Das Telecaster-Pop-Intermezzo

Steven Wilson: Würde mein Haus abbrennen, würde ich als Letztes die Gitarren retten

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Steven Wilson with a guitar in the studio
(Bild: Lasse Hoile Caroline/Universal)

Eigentlich steht Steven Wilson für PRS-Gitarren, epischen Prog-Rock sowie für eine künstlerische Nähe zu Pink Floyd und King Crimson. Parameter, die er für sein fünftes SoloAlbum ,To The Bone‘ einfach über Bord wirft: Hier liebäugelt der (fast) 50-Jährige mit 80s-Pop, Telecaster-Gitarren und einem neuen, massenkompatiblen Sound. Was es damit auf sich hat, erfuhren wir beim Ortstermin im englischen Hemel Hempstead.

Eine Stadt, ca. 40 Autominuten nördlich von Heathrow, die der britische Guardian ganz nonchalant als „hässlichste City Großbritanniens“ bezeichnet. Zu Recht: Es handelt sich um eine Betonwüste mit viel Verkehr, massivem Leerstand und schlechter Infrastruktur. Eine sogenannte „New Town“, die nach dem zweiten Weltkrieg aus dem Boden gestampft wurde, um die Opfer der deutschen Bombenangriffe auf London umzusiedeln und ihnen ein neues, besseres Leben zu ermöglichen. Eine gescheiterte Utopie, denn das aktuelle kulturelle Highlight von Hemel Hempstead ist ein gigantischer Aldi in der Nähe des schäbigen Hauptbahnhofs. „Jetzt haben die Deutschen doch noch gewonnen“, so der lakonische Kommentar unseres Taxifahrers, der dann aber unvermittelt in die „Old Town“, den kleinen, historischen Teil der Stadt abbiegt. Hier, hinter hohen Steinmauern, befindet sich ein Bauernhof aus dem 17. Jahrhundert. Ein wunderbares Fachwerkhaus, direkt am Fluss, mit gepflegtem englischen Grün, Pavillon und Wintergarten – das Heim von Steven Wilson, seiner japanischen Freundin und seiner verspielten Hundedame.

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Auf den ersten Blick finden sich hier weder Instrumente, noch Tonträger, Devotionalien aus seiner mittlerweile 34 Jahre währenden Karriere oder sonstige Hinweise auf die Profession des Hausherrn. Stattdessen: Bücher, Yogamatten, gerahmte Bilder, eine große Küche und eine fast surreale Normalität. Steven selbst ist wie immer barfuß, bittet seinen Besuch, die Schuhe auszuziehen, und serviert vegane Kekse und Tee mit Soja-Milch. Sein Heimstudio, das aus einem einzigen, extrem aufgeräumten Raum mit Schreibtisch, Computer-Bildschirmen, ein paar Gitarren, Keyboards und Verstärkern besteht, präsentiert er erst gegen Ende der Visite – weil es, so sagt er, „da nicht viel zu sehen gibt“ Stimmt!

Steven Wilson
(Bild: Lasse Hoile Caroline/Universal)

interview

Steven, das mutet hier sehr minimalistisch und übersichtlich an. Aber vor allem: Sehr ordentlich.

Steven Wilson: Ja, und das Lustige ist: Wenn mich Leute nach einem Foto von meinem Studio fragen, fallen die Reaktion meist ziemlich enttäuscht aus. (lacht) Was einfach daran liegt, dass alle ein riesiges SSL Mischpult mit 60 Kanälen erwarten. Nur: Für mich und viele andere Musiker spielt sich heutzutage alles am Computer ab. Ich bin gewohnt und damit groß geworden, Platten am PC zu machen – so arbeitet meine Generation. Ich bin nicht in den 70ern verwurzelt, als die Leute noch in teure Studios gegangen sind. Ich habe gelernt, meine Platten zu Hause im stillen Kämmerlein aufzunehmen. Und ich war jahrelang Indie-Künstler ohne hochdotierten Plattenvertrag, geschweige denn Label, das für teure Studios gezahlt hätte. Von daher habe ich mit minimalem Aufwand gearbeitet – eben mit Computern. Und die sind mittlerweile so fortgeschritten, dass man damit wunderbar klingende Alben produzieren kann. Das ist es, was ich tue – und darin bin ich gut. Würdest du mich aber in ein Studio mit einem großen Mischpult stellen, hätte ich keine Ahnung, wo ich anfangen soll!

Im Ernst?

