Andreas Kisser & Paulo Xisto Pinto

Interview: Sepultura

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(Bild: Nuclear Blast, Marcos Hermes)

Glaubt man den bisherigen Reaktionen aus Presse und Anhängerschaft, so könnten Sepultura mit ihrem neuesten Album ‚Quadra‘, das im Februar 2020 auf den Markt kam, für ähnliche Furore sorgen wie einst mit ihrem Klassiker ‚Roots‘. Denn die Band um Gitarrist Andreas Kisser und Bassist/Gründungsmitglied Paulo Xisto Pinto scheut sich auf ihrer aktuellen Scheibe nicht vor künstlerischen Risiken und betritt sogar – im ansonsten eher eng gesteckten Sepultura-Klangkosmos – echtes Neuland.

Wie die grundsätzliche Idee der Konzeptscheibe lautet und mit welch illustrer Studiounterstützung die Aufnahmen vonstattengingen, haben uns Kisser und Pinto in zwei aufschlussreichen Interviews erklärt.

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ANDREAS KISSER

Gitarrist Andreas Kisser mit Fender Stratocaster im Sepultura-Look. (Bild: D. O. Blackley)

Andreas, euer neues Album ‚Quadra‘ bekommt überall größtes Lob. Es scheint, als ob ihr mit der Scheibe an eure frühen Erfolge anknüpfen könntet.

Die Resonanzen der Fans sind wirklich phänomenal. Die Leute reagieren total emotional und schreiben uns, wie sehr sie die Scheibe lieben. Wir sind darüber natürlich hocherfreut, denn wir fühlen uns darin bestätigt, das Konzept von ‚Machine Messiah‘ auch auf ‚Quadra‘ fortgeführt zu haben. Es gibt jetzt noch mehr Melodien, noch mehr unterschiedliche Sounds, und das alles erneut von Jens Bogren im schwedischen Fascination Street Studio perfekt in Szene gesetzt. Das Album verdeutlicht, dass wir uns als Band in den zurückliegenden zehn Jahren künstlerisch noch einmal weiterentwickelt haben und dass nicht nur die Produktionsstandards unserer Scheiben besser geworden sind.

‚Quadra‘, was übersetzt so viel wie ‚Vier‘ bedeutet, beschreibt das Konzept der Scheibe.

Auf ‚Quadra‘ findet man vier verschiedene Aspekte des heutigen Sepultura-Sounds. Drei der zwölf Songs sind thrashig, ruppig, sehr aggressiv. Drei weitere Songs haben eher diesen besonderen rhythmischen Aspekt, mit außergewöhnlichen Grooves und speziellen Schlagzeug-Sounds. Dieses Kapitel des Albums erinnert ein wenig an die Zeiten von ‚Roots‘. Die nächsten drei Songs wurden durch das Stück ‚Iceberg Dances‘ vom Vorgängeralbum inspiriert und zeigen eher traditionellen Metal im Stile von Metallica, allerdings technisch etwas anspruchsvoller gespielt. Und die letzten drei Songs sind von der Nummer ‚Machine Messiah‘ beeinflusst, mit einem Gastsänger, Chorgesang, Orchestrationen und so weiter.

Speziell diese Stücke zeigen, dass wir als Komponisten reifer denn je sind, und dass auch ich als Gitarrist ein neues Level erreicht habe. Ich denke, dass ich mich technisch verbessert und phasenweise so progressiv wie noch nie zuvor gespielt habe. Man spürt, dass ich durch meine Nebenprojekte HAIL! und De La Tierra eine Menge dazulernen und verstehen konnte, wie man Musik noch besser arrangiert.

Die Beschäftigung mit Coversongs, wie zum Beispiel mit Nummern von Black Sabbath, hat meinen künstlerischen Horizont enorm vergrößert. Für mich ist mit ‚Quadra‘ und diesem außergewöhnlichen Konzept, in dem wir die gesamte Karriere von Sepultura zusammenfassen, ein Traum wahr geworden.

Ein Traum, der darüber hinaus auch produktionstechnisch sehr ansprechend klingt. Hast du deine Gitarren mit echten Verstärkern aufgenommen? Oder kamen überwiegend Plug-Ins zum Einsatz?

Ausschließlich Röhren-Amps. Und natürlich eine Menge interessanter Pedale. Ich habe von früheren Sepultura-Produzenten eine Menge gelernt, von Fachleuten wie Andy Wallace, Roy Z. oder Ross Robinson. All das ist mir jetzt in der Zusammenarbeit mit einem so hervorragenden Toningenieur wie Jens Bogren zugutegekommen.

