echtes Metal-Album.“ Mustaine spricht von ,The World Needs A Hero‘ (2001), das zwar keine komplette Kurskorrektur vollzog, aber immerhin die neue/alte Richtung andeutete.
Mit Friedman muss es zuletzt im Studio einige unschöne Situationen gegeben haben, die das Fass zum Überlaufen brachten. Denn das Solo, das Friedman ursprünglich für den Song ,Breadline‘ (vom Album ,Risk‘ ) aufgenommen hatte, wurde vom Megadeth-Management rundweg abgelehnt. „Sie sagten: ,Das Solo taugt nichts.‘ Also bot ich der Plattenfirma drei Möglichkeiten an – wir schneiden es raus, wir schalten es stumm oder ich spiele es neu ein“, erinnert sich Mustaine. „Sie wollten, dass ich es neu spiele, und als wir ein paar Wochen später beim Mix zusammensaßen, fiel Marty fast die Kinnlade herunter. Niemand hatte ihm erzählt, dass sein Solo raus ist, eigentlich hätte unser Produzent Dann Huff ihm dies mitteilen müssen.“
Nach dieser Aktion war nicht nur die Stimmung zwischen Mustaine und Friedman auf dem Gefrierpunkt, sondern auch die Zusammenarbeit mit Dan Huff für alle Zeiten beendet. Mustaine behauptet, dass Huff ein organisatorisches Chaos hinterlassen habe und die Bänder mit den Originalaufnahmen anschließend mühsam sortiert werden mussten, damit man überhaupt Remixes der Tracks vornehmen konnte. Huff schiebt das Chaos auf die unkoordinierten Arbeitsmethoden der Band. Liebeserklärungen klingen anders.
Kiko Loureiro
Nämlich so, wie man es zurzeit aus Mustaines Munde hört, wenn er auf den neuen Megadeth-Gitarristen Kiko Loureiro angesprochen wird. Kennengelernt hatten sich Mustaine und der Brasilianer Loureiro, der mit seiner Progressive-Metal-Formation Angra weltweit bekannt wurde, vor einigen Jahren in Japan, als das dortige Musikmagazin Burrn! eine Titelstory mit den Saitenkünstlern machte und beide Protagonisten zu einer gemeinsamen Fotosession einlud.
Als Mustaine nach Brodericks Kündigung auf die Suche nach einem neuen Gitarristen ging, soll Loureiro auf seiner Liste ganz oben gestanden haben. Mustaine: „Kikos Spiel ist unglaublich emotional. Als er das erste Solo für ,Dystopia‘ einspielte, stand mein Mund vor Begeisterung offen. Da er aus dem Prog- und Power Metal kommt, fügt er dem Megadeth-Sound zusätzliche Farben hinzu. Kiko ist perfekt ausgebildet und spielt mehrere Instrumente. Kürzlich drückte man mir in Russland eine Ukulele in die Hand, ich konnte sie aber nicht einmal stimmen. Kiko nahm die Ukulele, stimmte sie und begann sofort zu spielen. Ich war fassungslos und sagte zu ihm: „Ich hasse dich!“
Eine Audition für Loureiro hat es offenbar nicht gegeben. Mustaine lud den Südamerikaner einfach zu sich nach Nashville ein, gemeinsam ging man was essen und beschnupperte sich. „Wir haben an diesem Abend sehr viel gelacht“, erzählt Dave – anschließend wurde sofort der Vertrag aufgesetzt. Es heißt, die beiden seien seither ein Herz und eine Seele. Mustaine: „Ich wusste, was Kiko kann, ich habe mir sein Spiel vorher angehört, also musste ich ihn nicht testen. Ich erkenne, ob jemand wie ein Stück Holz ist oder wirklich mit Leidenschaft spielt. Eine so enge Beziehung hatte ich zu keinem meiner letzten vier oder fünf Gitarristen, weder zu Chris Broderick noch zu Glen Drover, Al Pitrelli, Marty Friedman oder Jeff Young. Auf der Bühne hatte ich zu allen eine professionelle Beziehung, aber sobald das Scheinwerferlicht erlosch gingen wir getrennte Wege. Mit Kiko treffe ich mich dagegen schon zum Frühstück.“
Die andere Seite
Wer jedoch geglaubt hat, dass Dave Mustaine ein notorischer Unruhestifter ist, der nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist und karrieremäßig über Leichen geht, sieht sich getäuscht. Der Mann ist treusorgender Familienvater (1992 wurde Sohn Justis geboren, 1998 seine Tochter Electra). Außerdem engagiert er sich seit Jahren für soziale Projekte und kümmert sich um Menschen mit körperlichen Einschränkungen in armen Ländern. Mustaine: „Mit meiner Familie habe ich zwei Suppenküchen gekauft, eine in Tijuana und eine in Hades. Wir sorgen dafür, dass allein in Hades jeden Tag 3000 bis 8000 Kinder etwas zu essen bekommen. Doch das alles will die Öffentlichkeit nicht hören. Die Leute können über mich reden was sie wollen, am Ende sind es die dankbaren Gesichter der Kinder in Hades, die für mich zählen.“
Er hat das Herz also offenbar doch an der rechten Stelle. Zumal: Schaut man sich seine Lebensgeschichte an, kann man einige seiner Unpässlichkeiten als junger Musiker sogar nachvollziehen. Konkret: Mustaine hatte nicht unbedingt die einfachste Kindheit. „Meine Eltern waren geschieden“, erzählt er. „Mein Vater war schwerer Alkoholiker und auch meine Mutter … äh … nun ja, sie war wohl nicht alkoholabhängig, denn sie musste ja schwer arbeiten, um die Familie durchzubringen, aber ein Sixpack nach Feierabend ging auch bei ihr durch. Mein Vater machte es meiner Mutter nach der Trennung schwer, bedrohte sie häufig. Deshalb zogen wir ständig um, wir waren sozusagen permanent auf der Flucht. Kann sich jemand vorstellen, was das für einen kleinen Jungen bedeutet? Ständig neue Schulen, ständig neue Mitschüler, die einen erst einmal argwöhnisch beobachten. Immer ist man der Neue, der Fremde, ein Alien. Wie soll man da Vertrauen zu anderen Menschen aufbauen?“
Metallica
Zu seiner früheren Band scheint Mustaine mittlerweile allerdings wieder ein nahezu normales Verhältnis zu haben. „Wir sind uns wieder deutlich näher gekommen, als ich auf der Big-4-Tour jeden Abend zu ihnen auf die Bühne gegangen bin und im Dezember 2011 auf ihrer 30th-Anniversary-Show in San Francisco mit ihnen gespielt habe.
Anschließend haben die Leute gesagt, dass Metallica wieder wie zu Beginn ihrer Karriere klangen“, erzählt Mustaine nicht ohne Stolz. „Für mich waren das tolle Momente. Ich wünsche Metallica alles Gute, ich weiß, dass sie momentan Schwierigkeiten haben die neue Scheibe fertigzustellen. Ich bin froh, ein Teil dieser Band gewesen zu sein, und ich weiß, dass wenn jemand in der Lage ist, ein tolles Album zu schreiben, dann ist es James Hetfield.“ Sind er und Hetfield etwa sogar wieder befreundet? „Ich von meiner Seite würde es so bezeichnen, aber natürlich müsste man auch ihn fragen. Wir schreiben uns zwar keine Weihnachtskarten, aber ich habe großen Respekt vor Metallica.“