Steven Wilson: Und ob! Wenn du dir die Fotos von dem Studio anschaust, in dem ich aufgenommen habe, dann war das ebenfalls ein ganz kleiner Raum – wenn auch mit einem riesigen Mischpult. Ich habe mit Paul Stacey gearbeitet, der noch Teil der Generation ist, die Platten mit analogem Mischpult gemacht haben. Er kennt sich da aus – ich aber nicht. Wenn ich in so ein Studio gehe, brauche ich jemanden, der weiß, was er tut. Aber wenn du mich in einen kleinen Raum mit einem Computer stellst, kann ich Alben auf meine Art machen.

Bei dir zu Hause hängen wirklich nur ein paar Gitarren an der Wand, es stehen ein paar Verstärker auf dem Boden, und in einer Ecke finden sich ein Keyboard und ein Moog. Ist das alles, was du für Demos brauchst?

Steven Wilson: Mehr brauche ich wirklich nicht. Ich habe ein paar Keyboards, Gitarren und Amps und schaffe es, hier meinen Gesang und meine Gitarrenparts aufzunehmen. Das einzige, wofür ich einen externen Raum brauche, ist das Schlagzeug. Aber das bedeutet nicht, dass es keinen Spaß macht, sich mal ein paar Monate in ein Studio einzubuchen und in einer ganz anderen Umgebung zu experimentieren. Das tue ich immer noch gerne. Nur: Wenn es rein zeitlich oder finanziell nicht geht, kann ich fast alles in diesem kleinen Raum erledigen.

Steven Wilsons Studio
(Bild: Lasse Hoile Caroline/Universal)

Die Drums könntest du ja auch im Pavillon oder Wintergarten unterbringen …

Steven Wilson: Könnte ich. Aber das wäre eine ziemliche Investition, die mit 25 Mikrofonen und Pre-Amps einhergehen würde. Das muss nicht sein. Da macht es viel mehr Spaß, sich irgendwo einzumieten und das unter einfacheren Bedingungen zu bewerkstelligen.

Dein Arbeitszimmer firmiert unter dem Titel „No Man‘s Land“?

Steven Wilson: Im Grunde ist No Man‘s Land immer da, wo ich gerade bin. Und das aktuelle Setup ist so etwas wie die vierte oder fünfte Inkarnation.

Strangeways, das Studio von Paul Stacey, ist ebenfalls sehr beengt – und auf Fotos von den Sessions sieht man dich in einem riesigen Chaos an Gear. Das exakte Gegenteil von dem, was du normalerweise gewohnt bist? Die geballte Intensität?

Steven Wilson: In der Tat! Pauls Studio ist in vielerlei Hinsicht das komplette Gegenteil von meinem. Denn mein Studio ist sehr Feng-Shui. Ich weiß immer, wo alles ist, und alle Kabel sind sauber aufgerollt. Da bin ich Ordnungsfanatiker.

Steven Wilson
(Bild: Lasse Hoile Caroline/Universal)

Wie hast du Paul kennengelernt?

Steven Wilson: Wir haben gemeinsame Freunde und sind beide Gitarristen. Paul ist sogar ein sehr guter und hat schon mit den Black Crowes, Oasis und Tom Jones gespielt.

Als Session-Musiker?

Steven Wilson: Ja, er ist Produzent, Techniker, Session-Musiker und Gitarrist. Er macht, was gerade gebraucht wird. Er wurde mir über die Jahre von gemeinsamen Freunden empfohlen. Sie meinten: „Du solltest Paul kennenlernen, ihr würdet gut miteinander klarkommen, weil er sehr kreativ ist.“ Doch als sein Name zum ersten Mal auftauchte, hatte ich noch meine Band – das Line-Up, mit dem ich auf ‚The Raven That Refused To Sing‘ gearbeitet habe. Insofern dachte ich: „Ich habe meine Jungs, ich produziere meine Alben alleine und brauche keine externe Hilfe.“

Doch als ich anfing, mich mit diesem Album zu befassen und es eher als Solo-Ding angehen und mich mehr auf das Songwriting und das Spielen an sich konzentrieren wollte, da war mir klar: Dies ist der richtige Zeitpunkt, um jemanden für eine Zusammenarbeit zu finden. Eben wie einen Co-Produzenten. Denn ich wusste, dass ich da viel mehr spielen würde. Und auf den letzten beiden Alben habe ich das nicht getan. Da habe ich mich im Studio eher zurückgelehnt und darauf konzentriert, die Band zu produzieren. Sie hat die Musik gelernt und gespielt.

