Die 2007 in der viertgrößten norwegischen Stadt Stavanger gegründeten Kvelertak legten einen Traumstart hin: Das Sextett kultivierte einen einzigartigen Soundmix aus rock’n’rolligem Hardcore mit Metal und avancierte innerhalb kurzer Zeit zu einer der berüchtigtsten Livebands, die auf Tournee regelmäßig den Headliner von der Bühne blies. Dieser Tage erscheint mit ‚Endling‘ das fünfte Album der Band, worüber wir uns mit Gitarrist Maciek Ofstad und Bassist Marvin Nygaard unterhalten.
Seit der Veröffentlichung von Kvelertaks selbstbetiteltem Debütalbum im Jahr 2010 gab es abgesehen von einem Drummer-Wechsel nur eine wesentliche Umbesetzung: Originalsänger Erlend Hjelvik stieg 2018 aus, und ‚Endling‘ ist nun schon die zweite LP mit seinem Nachfolger Ivar Nikolaisen am Mikro. Neben Ofstad, der auch Hintergrundgesang übernimmt, sind mit Vidar Landa und Bjarte Lund Rolland zwei weitere Gitarristen am Start, wobei letzterer konsequent auf Fingerpicking setzt.
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Unkonventionell ist also manches bei dieser Band, doch Maciek und Marvin, der übrigens unter ADHS (Aufmerksamkeitsdefizitstörung mit Hyperaktivität) leidet, ohne dass man es ihm anmerken würde, bringen gerne eine wenig Licht ins Dunkel.
LIVE IM STUDIO
Gab es zu Beginn der Arbeiten an ‚Endling‘ etwas Spezifisches, das ihr anders angehen wolltet als auf dem 2020 erschienenen Album ‚Splid‘?
Maciek: Wir verbrachten viel Zeit mit Bergwanderungen, streiften durch Dörfer auf dem Land und schmökerten Geschichtsbücher in Bibliotheken. Ich glaube, weil man nichts anderes tun konnte und das Land nicht verlassen durfte, haben wir uns eher nach innen gekehrt und mit unserer Heimat beschäftigt. Dabei sind wir zu einigen interessanten Einsichten gelangt, die wir in den Songtexten verarbeitet haben.
Die wichtigste Veränderung im Vergleich zu unserer letzten Platte sind aber eher musikalischer Art, was vor allem an unserer Arbeitsweise und den Umständen lag, auf die wir keinen Einfluss hatten. Es war eine merkwürdige Erfahrung und nicht gerade angenehm, denn wir hatten das Gefühl, gleich nach der Produktion von ‚Splid‘ das nächste Album in Angriff nehmen zu müssen, weil ans Touren nicht zu denken war.
Wir gaben Anfang 2020 eine Handvoll Konzerte, ehe das Virus ausbrach und wir zähneknirschend nach Hause zurückkehrten. Zuerst glaubten wir, die Sache würde nur ein paar Wochen dauern, und wollten sie aussitzen. Aus diesen Wochen wurden Monate, also haben wir eingesehen, dass wir uns Liveshows abschminken konnten, und entschieden, uns wieder im Proberaum zu verschanzen sei das Beste. Lieder zu schreiben ist bei Kvelertak generell anstrengend; es kostet viel Kraft, weshalb wir uns im Vorfeld gerne ausruhen und darauf gefasst machen, was nun aber eben nicht ging.
Marvin: Wir setzten uns willkürlich Fristen, um einfach etwas zu haben, worauf wir hinarbeiten konnten. Da die Zukunft ungewiss war, sammelten wir Ideen und arbeiteten sie aus, um bereit zu sein, wenn sich die Welt wieder öffnete. Im Oktober 2021 gingen wir ins Studio und hatten zum ersten Mal in der Geschichte von Kvelertak genug Zeit, um alles gründlich zu planen.
Bis dahin war immer alles eilig gewesen, was zwar auch seine Vorteile hat, aber von nun an nur noch so zu arbeiten wie bei ‚Endling‘ wäre mir am liebsten. Wir haben das Material gemeinsam in einem Raum aufgenommen, genauso wie unser drittes Album ‚Nattesferd‘ von 2016. Das live zu machen setzt eine Menge Energie frei, und ich bilde mir ein, das hört man dem Album auch an.
Beteiligt waren drei Produzenten: Jørgen Træen und Yngve Sætre, die ein gemeinsames Studio haben, sowie Enslaved-Schlagzeuger Iver Sandøy.
