Box-Set inkl. Dokumentarfilm: ‚Electric Lady Studios: A Jimi Hendrix Vision‘
Mit einer spektakulären Veröffentlichung von bisher unveröffentlichtem Material und einer sehenswerten Dokumentation über die Geschichte der legendären Electric Lady Studios in New York gibt es für alle Jimi-Hendrix-Fans (und nicht nur für die!) ein echtes Highlight.
(Bild: Legacy)
Mit einer spektakulären Veröffentlichung von bisher unveröffentlichtem Material und einer sehenswerten Dokumentation über die Geschichte der legendären Electric Lady Studios in New York gibt es für alle Jimi-Hendrix-Fans (und nicht nur für die!) ein echtes Highlight.
Ortstermin New York, wir schreiben den 8. August 2024. An diesem Tag erlebt der Big Apple, ein Ort, an dem nichts unmöglich erscheint, ein ungewöhnliches Ereignis: Der Abschnitt der West 8th Street, zwischen 6th Street und MacDougal Street gelegen, wird vorübergehend in Jimi Hendrix Way umbenannt.
In diesem Straßenabschnitt befinden sich die Electric Lady Studios, die während einer besonders aufregenden Epoche der Musikgeschichte zwischen 1968 und 1970 nach den genauen Vorstellungen von Jimi Hendrix gebaut wurden. Aus diesen Studios stammen die 38 bislang unveröffentlichten Nummern, die der Ausnahmegitarrist kurz vor seinem Tod im Spätsommer 1970 mit seiner Band Jimi Hendrix Experience – feat. Bassist Billy Cox & Schlagzeuger Mitch Mitchell – aufgenommen hat und die nun in einem üppigen Boxset inklusive des Dokumentarfilms ‚Electric Lady Studios: A Jimi Hendrix Vision‘ – womit wie beim Thema sind – auf den Markt kommen.
(Bild: Legacy)
ELECTRIC LADY STUDIOS: A JIMI HENDRIX VISION
Der Streifen erzählt von der Idee der Planung, Entstehung und Einweihung bis zur späteren Nutzung des legendären Soundtempels. Es ist die Geschichte einer heiligen Allianz, eines Vierer- genauer gesagt: Fünfergestirns, das – auf wundersame Weise – perfekt miteinander harmoniert. Da ist zum einen Jimi Hendrix, der großartigste und innovativste Rockgitarrist, den die Welt jemals erlebt hat. Ihm zur Seite steht mit Manager Michael Jeffery ein in Musikerkreisen nicht unumstrittener Geschäftsmann, der für seine mitunter rücksichtslosen Entscheidungen im Umfeld des Superstars in der Kritik steht. Zum dritten gibt es den New Yorker Architekten John Storyk, der von Hendrix und Jeffery eigentlich angeheuert wird, um für sie einen Nachtclub in Greenwich Village so umzubauen, dass der Ausnahmemusiker dort live spielen und seine Jams mit einer kleinen Studioausrüstung aufnehmen kann.
Und dann haben wir da noch Eddie Kramer, ein seinerzeit aufstrebender Musikproduzent, der von der Club-Idee nur wenig hält – zu teuer, zu ineffektiv und wirtschaftlich zu risikobehaftet –, stattdessen aber die Vision hat, aus einem alten heruntergekommenen Schuppen im Herzen Manhattans ein veritables Tonstudio zu machen. Weder Kramer noch Storyk besitzen ausreichend Erfahrung mit solchen Studios. Über die verfügt jedoch – Hauptprotagonist Nr. 5 – Jim Marron, der bisherige Betreiber des Live-Clubs ‚The Scene‘ in der West 46th Street in Manhattan, in dem Jimi regelmäßig verkehrt.
