(Bild: Matthias Mineur)
Gespräche mit Steve Morse sind immer ganz besondere Ereignisse. Nicht nur, weil der Gitarrist von Deep Purple und Dixie Dregs ein überaus freundlicher und bescheidener Zeitgenosse ist, sondern auch, weil er stets offen und ehrlich seine Meinung sagt. Das dürfte in der dritten wichtigen Band seiner Karriere, der international besetzten Prog-Rock-Allstar-Formation Flying Colors, auch dringend notwendig sein, denn mit Schlagzeuger Mike Portnoy (Ex-Dream Theater, Winery Dogs, Transatlantic), Keyboarder Neal Morse (Spock´s Beard, Transatlantic) und Sänger Casey McPherson stehen dem Amerikaner – neben Dixie-Dregs-Bassist Dave LaRue – ungemein starke Charaktere zur Seite.
Aus diesem Grunde war offenbar auch die Produktion des dritten Flying-Colors-Albums ‚Third Degree‘, das seit Ende letzten Jahres in den Läden steht, ein zeit- und nervenaufreibender Prozess mit vielen Diskussionen und teils gegensätzlichen Ansichten.
Genau darüber, aber auch über seinen unnachahmlichen Gitarrensound, die spielerischen Parallelen zu seinen weiteren Bands und über die Zukunft von Deep Purple haben wir uns mit dem 65-Jährigen unterhalten.
Interview
Angesichts des erneut überaus gelungenen Albums ‚Third Degree‘: Haben sich Flying Colors seit der Gründung vor elf Jahren musikalisch verändert? Und welchen Einfluss hat dies auf deine Art des Songwritings?
Oh, eine sehr gute Frage! Darüber muss ich kurz nachdenken. Nun, das Songwriting für und mit Flying Colors ist für mich immer der größte Spaß mit dieser Band. Denn ich habe zwar mein Leben lang komponiert, aber mir war früher nicht bewusst, dass das Zusammenwirken unterschiedlicher Ideen einen solch positiven Einfluss auf das Ergebnis hat und viel besser funktioniert, als wenn ich es allein versucht hätte. Ich mag Teamwork, so wie es übrigens auch bei Deep Purple herrscht.
Bei den Flying Colors spiele ich etwas, das ich schon als junger Musiker geliebt habe, nämlich progressive Rockmusik mit jazzigen und poppigen Einflüssen. Und die entwickelt sich bei den Flying Colors so prächtig, weil jeder in der Band das Gefühl hat, auf diese Weise arbeiten zu wollen. Das Ergebnis ist dementsprechend so bunt und vielfältig, wie man es wohl nur mit dieser Band hinbekommt. Ich glaube, ich habe noch nie dermaßen viele Ideen bearbeitet und aufgenommen wie für das neue Flying-Colors-Album. In wirklich jeder Sekunde der Musik passiert etwas Neues, die Dichte an Ideen ist so groß wie kaum woanders.
Es war spannend zu sehen, wie sich ein bereits existierender Song verändert und plötzlich viel frischer klingt, wenn ich hier und da eine Akkordstruktur ändere oder – was ich als meine zweite Hauptaufgabe ansehe – Rhythmus-Gitarren beisteuere, die nicht immer typisch für Rockmusik sind. Und wann immer es Freiräume gab, nutzte ich die Chance für kleine Melodien, die als Ergänzung oder bewusste Gegenparts zum Gesang fungieren.
Welche Rolle spielt die Gitarre generell auf dem Album?
Na ja, zunächst einmal wollten wir, dass Gesang und Musik eine Einheit bilden und nicht miteinander konkurrieren. Deshalb habe ich großen Wert auf möglichst melodische Tonfolgen gelegt, übrigens auch bei den Soli, bei denen – neben dem üblichen improvisatorischen Anteil – eingängige Hooklines gefordert waren. Ich habe einfach die melodischsten Passagen behalten und die etwas mechanischer klingenden Parts verworfen. Ich denke, dass die Kritiker mir eine gute Arbeit attestieren werden. (lacht) Mein Ziel war, die Gitarre wie eine zweite Gesangsstimme einzusetzen.
Haben Gitarrenmelodien und Soli bei den Flying Colors eine größere Bedeutung als bei Deep Purple, wo von dir schwerpunktmäßig Hooks und Riffs gefordert sind?
Zunächst einmal haben die Soli in beiden Bands die gleiche Funktion: Sie geben dem Gesang eine Pause. Dementsprechend sollte das Solo natürlich genauso interessant klingen wie die Gesangsmelodie, damit der Song an der betreffenden Stelle nicht durchhängt. Das ist in beiden Bands eine Herausforderung.