Und diesmal wusste ich, dass ich mehr Gitarre, Keyboards und Bass übernehmen würde. Die stammen fast alle von mir. Was bedeutete, dass ich zumindest einen tollen Techniker brauchen würde. Von daher war es der richtige Zeitpunkt, um es mit Paul zu probieren. Wir haben uns ein paar Monate vorher getroffen, einen Tag lang über Musik geredet und uns die Sachen angehört, die als Referenzpunkte dienten. Und siehe da: Er ist ebenfalls ein großer Fan dieser Alben. Insofern haben wir uns sofort verstanden und hatten konkrete Vorstellungen davon, was für ein Album wir machen wollten.

Steven Wilson
(Bild: Lasse Hoile Caroline/Universal)

Was habt ihr dann gemeinsam zu deinen Demos hinzugefügt? Was hat da noch gefehlt?

Steven Wilson: Im Grunde mache ich gut ausgearbeitete Demos – einfach, weil ich das muss. Ich muss das gesamte Bild hören können. Ich bin nicht der Typ, der ein Demo mit akustischer Gitarre und improvisiertem Gesang aufnehmen kann. Das funktioniert bei mir nicht. Deshalb arbeite ich sie genau aus, sodass ich höre, wie und ob die Keyboards, der Bass und das Schlagzeug funktionieren. Aber natürlich ist da später immer noch eine Menge Platz zum Experimentieren. Und Paul hat immer konstruktive Vorschläge. Insofern würde ich sagen: Wir haben versucht, wirklich alles neu aufzunehmen, und manchmal haben wir entschieden, dass das Demo doch am besten war. Was z. B. für einige Gesangspassagen und für einige Gitarrenparts gilt, die einfach unschlagbar waren. Sie besitzen also durchaus das Potential, dass du am Ende des Tages sagst: Wir kriegen das nicht besser hin, als es war. Dafür braucht man einen guten, offenen Produzenten, der in der Lage ist, das anzuerkennen.

Auch auf der Tour werde ich mehr Gitarre spielen als in den letzten Jahren. Eine Menge Soli auf der neuen Platte stammen von mir und allein das ist anders als auf den vorherigen zwei Alben, auf denen sie alle von Guthrie Govan kamen. Diesmal sind sie genau wie der Gesang sehr persönlich und distinktiv.

Wirst du wieder die alte Band dabei haben oder völlig neue Leute?

Steven Wilson: Es wird größtenteils die alte Band sein. Als da wären Craig Blundell am Schlagzeug, Nick Beggs am Bass und Adam Holzman an den Keyboards. Die Gitarristen musste ich wechseln, weil sie jetzt mit Hans Zimmer und Roger Waters touren. Also Guthrie mit Zimmer und Dave Kilminster mit Waters. Ich bin gerade dabei, mir jemand Neues zu suchen.

Steven Wilson
(Bild: Lasse Hoile Caroline/Universal)

Könntest du dir vorstellen, auch mal mit einem großen, bekannten Produzenten zu arbeiten? Oder steht das nicht zur Debatte?

Steven Wilson: Oh, ich bin immer an Kollaborationen interessiert. Eine der besten Sachen an meinem Job ist es ja, Leute aus einem anderen Background, aus anderen Kulturen und mit anderen musikalischen Geschmäckern zu treffen und mit ihnen zu arbeiten. Ich lasse mich gerne überraschen, was sie zu meiner Musik beisteuern können. Denn natürlich ist es toll, ein Solo-Künstler zu sein. Und sei es nur, weil du jeden um dich austauschen kannst. Aber der einzige, den du nicht austauschen kannst, bist du selbst. Insofern ist eine Sache, die man tun kann, um es für sich selbst frisch zu halten, mit anderen zu kollaborieren. Ich bin da offen. Sehr offen sogar.

Eine Haltung, die du dir auch von anderen wünschen würdest? Etwa von der Fachpresse, die dich immer in der Prog-Rock-Schublade abzulegen scheint? Sind radiofreundliche Songs wie ‚Permanating‘ eine kleine Rebellion gegen dieses Image?

Steven Wilson: Im britischen Radio ist es schon jetzt der meistgespielte Song meiner gesamten Karriere. Was allerdings nicht viel heißt, denn bislang gab es nur drei oder vier Einsätze bei BBC 2, dem größten Sender des Landes. Was für mich jedoch ein kleines Wunder ist, denn früher wurde ich dort nie gespielt. Insofern ist es ein netter Gedanke, dass dieser Song einigen Leuten die Tür zu meiner Musik öffnet. Außerdem bin ich stolz auf ihn. Es ist nicht so, als würde ich da etwas vortäuschen, das ich nicht bin.