Zu Beginn des Films erzählt Marron sehr anschaulich von seiner ersten Begegnung mit Hendrix, der eines Abends in seinem Club vorstellig wird und darum bittet, mit seiner Band dort ein wenig jammen zu dürfen. Marron sei einverstanden gewesen, gesteht er, nichtahnend, dass Hendrix und seine Mitmusiker bis morgens um fünf spielen, und somit die offizielle Sperrstunde um mehr als eine Stunde überschreiten. Dem Club-Manager bleibt also nur eine Möglichkeit: Er dreht Hendrix den Strom ab. Dass dem Gitarrenvirtuosen generell oftmals nicht anders beizukommen ist, um seine überbordende Spielfreude zu stoppen, weiß auch eine langjährige Freundin, Colette Harron, die berichtet, dass Hendrix seine Gitarre permanent bei sich getragen habe, 24/7 sozusagen: „Er ging mit ihr abends zu Bett, und wenn er morgens aufwachte, spielte er zunächst ein paar Licks und Hooks, um erst danach aufzustehen und zu frühstücken.“
Die Idee, anstatt eines halböffentlichen Live-Clubs mit kleinem Recording-Equipment lieber ein nichtöffentliches privates Tonstudio mit dem damals neuesten und hochwertigsten Equipment für Hendrix einzurichten, hat nicht zuletzt finanzielle Gründe. Denn Ende der Sechziger verpulvert der Starmusiker Unsummen für nächtelange Jamsessions in sündenteuren Studios. Rechnungen über 30.000 bis 50.000 US-Dollar sind keine Seltenheit. Anstatt nun das große Risiko eines wirtschaftlich unsicheren Live-Clubs mit all seinen Unwägbarkeiten einzugehen, setzt sich die Idee der Electric Lady Studios durch.
WIE IN EINEM KOKON
Die Planungen und Vorbereitungen treibt vor allem Eddie Kramer voran. Speziell sein expliziter Wunsch nach einem großen Regieraum mit allen Annehmlichkeiten für den Produzenten bestimmt die Arbeiten am Studio. Zusammen mit Architekt Storyk sorgt Kramer dafür, dass der Tonmeister fortan an seinem Arbeitsplatz gewissermaßen auf einem Podest thront, dabei zu seiner Rechten und nach vorne durch große Glasscheiben hindurch in die Aufnahmeräume ‚Studio A‘ und ‚Studio B‘ schaut. Quasi zu seinen Füßen befindet sich eine Art Chillout-Zone, mit Sofa, weichen Sesseln, Teppichen, etc., in denen die Musiker gemütlich abhängen können. „Der Regieraum war wie ein Kokon“, strahlt Kramer noch heute. Hendrix möchte zudem in allen Räumen eine wohnliche Atmosphäre, ein variierendes Lichtdesign, mit dem man die jeweilige Stimmung beeinflussen kann. Wenn Hendrix seinen „blauen“ Tag hat, möchte er ein blaues Licht, an seinen „roten“ Tagen lieber rote Schweinwerfer, und so weiter.
In weiser Voraussicht holt sich der gewiefte Eddie Kramer die talentiertesten Toningenieure der Stadt ins Team und legt dabei besondere Kriterien an: Dave Palmer, John Jansen, Andy Edlen und Kim King spielen selbst Instrumente und kennen sich daher auch mit Arrangements, Songwriting, etc. aus. Kramer: „Wir suchten gezielt nach Toningenieuren, die gleichzeitig Musiker sind, denn wenn sie selbst Musik machen, haben sie ein anderes Verständnis für das, woran man im Studio arbeitet.“ Als Kramer beginnt, das Hendrix-Livealbum ‚Band Of Gypsys‘ zu mischen, wird beispielsweise Kim King damit beauftragt, die ausufernden Schlagzeugimprovisationen von Drummer Buddy Miles rigoros zu kürzen. Kramer: „Gemeinsam mit Jimi hörten wir die Bänder durch, und ich sah, wie er seinen Kopf senkte und ihn immer wieder ungläubig schüttelte, da Buddys Getrommel einfach kein Ende fand.“ Kim King ergänzt: „Der Schwerpunkt der Aufnahmen sollte ja auf der Gitarre nicht auf den Drums liegen, außerdem hat eine LP bekanntlich nur eine begrenzte Spielzeit.“
JUNI 1970 – ES GEHT LOS!