Maciek: Das klingt nach Chaos, war es aber nicht, denn dadurch konnten wir praktisch rund um die Uhr arbeiten. Ein Produzent braucht normalerweise nach sechs, sieben Stunden hinterm Mischpult eine Pause, und so haben sich die drei einfach abgewechselt. Jeder Musiker tickt anders, wenn es ans Einspielen geht – ich selbst bin beispielsweise so gegen drei Uhr nachmittags am besten aufgelegt –, und unser Frontmann Ivar konnte für seine Gesangsparts mit einem der drei allein arbeiten. Bislang war es so, dass wir so vier, fünf Wochen lang die Musik aufnahmen und dann nur zweieinhalb Tage für die Vocals hatten, jetzt lief alles viel gelassener und auch organischer ab.
Marvin: Man muss auch bedenken, dass wir sechs Leute in der Band sind, die sehr unterschiedliche Meinungen haben können, also ergibt es Sinn, jeden zu Wort kommen und seine Ideen einbringen zu lassen, was diesmal besser denn je funktionierte. Vorher stand immer alles zu ungefähr 90 Prozent fest, wenn wir im Studio aufschlugen, doch bei ‚Endling‘ war noch vieles offen. So konnte man bestimmte Passagen infrage stellen, und dass sie dann verworfen wurden, kam häufig vor. Wenn man keinen Spielraum für Änderungen erlaubt, findet man sich schnell in einer Echokammer wieder, ohne nach links und rechts schauen zu können. Im Studio ist man leicht angreifbar, weil man sich nicht verstecken kann und Fehler schonungslos offenbart werden.
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(Bild: Marius Dale / Petroleum Records)
EINER GEGEN DREI
Marvin, wie bist du überhaupt Musiker geworden, und was hat dich zum Bass geführt?
Marvin: Wir haben beide angefangen, uns in Bands auszutoben, als wir noch sehr jung waren, so mit 12 oder 13. Anfangs wurden im Proberaum, der sich in unserer Schule befand, häufig die Instrumente gewechselt, und ich bin schließlich beim Bass hängengeblieben, weil es schon mehrere Schlagzeuger und Gitarristen gab. Mir ging es einfach nur darum, Musik zu machen, und in einer professionellen Band zu spielen war ein großer Traum von mir. Ich habe keinerlei musikalische Ausbildung, sondern lernte schlicht im Zusammenspiel mit anderen Jugendlichen.
Wie würdest du deine Rolle bei Kvelertak beschreiben? Als Bassist seinen Platz zwischen drei Gitarristen zu finden stelle ich mir nicht so leicht vor wie etwa in einem Trio oder Quartett.
Eine konkret definierte Rolle gibt es nicht; wie ich mich im Bandgefüge verhalte, hängt vom jeweiligen Song ab, wenn ich zum Beispiel an ‚1985‘ von ‚Nattesferd‘ denke, da spiele ich eigentlich durchgängig eine einzige Note. Wichtig ist trotz dreier Gitarristen ein solides Fundament, denn sie spielen ja nicht nur harte Riffs, sondern arbeiten viel mit Harmonien. Manchmal wird es bei mir aber auch melodiös, wir entscheiden das in der Regel intuitiv.
Maciek: Genau, wir denken viel über solche Details nach, dass jeder die ganze Zeit über aus allen Rohren feuert, ist unmöglich, das hat nichts mit Musik zu tun. Nach 15 gemeinsamen Jahren würde ich sagen, dass jedes Bandmitglied seinen Platz kennt und sich bemüht, diesen auszufüllen, so gut es geht. Außerdem steht bei uns die Mannschaft im Vordergrund, also hält man sich auch mal zurück, wenn es der gemeinsamen Sache dient.
Ich erinnere mich an eure erste Europatournee, ihr habt das ahnungslose Publikum damals völlig geplättet. Wie kam es, dass ihr zu dem Zeitpunkt schon so gut aufeinander eingespielt wart?
Maciek: Ach ja, das waren die Shows mit Converge, aber ehrlich gesagt haben wir auf dieser Tour überhaupt erst alles gelernt, was man wissen muss, um in diesem Business zu überleben. Wir waren aber gut vorbereitet, das stimmt schon, denn wir hatten uns schon früh vorgenommen, international Konzerte geben zu wollen. Im Laufe der Tour wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass Kvelertak etwas Einzigartiges machen; es ist weder Hardcore oder Punk noch Metal, wir sitzen zwischen allen Stühlen.