Natürlich spiele ich bei Deep Purple stilistisch anders als bei Flying Colors, aber vor allem sind die Soli, für die sich Deep Purples Produzent Bob Ezrin entscheidet, völlig anders als diejenigen, die auf einem Flying-Colors-Album landen. Der Grund dafür ist, dass es bei Flying Colors kein bereits fest verankertes Publikum gibt, da die Band noch so neu ist. Wir wissen, dass unsere Fans die Kraft, die Leidenschaft, die Dynamik, aber auch die Überraschung lieben.
Und dass sie Komplexität tolerieren, solange sie nicht völlig aus dem Ruder läuft. Gleichzeitig kann man Prog-Fans auch ganz simple Ideen präsentieren, wenn sie stark genug sind. Also hat man weit mehr Möglichkeiten, ungewöhnliche Taktarten oder Akkordstrukturen auszuprobieren. Die Soli, die ich bei beiden Bands anbiete, haben all dieses, denn ich versuche so vielseitig wie möglich abzuliefern. Der Unterschied zwischen Flying Colors und Deep Purple ist anschließend nur, welche meiner Solo-Angebote vom Produzenten ausgewählt oder zusammengesetzt werden.
Bei Deep Purple improvisiere ich dies und das, und dann sitzt da einer neben mir, der sagt: „Stopp, das hat mir gefallen, biete mal mehr davon an!“ Bei Flying Colors produzieren wir uns selbst, also wird von meinen Soli nicht so viel gekürzt wie bei Deep Purple. Bei Flying Colors gibt es einfach mehr Freiheiten für unterschiedliche Ideen.
Hat das auch Einfluss auf dein Equipment im Studio, auf den generellen Sound, die bevorzugten Frequenzen, und so weiter?
Ja, natürlich gibt es da Unterschiede. Bei Deep Purple spiele ich für die harten Passagen überwiegend mein Music-Man-SM-Y2D-Modell, das einen besseren Rhythmus-Sound, mehr Rock in seiner DNA hat, und für die melodischeren, softeren und bluesigeren Parts mein Steve-Morse-Signature-Modell. Der Engineer stellt an meinem Verstärker immer einen deutlich höheren Zerrgrad ein, als ich dies bei Flying Colors mögen würde. Im Grunde genommen mag ich keine allzu starke Verzerrung. Bei Flying Colors spiele ich ausschließlich mein Signature-Modell mit den vier Pickups…
… in der Konfiguration Humbucker – Singlecoil – Singlecoil – Humbucker.
Richtig, es handelt sich um den Prototyp, den ich seit vielen Jahren spiele. Übrigens: Möglicherweise wird irgendwann eine zweite Version des neuen Flying-Colors-Albums erscheinen, auf dem ich auch ein paar andere Gitarren spiele, sowohl andere E- als auch andere Akustik-Gitarren. Die Idee dahinter ist, den Fans einen Einblick in die Produktion der Scheibe zu geben, und was so alles im Hintergrund abläuft, wenn man den Gesang weglässt. Die Version der Scheibe, die sie mir zur Kontrolle geschickt haben, ist unglaublich vielschichtig und abwechslungsreich.
Hast du für deine Gitarrenaufnahmen andere Mikrofone gewählt?
Die Wahl der Mikrofone ist bei Flying Colors im Grunde genommen ganz ähnlich wie bei Deep Purple, nur mit besserem Recording-Equipment, denn wir haben in einem ziemlich teuren Studio in Nashville aufgenommen. Dadurch hatten wir einen wunderbar cleanen, komprimierten Sound, der beim Mixen tolle Resultate lieferte. Bei Deep Purple verwende ich nur einen „Wet Amp“, einen „Dry Amp“ und mein Pedalboard, wenn ich also ein Delay haben möchte, regle ich das einfach über mein Volume-Pedal. Ich mag das, weil es absolut natürlich klingt.
Gilt das auch für die anderen Soundeffekte deiner Gitarren?
Nur teilweise. Ein paar sehr abgefahrene Effekte haben wir schon beim Aufnehmen eingefügt. Man hört diese abgefahrenen Sounds im Endmix zwar kaum, aber sie sind da, und man würde sie vermissen, wenn man sie weggelassen hätte.
Mein Engineer ist selbst Gitarrist und brachte ein paar sehr schöne Pedale mit, als ich meine Gitarren eingespielt habe. Es gibt einen sehr guten Flanger, den ich für ein paar Effekte eingesetzt habe, und auch ein sehr gutes WahWah, das im Hintergrund zu hören ist. Aber die meisten Soli sind einfach nur meine Gitarre und die beiden Amps.
Wie einigt man sich eigentlich generell in einer charakterlich so stark besetzten Band, wenn man unterschiedlicher Meinung ist? Wird demokratisch abgestimmt? Streitet ihr manchmal? Werden Ideen wieder verworfen, weil ihr euch nicht einigen könnt?