Am 8. Juni 1970 gibt es dann – endlich – die ersten offiziellen Testaufnahmen in den Electric Lady Studios: Eine Klavierpassage von Tonmeister Eddie Kramer. Eine Woche später ist Steve Winwood zu Gast und liefert sich eine legendäre Jamsession mit Hendrix. Um Mitternacht ruft Kramer seinen Assistenten Dave Palmer an: „Palmer, beweg sofort deinen Arsch hierher! Winwood und Jimi spielen gerade, wir brauchen dich jetzt sofort als Schlagzeug-Engineer.“ Palmer lebt auf der gegenüberliegenden Straßenseite, ist allerdings nur wenig begeistert vom nächtlichen Anruf. Er erzählt:
„Ich sagte zu Kramer: ‚Eddie, ich habe den ganzen Tag gearbeitet, ich bin müde und will schlafen!‘“ Aber Kramer lässt nicht locker und entgegnet: „Wenn du hier morgen noch angestellt sein möchtest, dann komm lieber jetzt sofort!“ Wenige Minuten später steht Palmer tatsächlich auf der Matte. Sein lakonischer Kommentar: „Das ist halt der Nachteil, wenn man direkt gegenüber wohnt!“ Für Hendrix ist das Studio fortan sein Zuhause, sein Wohn- und Schlafzimmer, seine Oase. Ein eigenes Studio bedeutet für ihn die absolute Freiheit das zu tun, was immer er möchte. Und wann immer er es möchte. Studiomanagerin Linda Sharlin kennt aber auch die Schattenseiten dieses Mammutprojekts.
Sie sagt: „Mit der Zeit verlor sich Jimi immer mehr in den vielen Verträgen, den vielen Verpflichtungen. Er war die goldene Gans, die es zu rupfen galt.“ Damit das Studio profitabel arbeitet, werden die Räumlichkeiten inklusive ihres Personals bereits nach kurzer Zeit auch für andere Bands geöffnet. ‚Led Zeppelin III‘, die Nachfolger ‚Houses Of The Holy‘ und ‚Physical Graffiti‘ entstehen ebenso in New York wie der spätere Musikfilm ‚The Song Remains The Same‘ mit Aufnahmen eines Led-Zeppelin-Gastspiels im Madison Square Garden. Als besonders wichtig für das Überleben der Electric Lady Studios erweist sich auch die Zusammenarbeit mit Carly Simon, die ihre erfolgreichsten Songs hier aufnimmt.
Da Hendrix und seine Band zwar unter der Woche permanent anwesend sind, an den Wochenenden jedoch zumeist Konzerte geben, um Geld fürs Studio einzuspielen, nutzen Kramer und seine Assistenten vor allem das kleinere Studio B für Aufnahmen mit anderen Künstlern. Kramer erinnert sich, dass Hendrix mitunter nach einem Gig spätnachts im Studio auftaucht und zuschaut, wie andere Bands etwas aufnehmen: „Jimi stand dann fast schüchtern in einer Ecke des Raumes, schaute uns bei der Arbeit zu, und wenn er irgendwo eine junge Frau entdeckte, die keinen Sitzplatz gefunden hatte, ging er los und holte ihr einen Stuhl. So war Jimi!“
DAS JÄHE ENDE
Im Spätsommer bricht Hendrix nach Europa auf, in England und Deutschland sind einige Konzerte gebucht, mittendrin soll er zusammen mit Canned Heat und Ten Years After auf dem Berlin Super Concert ‘70 und auf dem Love-And-Peace-Festival auf Fehmarn spielen. Sein neues Album ‚Cry Of Love‘ ist gerade in der Mache, man will direkt nach der Rückkehr des Stars daran in New York weiterarbeiten. In Schleswig-Holstein ist die Situation jedoch chaotisch, Hendrix trifft verspätet auf Fehmarn ein, die Buchung der Hotelzimmer funktioniert nicht, und das Wetter ist durchwachsen.
Als er endlich am Sonntag gegen 13.00 Uhr auf die Bühne kommt, ist die Stimmung im Publikum gereizt, vereinzelte Zuschauer rufen sogar „Amis go home!“ Hendrix ist in keiner sonderlich guten Stimmung, spielt eher uninspiriert und verlässt das Festival überstürzt direkt nach seinem Auftritt. Seine Crew wird angewiesen, sämtliches Equipment samt Kabel, etc. unsortiert in den Van der Band zu werfen, um dann am folgenden Tag in London viele Stunden damit verbringen zu müssen, das Knäuel wieder zu entwirren.