Auf der Bühne sah ich dann, dass es auch anderen Leuten gefiel, obwohl wir es nie darauf anlegten, sondern einfach nur unser Ding machten. Die Entwicklung dieses Stils ging ganz natürlich vonstatten. Converge haben uns in der Art und Weise, wie sie bestimmte Dinge regelten, stark inspiriert. Amerikanische Bands sind grundsätzlich gute Vorbilder, weil sie touren wie verrückt und bei jedem Auftritt 110 Prozent geben.
Wie bist du Gitarrist geworden?
Maciek: Mein erstes Instrument war im Alter von sechs die Violine, meine Mutter spielte sie auch. Ich hasste es aber und hielt nur ungefähr zwei Monate lang aus. Meine ältere Schwester hatte damals einen Freund, der mich dazu brachte, Bass zu spielen, Baggypants anzuziehen und Skateboard zu fahren. Außerdem schenkte er mir das Album ‚King of the Road‘ von der Stoner-Band Fu Manchu und lieh mir einen Samick-Bass, auf dem ich mir die Grundlagen aneignete.
Dann wurde ich wie Marvin Mitglied einer Schülerband, die ihrerseits schon einen Bassisten hatte, aber noch einen Gitarristen brauchte. Dass ich einer wurde, war also der Notwendigkeit geschuldet und Zufall. Um die Jahrtausendwende herum gab es in unserer Umgebung eine sehr lebendige Musikszene mit vielen Bands, man hat sich gegenseitig beflügelt und verschiedene Genres miteinander verschmolzen. Ich ging tatsächlich zur Musikschule und hätte dabei fast aufgehört, Gitarre zu spielen, weil es so schrecklich war und ich jeden Tag zu Jazzübungen gezwungen wurde.
Heute verstehe ich, dass jeder Gitarrist seinen eigenen Weg finden muss, bestimmte Stilrichtungen spielen keine Rolle, obwohl ich mit 16 nichts anderes zocken wollte als Iron Maiden, da war kein Platz für Pat Metheny.
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PRAXISWERTE
Wenn man sich euer Equipment im Lauf der Jahre anschaut, stechen zumindest Orange-Verstärker als Konstante heraus. Worauf schwört ihr noch?
Marvin: Ich hatte ziemlich viele beschissene Bässe, bis ich mir einen Gibson L9-S Ripper zulegte. Das war ein gebrauchtes Instrument von jemandem aus meiner Gegend, und als Kvelertak zum ersten Mal auf Tour gingen, sah ich ein, dass ich es nicht mitnehmen konnte, denn es war ein sehr altes Modell. Darum besorgte ich mir einen Fender Precision; ich hatte auch mal einen Endorsement-Deal mit Fender, und würde so oder so nie wieder etwas anderes spiele.
Mein Lieblings-Amp war immer der Tiny Terror von Orange in Verbindung mit dem Fulltone OCD Distortion, einem Gitarren-Effektpedal. Dazu noch ein Stimmgerät, aber das war’s dann auch schon. Ich bin kein Equipment-Fanatiker und verwende seit Ewigkeiten das, was sich für mich bewährt hat.
Maciek: Mein Setup hat sich im Vergleich zu unserer Anfangszeit auch nicht wesentlich verändert. Ich halte die Rockerverb-Vollröhrentopteile von Orange immer noch für das Maß aller Dinge bei Kvelertak, kaufte mir aber irgendwann ein Thunderverb, um mich von Bjarte und Vidar abzuheben, die ebenfalls Rockerverbs spielen. Dabei sind wir bis heute geblieben, bloß dass wir auf Tournee mittlerweile Kemper Profiler verwenden, seitdem wir mal Gewichtsprobleme mit unserem Anhänger hatten.
In puncto Gitarren bin ich zwar von jeher Gibson-Fan, aber zu Beginn der Pandemie gaben mir ESP ein Endorsement, und jetzt spiele ich ihre E-II Eclipse. Effekte rufe ich über das Kemper-Board ab, obwohl ich auch Volume- und Wah-Wah-Pedale von MXR und Electro-Harmonix einsetze. Meine wichtigste Ergänzung auf der Bühne ist ein Equalizer, um die Mitten bei 800 Hz anzuheben.