Dann willst du jetzt – überzogen formuliert – in den Mainstream-Pop?

Steven Wilson: Warum nicht? (lacht) Es ist mein Kindheitstraum, eine ähnliche Pop-Ikone zu werden wie Prince oder David Bowie, mit deren Musik ich aufgewachsen bin. Wie viele Kids, wollte auch ich ein Stück davon. Und ein Teil von mir arbeitet immer noch daran, den Mainstream-Pop zu erreichen. Allerdings ohne blöde Songs zu schreiben oder faule Kompromisse einzugehen, sondern wie in den 80ern, der goldenen Zeit der Popmusik, in der man noch ambitioniert und kreativ sein konnte. In der man den Hörer mit ernsten Texten, anspruchsvoller Musik und einer cineastischen Produktion konfrontieren – aber durchaus einen Nummer-1-Hit oder ein Nummer-1- Album haben konnte. Das ist im 21. Jahrhundert unmöglich.

Steven Wilson
(Bild: Lasse Hoile Caroline/Universal)

equipment

Stimmt es, dass du für dieses Album und diesen Anspruch ein komplett anderes Setup verwendet hast als sonst? Und liegt das an all den Sachen, die dir Paul offeriert hat?

Steven Wilson: Es lag nicht nur an Paul. Ich hatte von Anfang an einen anderen Anspruch, was den Gitarrensound betrifft. Und das begann mit der Tatsache, dass der allererste Song, den ich für dieses Album geschrieben habe – ,People Who Eat Darkness‘ – auf einer Telecaster entstanden ist. Ich hatte zwar ein Exemplar, das ich vor etwa 15 Jahren gekauft hatte, aber seitdem stand es einfach im Studio und setzte Staub an.

Wie kommt‘s?

Steven Wilson: Ich habe mich irgendwann entschieden: Ich sollte eine Telecaster haben – weil das Gitarristen halt so tun. Also wenn man diesem Berufsstand angehört, sollte man eine Tele, eine Les Paul und eine Stratocaster haben. Deswegen brauchte ich auch eine. Aber irgendwie konnte ich nie eine Beziehung dazu aufbauen – bis ich vor zwei Jahren mit diesem Album anfing. Da war ich eines Tages im Studio und wollte einen Song schreiben. Doch all meine anderen Gitarren, meine PRS und die übrigen Teile, waren noch auf Tour oder sie waren eingelagert. Die einzige Gitarre, die ich zur Verfügung hatte, war die Telecaster, die ich vorher so ignoriert hatte. Und was ist passiert?

Beim Spielen habe ich mich regelrecht in sie verliebt. Und daraus resultiert der Sound dieses Albums – ich habe fast alles mit der Telecaster geschrieben. Was ein ganz anderes Biest im Vergleich zu den Gitarren ist, die ich sonst spiele – zu den PRS. Das Besondere an der Telecaster ist ihre Aggressivität – und zwar ohne, dass man viel dazu beitragen muss. Sie hat einen metallischen, aggressiven Sound. Und ich habe mich wirklich in sie verliebt. Sie klang ganz anders als das, was ich normalerweise gewohnt bin. Und die meisten Gitarrenparts auf dem Album habe ich auf Telecasters eingespielt. Paul hat nämlich rund 30 Telecasters – kein Witz! Als ich danach fragte, meinte er nur: „Welche willst du: Die 53er, 62er oder 74er – mit diesem oder jenem Pickup?“ Das ganze Programm. Und bei mir gehen solche Aufzählungen links rein und rechts wieder raus. Ich habe dann einfach gefragt, ob ich sie mir mal anhören könnte. Und 75-80 Prozent der Gitarrensounds auf diesem Album sind entweder auf meiner Telecaster oder auf Pauls Schmuckstücken entstanden.

Würde dieses Album anders klingen, wenn du auf die bewährte PRS zurückgegriffen hättest?

Steven Wilson: Ich denke schon. Der Sound bei einem Stück wie ,People Who Eat Darkness‘ ist komplett geprägt von diesem fast punkingen Gitarrenton. Obwohl er nicht mit viel Distortion versehen ist. Er klingt einfach richtig aggressiv, aber nur weil der Sound der Telecaster an sich bereits sehr aggressiv ist. Und ich habe keine Zweifel: Hätte ich nicht zufällig an diesem Tag zu dem Instrument gegriffen, wäre der Song nie entstanden – oder er wäre ganz anders ausgefallen. Es ist ein waschechter Telecaster-Song.