Bei der Aufnahme des neuen Albums kamen ausschließlich Röhren-Amps zum Einsatz. (Bild: D. O. Blackley)

Natürlich habe ich einen Großteil der Gitarren-Parts über meine Orange-Tops gespielt, immerhin arbeite ich schon seit 20 Jahren mit Orange zusammen. Aber darüber hinaus haben wir so ziemlich jeden Amp getestet, der bei Jens im Studio herumstand, unter anderem einen Peavey 5150 und diverse Marshalls. Sogar einige Gibson-Combos standen zur Verfügung. Jens besitzt ein ganzes Arsenal an fantastisch klingenden Verstärkern, übrigens auch an außergewöhnlichen Gitarren.

Es gibt bei ihm unter anderem einige exklusive Modelle einer Firma namens Cyan Guitars, die aus Deutschland stammt und deren Modelle sich in unserem Fall vor allem für die ganz tiefen Tunings eigneten. Natürlich wurden auch diverse Pickup-Konstellationen getestet.

Die Modelle von Cyan Guitars wurden vor allem für die ganz tiefen Tunings verwendet. (Bild: D. O. Blackley)

Insgesamt experimentierten wir mit vier bis fünf unterschiedlichen Tonabnehmern, die je nach Sound und Song eingesetzt wurden. Darunter natürlich auch die EMGs, die in meinen Jackson-Gitarren verbaut sind. Aber eben nicht nur diese, ich war in jeder Hinsicht offen für Ideen, egal ob auf der Les Paul, einer SG, einer Strat, alles war möglich.

Hast du deine Gitarren als trockenes Signal eingespielt und die Effekte erst anschließend hinzugefügt? Oder wurden deine Parts gleich mit den finalen Gitarrensounds aufgenommen?

Nein, immer knochentrocken. Nur bei den Soli kam schon beim Einspielen ein Delay hinzu. Ich bin diese Arbeitsweise ja gewöhnt, denn ich habe über sehr viele Jahre auch auf Tourneen mein Equipment so simpel wie möglich gehalten. Zumeist bestand es nur aus Gitarre, Kabel, Amp und Box. Pedale kannte ich viele Jahre lang fast überhaupt nicht, das fing erst später an. Nur bei den Soli haben wir es auch diesmal wieder anders gehandhabt, da ich sie erst im Studio quasi von Null an entwickelt habe. Ich habe einfach improvisiert, wir haben uns die Ergebnisse angehört, sie analysiert und dann Stück für Stück die Soli erarbeitet. Der Rest der Songs war komplett fertig.

Sepultura waren immer schon eine Band, die bestens vorbereitet ins Studio geht. 90% des Materials ist stets bis ins kleinste Detail vorbereitet, lediglich 10% sind offen für Experimente und spontane Ideen. Wir wissen genau, was wir wollen. Einen Produzenten brauchen wir in erster Linie, um die richtigen Sounds zu finden und kleinere Fehler in den Arrangements auszumerzen. Jens durfte also jederzeit Verbesserungsvorschläge machen, aber immer auf Grundlage unserer Demos, die bereits genau aufzeigten, wie wir uns einen Song vorstellen. Deshalb sind Vorproduktionen für uns so wichtig.

Das heißt: Jens Bogren hatte weniger Produzenten als vielmehr Toningenieur-Aufgaben?

Nein, Jens war auch diesmal wieder im Studio das fünfte Sepultura-Mitglied. Trotzdem war er an den grundlegenden Arrangements der Stücke nicht beteiligt, mit Ausnahme einer Nummer, die noch nicht bis ins letzte Detail festgelegt war, als wir bei ihm mit den Arbeiten begannen. Man darf das jetzt nicht falsch verstehen: Ich bin im Studio kein Diktator, aber ich habe einen konkreten Plan und genaue Wünsche. Jens ist dann derjenige, der mir bei der Weiterentwicklung meiner Visionen hilft.

Er ist ein echter Studio-Crack, er weiß, wie man einen Schlagzeug-Groove noch grooviger macht, wie man die Gitarren so organisch wie nur irgend möglich klingen lassen kann. Sepultura sind und waren von Beginn an vor allem eine Live-Band, die ihren Bühnensound auch auf ihre Alben übertragen möchte. Wir sind ein eingespieltes Team, wir müssen uns nur kurz anschauen und jeder weiß sofort, was gemeint ist und was als nächstes passieren soll.