Wenn wir uns absolut nicht einigen können, wird eine Idee oder ein Song erst einmal beiseitegelegt. Andererseits, was ich in meinem Leben gelernt habe: Erzähl mir nicht, dass eine Idee nichts taugt! Probiere sie aus und stehe ihr zunächst einmal unvoreingenommen gegenüber! Das sind die Regeln, die ich jeder Band empfehle, in der ich spiele. Gib jeder Idee eine reelle Chance, und erst wenn sie absolut nicht funktioniert, kannst du sie verwerfen. Manchmal muss man sie den Kollegen erst einmal genau erklären, bevor sie verstehen, was man damit bezweckt.
Hast du bei Flying Colors eigentlich musikalische Lektionen lernen können, die du in dieser Form vorher von Dixie Dregs und Deep Purple nicht kanntest? Dinge, von denen du selbst überrascht warst?
Wow, du hast wirklich einige sehr interessante Fragen parat! Kann ich darauf antworten: Meine Lieblingssaiten sind von Ernie Ball und meine Lieblingsfarbe ist Blau? Nein! Lass mich kurz darüber nachdenken: Nun, ich habe bei den Flying Colors festgestellt, wie sehr ich selbst davon profitiere, wenn ich mich auf andere Musiker, andere Songschreiber und andere Ideen einlasse. Bei den Dixie Dregs habe ich fast immer komplette Songs angeliefert und sie auf die Stärken meiner Bandkollegen ausgerichtet. Bei Flying Colors geht es mehr noch als bei Deep Purple um Teamwork, wobei ich auch bei Purple sehr darauf fokussiert bin, die Ideen der anderen zu kanalisieren. Mit jeder weiteren Band, in der ich gespielt habe, bin ich ein besserer Teamplayer geworden.
Und genau das würde ich auch nutzen, wenn wir noch einmal ein neues Dixie-Dregs-Album aufnehmen. Ich würde nicht nur meine Songs auf die Stärken der anderen Bandmitglieder ausrichten, sondern auf die kreativen Stärken der anderen schon zu Beginn einer Produktion zurückgreifen. In dieser Hinsicht habe ich ausgesprochen viel bei Flying Colors gelernt.
Steve, zum Ende unseres Gesprächs möchte ich dich noch kurz auf die aktuelle Situation bei Deep Purple ansprechen. Stimmt es, dass ihr euch mehr oder minder in der Verabschiedungsphase befindet?
Um ehrlich zu sein bin ich in einer etwas schwierigen Situation, denn das, was ich dazu sagen würde, könnte im nächsten Moment von einem meiner Bandmitglieder widerrufen werden. Es gibt Musiker bei Deep Purple, die offenbar glauben, 200 Jahre alt zu werden, und die vorhaben, bis zu ihrem 199. Lebensjahr zu touren. Und vielleicht sogar noch länger, ich weiß es nicht. Meine Haltung ist eine andere. Ich sage: Wir sind bis jetzt eine starke Band gewesen, wir sollten abtreten, bevor die Leistung nicht mehr stimmt. Man kann nicht rennen wollen, wenn man nicht einmal mehr richtig laufen kann. Du weißt, was ich meine, oder?
Absolut!
Dann und wann sprechen wir darüber, und das einzige, was mir bleibt, ist mich in Form zu halten. Also übe ich härter und länger als jemals zuvor in meinem Leben, um die geforderte Leistung weiterhin abrufen zu können. Dabei muss ich mich mit den altersbedingt üblichen Problemen meines Rückens herumschlagen, andere Techniken zur Entlastung meines Handgelenks lernen. Und das alles, um das hohe spielerische Niveau aufrecht zu erhalten.
Ich möchte, dass die Leute, die zu unseren Shows kommen, sagen: „Ich war bei einer bis zuletzt starken Band, die man nicht kopieren kann.“ Zurzeit sind wir das ja auch tatsächlich noch, aber ich möchte, dass wir den richtigen Zeitpunkt zum Absprung nicht verpassen. Insofern kann ich dir deine Frage zurzeit nicht beantworten, weil wir genau dieses Thema momentan intern diskutieren. Ich weiß, dass die anderen gerne weitermachen würden.
Auch mit einem weiteren neuen Studioalbum?
Ja, das auf jeden Fall.
Danke Steve, für das interessante und ehrliche Gespräch!
Ich danke dir, Matthias, und ich grüße alle deine Kollegen und eure Leser, denn es ist toll zu sehen, wie großartig ihr uns Musiker in all den Jahren unterstützt habt! Ihr leistet einen wichtigen kulturellen Beitrag!
(erschienen in Gitarre & Bass 12/2019)