Steven Wilson
(Bild: Lasse Hoile Caroline/Universal)

Auf den Studio-Fotos ist zudem eine semi-akustische Gitarre zu sehen, die ziemlich alt wirkt …

Steven Wilson: Ich weiß nicht mehr genau, was für ein Modell das ist. Aber wir haben sie auf dem Song ‚Blank Tapes‘ verwendet. Eine Hollowbody. Im Ernst: Ich habe etwa zehn verschiedene Gitarren innerhalb einer Stunde ausprobiert. Denn Paul kam immer wieder mit einer neuen an. Nach dem Motto: „Versuch mal diese, versuch mal jene.“ Und manchmal war es so, dass ich hinterher gar nicht mehr wusste, welche der vielen Gitarren wir letztlich für einen Track verwendet haben – ich habe komplett den Überblick verloren, weil da immer wieder etwas anderes in meinen Händen war. Das einzige, was ich noch weiß, ist, dass wir ‚Blank Tapes‘ mit dieser Semi-Akustischen aufgenommen haben.

Wie reproduzierst du das auf der Bühne, wenn du nicht mehr weißt, welche Gitarre du für welches Stück benutzt hast?

Steven Wilson: Ich habe keine Ahnung! Ehrlich! Aber zum Glück geht es beim live spielen ja nicht so sehr darum, das zu reproduzieren, was man im Studio gemacht hat. Es ist eine ganz andere Disziplin. Und es wird definitiv ein anderer Sound sein – das muss er auch. Man kann schließlich nicht 50 verschiedene Gitarren mit auf Tour nehmen. Da muss man sich auf zwei oder drei konzentrieren, von denen man denkt, sie haben die Vielseitigkeit und Flexibilität, um die meisten der benötigten Sounds abzudecken. Zumindest mache ich das so. Es hat etwas von einem Kompromiss und einer Simplifizierung – und sei es nur aus Bequemlichkeit. Ich meine, wenn ich Neil Young wäre, würde ich locker 50 Gitarren mit auf Tour nehmen. (lacht) Aber ich bin Steven Wilson – ich muss es möglichst simpel halten.

Wirst du auf Tour denn trotzdem PRS-Gitarren dabeihaben?

Steven Wilson: Definitiv ein paar PRS, aber auch mindestens zwei oder drei Telecasters. Ansonsten bin ich mir noch nicht ganz sicher. Wir fangen erst in den nächsten Monaten mit den Proben an. Da ist also noch ein bisschen Zeit.

Wie groß ist deine Gitarrensammlung mittlerweile? Über wie viele Modelle reden wir?

Steven Wilson: Ich habe keinen blassen Schimmer, wie viele es mittlerweile sind. Die meisten sind irgendwo eingelagert. Und Ian Bond, mein Live-Sound-Mensch, kümmert sich darum. Er ist verantwortlich für das Lager, in dem sich all mein Kram befindet. Ich denke und ich hoffe, ich kann ihm vertrauen, denn ich habe da keinen Überblick. Ich weiß nur: Es ist keine riesige Sammlung – einfach, weil ich kein Sammler bin. Und das hängt damit zusammen, dass ich mich nicht so sehr als Gitarrist, sondern eher als Produzent und Songwriter sehe, der zufällig noch Gitarre spielt. Aber natürlich hat sich da über die Jahre einiges angesammelt. Eben Gitarren, die man mir geschenkt oder im Rahmen von Endorsement-Deals überreicht hat. Aber auch solche, die ich selbst gekauft habe – wie besagte Telecaster und meine erste Paul Reed Smith. Ich schätze, es sind insgesamt 25-30 Gitarren, was aber auch Bässe, akustische Gitarren und Bariton-Gitarren mit einschließt.

Demnach sind Gitarren reine Werkzeuge für dich – du hast keine tiefere emotionale Beziehung zu ihnen?

Steven Wilson: Lass es mich so sagen: Würde mein Haus abbrennen, was hoffentlich nie passiert, dann wäre das Letzte, was ich zu retten versuche, die Gitarren. Im Ernst! (lacht) Ich wäre vielmehr darum bemüht, meine Vinyl-Sammlung zu retten, sogar meine CDs und natürlich die Keyboards. Die Gitarren sind leichter zu ersetzen. Obwohl: Ich habe natürlich auch ein paar Modelle, zu denen ich eine engere Beziehung hege. Einfach, weil sie einen besonderen Klang haben. Wie die Telecaster, auf der ich nun dieses Album geschrieben habe. Die besitzt zumindest einen sentimentalen Wert für mich.