Ein Teil des Arsenals für die Studioaufnahmen. (Bild: D. O. Blackley)

Ändert ihr bei der Umsetzung eures Studiomaterials auf die Bühne eigentlich das Tempo der Songs?

Teils, teils. Es gibt Stücke, bei denen wichtige Samples mitlaufen, mit Celli, Chören, orchestralen Parts. Diese Nummern müssen auf der Bühne das exakt gleiche Tempo wie im Studio haben, damit wir die fürs Album aufgenommen Samples auch live verwenden können. Aber es gibt bei uns ebenso Songs, die komplett ohne Samples umgesetzt werden. Dann spielen wir vollkommen frei, ohne Tempovorgabe.

Übrigens haben wir uns bei Sepultura über dieses Thema schon häufiger unterhalten, denn dass wir Stücke auch ohne Clicktrack so exakt und immer im richtigen Tempo spielen können, hängt vor allem mit unserem Schlagzeuger Eloy Casagrande zusammen. Eloy ist wirklich absolute Weltklasse. Mit ihm im Rücken brauchen wir keinen Clicktrack. Ihm genügen oftmals sogar die reinen Samples, um exakt im Timing zu bleiben. Deshalb klingen unsere Live-Shows immer so lebendig.

Auch du als Gitarrist hast dich unüberhörbar weiterentwickelt. Gibt es eigentlich eine bestimmte Phase oder ein Album in deiner Karriere, die diese Weiterentwicklung nachhaltig gefördert haben?

Sicherlich war es für mich als Musiker ein riesiger Schritt in die richtige Richtung, als ich im Winter 1992/93 nach Phoenix, Arizona umgezogen bin und dort klassischen Gitarrenunterricht genommen habe. In dieser Zeit habe ich eine Menge Theorie und Harmonielehre gelernt, mich auch intensiv mit anderen Gitarristen beschäftigt, von Randy Rhoads über Steve Howe von Yes, von Gary Hoey bis zu Tony Iommi. Das hat mein Leben nachhaltig verändert.

Ich habe Songs gelernt, die bis zu 300 Jahre alt sind und die kaum jemand bis dato kannte. Ich habe immer für klassische Gitarre geschwärmt, daher war dieser Schritt nach Phoenix für mich damals ein absoluter Glücksfall. Ich habe gelernt, wie man Melodien noch melodischer macht, wie man Songs richtig arrangiert, wie Harmonien funktionieren. Heute profitiere ich von dieser Zeit und ich fühle mich als Musiker wohler denn je. Ich habe mich in den zurückliegenden Jahren intensiv mit allen Formen von Musik beschäftigt, und ich finde, dass man dies aktuell hören kann.

Wer war dein größtes Vorbild als Gitarrist?

In dieser Hinsicht könnte ich nicht nur einen einzigen Namen nennen. Ich habe Stevie Ray Vaughan und Bo Diddley gesehen und war von beiden total begeistert. Ich liebe B.B. King und mich hat der Kinofilm ‚Crossroads‘ sehr inspiriert. Schon in meiner Jugend, als ich noch in Brasilien lebte, war mir klar, dass der Blues die Grundlage des Heavy Metal ist. Nahezu alle Gitarrenmusikstile kommen letztlich vom Blues.

Aber ich mag auch Klassik. Mozart war in seiner Zeit ja auch eine Art Heavy-Metal-Musiker, ein echter Rebell mit langen Haaren und Tattoos. Ich stehe auf alle Arten Musik, das beginnt bei den Beatles und geht über Exodus, Metallica, Megadeth, Slayer, Anthrax bis zu härtestem Thrash. Meine Vorlieben beschränken sich nicht auf bestimmte Spiel arten, ich mag einfach die Abwechslung.

PAULO XISTO PINTO

Bassist Paulo Xisto Pinto mit dem schwedischen Produzenten Jens Bogren. (Bild: D. O. Blackley)

Paulo, siehst du ebenso wie Andreas das neue Album ‚Quadra‘ als repräsentativen Querschnitt eurer bisherigen Karriere? Immerhin warst du als einziger von Anfang an dabei.

Absolut. Auf ‚Quadra‘ findet man Elemente aus allen Phasen der Sepultura-Historie. Es gibt die ganz alten Einflüsse von den ersten Scheiben, aber ebenso das Flair von ‚Machine Messiah‘, das alles in einem topmodernen Sound zusammengefasst.