Man hört in letzter Zeit häufiger von Musikern, dass sie auf Kemper schwören, gerade wenn es sich um Bands handelt, die viel unterwegs sind. Würdest du sagen, dass sie das Arbeiten im Live-Sektor revolutioniert oder wenigstens vereinfacht haben.
Maciek: Auf jeden Fall. Mein Hauptargument für den Kauf war die Tatsache, dass sie unseren ursprünglichen Sound nicht verfälschen. Mein digitales Thunderverb-Profil lässt sich im Grunde überhaupt nicht vom Original unterscheiden, und das ist bei Konzerten – insbesondere auf Festivals, wo es in den Umbaupausen hektisch zugeht, zumal mit drei Gitarristen – äußerst praktisch. Die Frage nach der „Echtheit“ des Klangs stellt sich für mich in dieser Situation nicht; es muss zweckmäßig und verlässlich sein.
BLACK METAL?
Kvelertak wurden von Anfang an mit norwegischem Black Metal in Verbindung gebracht, obwohl ihr abgesehen von vereinzelten Stilmitteln in euren Songs keinen Bezug zu dieser Musik habt, geschweige denn zur zugehörigen Szene und zu ihrem Ethos. Oder doch?
Maciek: Intern haben wir diese Elemente von Anfang an Black‘n‘Roll genannt. Diese Verbindung rührte wohl auch daher, dass unser ehemaliger Sänger Erlend eingefleischter Black-Metal-Fan war, doch ich finde, wir haben etwas Eigenes aus diesem Einfluss gemacht.
Marvin: Ja, er hat sich wie von selbst integriert, man hört es noch in einigen Blastbeats-Parts, oder bestimmten Gitarrenharmonien wie während ‚Fedrekult‘ oder ‚Døgeniktens Kvad‘ vom neuen Album. Ich käme aber im Traum nicht darauf, uns als Black-Metal-Band zu bezeichnen, auch wenn die Inspiration definitiv vorhanden ist. Sich mit dieser Musik auseinanderzusetzen kann sehr lehrreich sein.
Maciek: Wir spielen schlicht und ergreifend extremen Rock’n’Roll, denn bei uns muss alles extrem sein, die Punk- und Hardcore Elemente genauso wie der Metal-Anteil. Das Motto von Kvelertak lautet nicht umsonst: Mehr ist mehr.
Wie ‚Meir‘, der Titel eures 2013er Albums… Kann man Black Metal überhaupt ignorieren, wenn man in Norwegen Gitarrenmusik macht?
Maciek: Die Szene ist sehr klein. Jeder hier kennt jeden, also beeinflusst man sich auch gegenseitig. Trotzdem sind wir mittlerweile an einen Punkt gelangt, an dem ich Crustcore als stärkeren Einfluss als Black Metal bewerten würde.
Die offensichtliche Abschlussfrage: Nach der Veröffentlichung des Albums werdet ihr auf Tour gehen, habt ihr diesbezüglich irgendetwas Besonderes geplant.
Maciek: Zuerst wärmen wir uns nach der Veröffentlichung mit ein paar Shows hier in Norwegen auf, dann folgt eine Europatour, und unser letztes Konzert für dieses Jahr wird im November in Mexiko stattfinden. Der größte Unterschied im Vergleich zu früher dürfte wohl der Umstand sein, dass wir jetzt mit gleich zwei Alben in der Tasche herumziehen, denn ‚Splid‘ konnten wir ja eigentlich nicht großartig auf Tour bewerben, weil es keine gab. Aus diesem Grund sind wir auch doppelt so hungrig wie sonst, was sich sicherlich gerade bei den ersten Auftritten bemerkbar machen wird.
Jeder in der Band sehnt sich nach dem Gefühl, wieder unterwegs zu sein und für ein Publikum zu spielen. Die letzten drei Jahre waren für uns der Wahnsinn, weil wir bei dem, was wir am liebsten tun, unterbrochen wurden und uns daheim verkriechen mussten; ich ärgere mich immer noch, wenn ich darüber nachdenke. Wir waren im Grunde seit 2010 kontinuierlich auf Tour und sind nicht gut mit dem Lockdown klargekommen, weil uns das Herumreisen und Treffen unserer Fans in Fleisch und Blut übergegangen ist. Die nächsten Gigs werden deshalb sehr emotional, glaube ich.