Steven Wilson
(Bild: Lasse Hoile Caroline/Universal)

einflüsse

Hast du Gitarrenhelden oder zumindest Vorbilder? Und wenn ja: Hast du sie je getroffen?

Steven Wilson: Nicht wirklich … Meine Helden sind keine Gitarristen, sondern eher musikalische Filmemacher – Leute, die mir als maßgeblich für eine komplette musikalische Vision erscheinen. Wie Frank Zappa, Roger Waters oder auch Joni Mitchell. Von den traditionellen Gitarrenhelden war ich nie ein großer Fan. Ich meine, ich liebe Pink Floyd und ich stehe total auf das, was David Gilmour gemacht hat. Aber letztlich bevorzuge ich jemanden wie Roger Waters, den Schreiber, den Konzeptionalisten, den Architekten dieser Band. Das fand ich immer spannender als reine Gitarristen. Klar, Gilmour ist toll. Genau wie John McLaughlin und Robert Fripp. Aber ich stehe auch auf Post-Punk und Leute wie Robert Smith von The Cure, Bernard Sumner von Joy Division und John McGeoch von Magazine.

Mit einem sehr eigenständigen, unkonventionellen Sound, der kaum zu kopieren ist?

Steven Wilson: Ganz genau – es sind geniale Dilettanten, die einen unverkennbaren Sound und Ansatz verfolgen. Jemanden wie Geordie Walke von Killing Joke erkennt man sofort. Und ich habe mich schon immer mehr von den Sound-Design-Elementen des Gitarrenspiels angezogen gefühlt, als von der Technik an sich. Diese Eddie-Van-Halen-Sache ist komplett an mir vorbeigegangen. Das sage ich, weil eine Menge der Gitarristen, die über die Jahre in meiner Band gespielt haben, da ganz anders denken. Für sie waren Eddie Van Halen und Steve Vai regelrechte Götter mit Saiten. Mich haben sie dagegen völlig kalt gelassen.

Ich empfinde diese ganze technische Sache als irrelevant. Da höre ich mir lieber jemanden wie David Gilmour an, der gerademal zwei Noten spielt, aber damit mein Herz bricht, als den Typen von Dream Theater, der eintausend Noten spielt, die mir überhaupt nichts bedeuten. So zu spielen ist, als ob man zu schnell redet. Wie kann man richtig kommunizieren, wenn man ein Trommelfeuer an Worten absondert – ohne jede Leidenschaft? Dafür habe ich mich nie interessiert. John McLaughlin ist zwar auch sehr technisch und durchaus schnell, aber mit einer unglaublichen, leidenschaftlichen Energie. Die liebe ich.

Im Februar/März bist du auf Deutschland-Tour. Was erwartet uns diesmal?

Steven Wilson: Ich bin gerade dabei, erste Ideen zu entwickeln – und das ist eine Menge Arbeit. Schließlich bin ich bekannt dafür, dass ich ein sehr starkes visuelles Element habe. Von daher muss ich mich mit meinen Video- und Licht-Jungs hinsetzen und die Präsentation besprechen. Eben wie wir das noch eine Spur besser und größer hinkriegen, damit es noch beeindruckender ist und noch mehr von einem Spektakel hat. Darauf verwende ich momentan den Großteil meiner intellektuellen Kapazität – wenn man das so sagen kann: Auf die Vorbereitung der Show, für die wir ab Anfang Januar proben.

Steven Wilson
(Bild: Lasse Hoile Caroline/Universal)

diskografie

– Solo:

Insurgentes (Kscope, 2009)

Grace For Drowning (Kscope, 2011)

The Raven That Refused To Sing (Kscope, 2013)

Hand. Cannot. Erase. (KScope, 2015)

To The Bone (Caroline, 2017)

– mit Porcupine Tree:

On The Sunday Of Life (Delirium, 1992)

Up The Downstair (Delirium, 1993)

The Sky Moves Sideways (Delirium, 1995)

Signify (Delirium, 1996)

Stupid Dream (Kscope, 1999)

Lightbulb Sun (Kscope, 2000)

In Absentia (Lava/Atlantic, 2002)

Deadwing (Lava/Atlantic, 2005)

Fear Of A Blank Planet (Roadrunner, 2007)

The Incident (Roadrunner, 2009)

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(erschienen in Gitarre & Bass 12/2017)

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