Es sind chaotische Tage, mit einem, laut Kramer, offenbar etwas orientierungslosen und mental angeschlagenen Hendrix. In New York bekommt der Tonmeister einen Anruf seines Schützlings aus London, es wird der letzte direkte Kontakt sein zwischen Kramer und Hendrix: „Auf meinem Mischpult stand immer ein rotes Telefon, Jimi rief mich an und fragte: ‚Hey Eddie, können wir die Aufnahmen von ‚Cry Of Love‘ nach London verlegen und hier weiterarbeiten?‘ Ich antwortete: ‚Jimi, wir haben hier in New York ein Eine-Million-Studio!‘ Er darauf: ‚Okay, ja, du hast recht, wir sehen uns dann nächste Woche!‘ Das war das letzte Mal, dass ich mit Jimi sprach.“
Wenige Tage später, am 18. September 1970, stirbt Hendrix in London an seinem eigenen Erbrochenen, einem – wie sich später herausstellt – toxischen Mix aus Schlaftabletten und Alkohol. Ein Desaster, menschlich, künstlerisch und – für die Angestellten der Electric Lady Studios – auch finanziell. Denn um wirtschaftlich überleben zu können braucht das Studio weiterhin Kundschaft. Natürlich machen sofort vor allem Jeffery, dessen gesamtes privates Geld im Studio steckt, und auch Warner Brothers mächtig Druck auf Eddie Kramer, ‚Cry Of Love‘ fertigzustellen und für eine posthume Veröffentlichung freizugeben. Im Mai 1971, fünf Monate nach Hendrix‘ Tod, kommt die Scheibe tatsächlich auf den Markt und sichert letztendlich auch Kramer und den Electric Lady Studios das geschäftliche Überleben.
(Bild: Hillary Johnson (CC BY-NC-ND 2.0))
BIS HEUTE GLÄNZENDES RENOMMEE
Für Jimi Hendrix waren die Electric Lady Studios die Erfüllung seines Traums. Am Schluss des 90-minütigen Dokumentarfilms über ihre Geschichte steht ein Zitat des genialen Musikers, das für ihn kaum treffender sein könnte:
„I have done great things with this place. It has the best equipment in the world. We can record anything we like here. There is one thing I hate about studios usually and that is the impersonality of them. They are cold and blank and within a few minutes I lose all drive and inspiration. Electric Lady is different. It has been built with great atmosphere, lighting, seating and every comfort that makes people think they are recording at home.”
Das Studio muss also auch nach seinem Tod weiterlaufen, so viel steht schon unmittelbar nach den tragischen Ereignissen von London fest. Mit Kramers Hilfe und seinem schon jetzt legendären Ruf kommt es bereits in den frühen Siebzigern zu wichtigen Produktionen wie Cactus − ‚One Way… Or Another‘, Zephyr − ‚Going Back To Colorado‘, Sir Lord Baltimore, später dann zur Zusammenarbeit unter anderem mit Billy Idol, Lou Reed, Joss Stone, Frank Zappa, Lana Del Rey, Kiss, Blondie, Green Day, Run DMC, Foreigner (‚4‘), Patti Smith (‚Horses‘) oder auch Iron Maiden. Zu den wichtigsten Künstlern zählt neben Carly Simon vor allem Stevie Wonder, der hier unter anderem seinen Welthit ‚Superstition‘ aufnimmt. Bis in die Gegenwart hinein ist die Konstruktion des sagenumwobenen Studios unverändert, die Wände, die Schallisolierung, die Dämmung, alles ist noch so, wie es Hendrix damals haben wollte. Robert Margouleff, der Sound-Engineer von Stevie Wonder, behauptet sogar: „Wer heutzutage die Electric Lady Studios betritt, spürt sofort, dass der Geist von Jimi Hendrix noch immer anwesend ist.“
(erschienen in Gitarre & Bass 11/2024)