Es kracht und du hast Angst um deine Boxen. Jetzt blubbert dir eine verfremdete Alien-Stimme entgegen, spitze, scharfe Geräuschfetzen fliegen dir rechts und links um die Ohren … und dann: „Have you ever been to Electric Ladyland?“ fragt Jimi Hendrix. „Nein“, antworte ich. „Aber jetzt bin ich angekommen …“ und höre diese coole Begleitgitarre mit wunderbaren Curtis-Mayfield-Licks, dahinter ein paar singende Melodielinien, die sich langsam nach vorne schwingen.
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Und dann: ,Crosstown Traffic‘, die beste Rock/Rap/Funk-Crossover-Nummer der 60er-Jahre. Das konnte Hendrix mindestens so gut wie ein verzerrtes WahWah-Solo mit Feedback- und Whammy-Traktierung, Stilmittel mit denen er oft ausschließlich belegt wird. Nach dem Applaus kommt der Blues – aber der Hendrix-Blues: avantgardistisch, virtuos, jazzig, formal absolut ungewöhnlich, extrem im Ausdruck … was für eine Musik! Heute wissen wir: ,Voodoo Chile‘ hat die Rock-Welt verändert und die Jazz-Welt über den Hendrix-Fan Miles Davis absolut revolutioniert.
‘Crosstown Traffic’
Wir sprechen über The Jimi Hendrix Experience, eine Band, die mit einer Cover-Nummer einen Single-Hit hatte, danach mit ,Are You Experienced‘ (1967) einen modernen, psychedelischen Blues-Rocker geschaffen hatte, um mit dem Nachfolger ,Axis: Bold As Love‘ noch im selben Jahr die durch den Debüt-Erfolg gewonnene künstlerische Bewegungsfreiheit für wunderbare Klangexperimente und Spielereien zu nutzen, die weit über ,Hey Joe‘ hinausgingen – und um dann mit ,Electric Ladyland‘ (1968) komplett zu explodieren.
Ja, diese Musik und dieses Album, mit dem noch heute jeder Künstler zum Genie erhoben werden würde, egal ob Jazzer, Rocker, Progger oder Alternativer, ist mittlerweile fast 50 Jahre alt. Die am 25. Oktober 1968 veröffentlichten Aufnahmen entstanden allerdings schon früher in mehreren Produktionsphasen im Juli und Dezember 1967, weiter ging’s im Januar ’68 und von April bis August 1968 wurde dann fertiggestellt.
Aufgenommen wurde ,Electric Ladyland‘ in den Olympic Studios, London, außerdem im Record Plant, NYC und den Mayfair Studios, Manhattan. Und verantwortlich für diese Produktion war erstmals der Künstler selbst: Jimi Hendrix hatte anscheinend in den wenigen Monaten seiner erfolgreichen Karriere extrem viel gelernt. Er konnte umsetzen was ihm im Kopf umherschwirrte, ganz sicher aber auch, weil er sich auf die Hilfe der Ton-Ingenieure Garry Kellgren und Eddie Kramer verlassen konnte.
Ob die Auswahl der Singles – ,Burning Of The Midnight Lamp‘, das Dylan-Cover ,All Along The Watchtower‘, das bereits erwähnte ,Crosstown Traffic‘ und zuletzt ,Voodoo Child (Slight Return)‘ Hendrix’ erste Wahl war, könnte man bezweifeln; dass er sich die Cover-Gestaltung komplett anders vorgestellt hatte, ist belegt und wird u.a. im Booklet der empfehlenswerten ,40th Anniversary Collector’s Edition‘ dieses Albums dokumentiert, das ursprünglich als Vinyl-Doppel-LP im Klapp-Cover erschien.
Hendrix wollte darauf weder den nackten Damen-Fan-Club der britischen Veröffentlichung, noch die pseudopsychedelische Porträt-Alternative aus dem brüstefeindlichen Amerika, er hatte sich eine hippieske Idylle mit Musiker-Kollegen und spielenden Kindern gewünscht. In den USA landete ,Electric Ladyland‘ auf Platz 1 der US-Billboard-Charts, in England immerhin auf Position 6 der Verkaufslisten.
Wo „Experience“ draufstand, war mit diesem Album nicht mehr nur Experience drin: Denn die Credits verraten neben Jimi Hendrix („lead vocals, guitar, piano, percussion, comb and tissue paper kazoo, electric harpsichord, bass on ,Have You Ever Been …‘, ,Long Hot Summer Night‘, ,Gypsy Eyes‘, ,1983‘, ,House Burning Down‘, and ,All Along The Watchtower‘“) und seinen beiden Mitmusikern Noel Redding („backing vocals, bass, acoustic guitar and lead vocals on ,Little Miss Strange‘“) und Mitch Mitchell („backing vocals, drums, percussion, lead vocals on ,Little Miss Strange‘“) noch Kollegennamen wie Jack Casady (er spielt den Bass auf ,Voodoo Chile‘), Brian Jones, Al Kooper, Dave Mason, The Sweet Inspirations, Steve Winwood, Buddy Miles u.v.a. Das klingt nach erster Liga, und vor allem hatte der im britischen Exil zum Star gewordene Amerikaner Hendrix hier auch mal wieder ein paar Kollegen aus der alten Heimat im Studio.
Und was für eine Musik ist da entstanden: Der frisierte Rock & Roller ,Come On‘, das hyperexotische ,Gypsy Eyes‘, das klassisch inspirierte ,Burning Of The Midnight Lamp‘, und dann ,Hot Summer Night‘, eine extrem funky rockende Pop-Nummer, Hippie-kompatibel und für Gitarristen ein einziger Vergnügungspark dank der erstmals wirklich exzessiv genutzten Mehrspur-Aufnahmetechnik plus regelmäßig auftauchender Stereo-Spielereien. Die Kinder hatten Spaß!
Noch einen Schritt weiter ging das jazzige Hörspiel ,Rainey Day, Dream Away‘, das im Grunde genommen manchen HipHop-Track der 80er-Jahre skizziert hat, nur in Hand- und Saitenarbeit. Gegen Ende wird das Album immer abgedrehter, trippiger, fantasievoller – solche Sounds hatte man zumindest in der Popmusik noch nie gehört. Und so virtuose, bluesige und trotzdem extrem moderne, soulful & funky gespielte Gitarren, die kannte zumindest der weiße Mitteleuropäer überhaupt nicht.
Beendet wird der Trip durchs Electric Ladyland dann mit dem Bob-Dylan-Song ,All Along The Watchtower‘, einem Meisterwerk im Single-Format – da stimmte einfach alles. Aber Hendrix wäre nicht Hendrix, wenn er nach der Pop-Single nicht noch mal als Soundscaper & Improvisator auf die Bühne käme, als der Mann den wir, solange es noch laute Musik gibt, immer mit einer Wand aus Marshall-Stacks, einer Stratocaster und zwei, drei Effekt-Sounds in Verbindung bringen – plus noch viel, viel mehr, wie dieses geniale Album belegt: ,Voodoo Chile (Slight Return)‘ ist nämlich nicht von Stevie Ray Vaughan, nein auch dieser Song stammt vom genialen Sänger, Gitarristen, Songwriter, Produzenten, Performer Jimi Hendrix, der mit allem kreativ umgehen konnte, außer mit Schlaftabletten und Alkohol. Hendrix erstickte am 18. September 1970 an seinem Erbrochenen. Er wurde nur 27 Jahre alt.