Was genau meinst du, wenn du von den Einflüssen der ersten Sepultura-Scheiben spricht? Was für eine Art von Band wart ihr damals, Mitte der Achtziger?

Wir waren seinerzeit natürlich noch total unerfahren und naiv, aber voller Tatendrang. Ich kann mich noch genau daran erinnern, als ich damals im Studio den Bass für ‚Morbid Visions‘ aufnahm. Ich besaß damals nur ein einziges Instrument, ein billiges Modell, das ich irgendwo in Brasilien gekauft hatte und über einen Amp spielte, der dem Studiobesitzer gehörte, da ich selbst noch keinen produktionstauglichen Verstärker besaß.

Heutzutage nehme ich größtenteils über D.I. auf, mit den hochwertigsten Instrumenten, die verfügbar sind. Zudem engagieren wir die besten Produzenten der Welt, und die wissen dann genau, welche Gerätschaften man verwenden muss, um einen fetten Sound zu bekommen. Jens Bogren hat es auf ‚Quadra‘ geschafft, meinen Bass-Sound gleichzeitig clean und verzerrt klingen zu lassen, ein kleines Kunststück.

Hast du auf ‚Quadra‘ mit Plektrum oder mit Fingern gespielt?

Ich spiele eigentlich immer mit Plektrum und wirklich nur ganz selten mit Fingern. So etwas ist natürlich stets abhängig vom jeweiligen Song, und auf ‚Quadra‘ gibt es beispielsweise Nummern, bei denen ich im Studio von einem harten zu einem weicheren Plektrum gewechselt habe. Darüber hinaus findet man auch ein paar Pickings und hin und wieder sogar ein paar Slaps. Auf der Bühne spiele ich ausschließlich mit Plektrum, aber im Studio gibt der Song vor, wie und womit man ihn spielen sollte.

Ampeg SVT Classic (Bild: D. O. Blackley)

Was benötigt ein guter Bass, damit du dich mit ihm wohlfühlst?

Es ist schwer zu beschreiben, aber man spürt es sofort, wenn man ein Instrument in die Hand nimmt. Die Balance, das Gewicht, der Hals, das Griffbrett. Ich spiele meinen Zon ‚Legacy‘ und den Zon ‚Sonus‘ schon seit vielen Jahren, besitze aber auch eine Reihe anderer, sehr gut klingender Bässe. Es ist im Laufe der Jahre eine hübsche kleine Sammlung entstanden.

Aus wie vielen Einzelstücken besteht sie?

Es sind sicherlich an die 50, darunter auch der erwähnte allererste Bass meiner Karriere, ein Giannini, den ich zum Glück nie verkaufen musste. Er ist jetzt in seinem verdienten Ruhestand (lacht), hängt zur Dekoration an der Wand und genießt seine Rente.

Mit dem Giannini hast du damals vermutlich auch die ersten Gehversuche bei Tourneen im Ausland gemacht, oder?

Es war eine besondere Zeit, als wir mit Sepultura zum ersten Mal Brasilien verließen, um auch in anderen Teilen der Welt zu touren. Wir wurden damals gerade erst erwachsen und lernten die Grundlagen des Musikerdaseins. Versteh mich nicht falsch: Man hört nie auf zu lernen, aber in jungen Jahren saugt man sämtliche Einflüsse wie ein Schwamm auf.

Hat sich dein musikalischer Geschmack über die Jahre verändert?

Ich war immer schon vielseitig interessiert und nicht nur auf Rock und Metal fixiert. Natürlich spielen die brasilianischen Wurzeln von Sepultura auch in meinem eigenen Leben eine große Rolle, immerhin unterscheidet uns dieser Einfluss von fast allen anderen Bands in diesem Genre.

Wer waren die Idole deiner Jugend?

Mit Kiss fing alles an, vor allem mit ihrem Album ‚Destroyer‘. Dann kamen Queen mit ‚A Night At The Opera‘, anschließend folgten Iron Maiden, Judas Priest, Black Sabbath, später kam der Thrash hinzu, mit Bands wie Kreator, Sodom, Venom, Metallica und Slayer. All diese Gruppen höre ich auch heute noch gerne, immer abhängig davon, in welcher Stimmung ich gerade bin.

(erschienen in Gitarre & Bass 10/2020)

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