Die Suche nach der Stimme

Interview: Paul Gilbert

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(Bild: James Chiang)

Auf seinem aktuellen Album ‚Behold Electric Guitar‘ hat der 52-jährige High-Tech-Gitarrist einige neue Pfade beschritten – und das sowohl musikalisch als auch in Sachen Hardware. Unverändert hoch geblieben ist sein Spaß am Unterrichten. Die Besucher des Guitar Summit 2019 konnten sich also auf ein ganz besonderes Highlight freuen.

Interview

Paul, deine neue Scheibe unterscheidet sich sehr von deinem letzten Solowerk ‚I Can Destroy‘. Es gibt keinen Gesang, einen neuen Produzenten, und auch eine neue Band. Wie kam es dazu?

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‚Behold Electric Guitar‘ fühlt sich für mich wie ein neuer Anfang an. Das Album verbindet den Gesang, den ich in meinem Kopf höre, mit meinem Stil als Gitarrist. Ich habe diesen Ansatz zum ersten Mal auf dem Album ‚Stone Pushing Uphill Man‘ verfolgt, doch darauf gab es in erster Linie Cover-Versionen. Außerdem habe ich fast jeden Part einzeln eingespielt. Mein Melodiespiel hat sich seitdem so stark verbessert, dass ich ‚Behold Electric Guitar‘ live im Studio aufnehmen konnte. Ich fühle mich jetzt sehr viel selbstbewusster mit diesem Konzept.

Hattest du diesen Ansatz bereits im Kopf, als du mit der Arbeit anfingst?

Ich war mir nicht sicher, ob ich singen wollte. Als ich dann anfing, die Melodien auf der Gitarre zu spielen, wurde mir klar, wie sehr ich die Freiheit liebe, all die hohen Töne zu treffen. Meine Gitarre hat jede hohe Note, die ich brauche! Es gibt eine Nummer, auf der ich ein Gedicht rezitiere, aber dafür musste ich meinen Stimmumfang nicht ausreizen. Ich wusste auch, dass ich die Platte live einspielen wollte. Das bedeutete, dass ich eine großartige Band brauchte, die weiß, wie man aufeinander hört. Die habe ich gefunden.

Wann hast du die Songs geschrieben?

Die meisten Songs sind komplett neu. Der älteste Track ist wohl ,Let That Battery Die‘. Den habe ich ursprünglich für das letzte Mr.-Big-Album geschrieben. Gedacht war er als Gesangsnummer, aber ich kam mit dem Text nicht so recht voran. Sobald ich daraus ein Instrumental gemacht hatte, fingen die Melodien an zu fließen, und ich konnte den Song fertig machen.

Ich hatte Texte und Gesangsmelodien für fast alle der Nummern, das gab mir eine gute Grundlage für meine Arbeit. Die Melodien habe ich dann auf die Gitarre übertragen. Ich wünschte, diese Arbeitsweise wäre mir früher eingefallen. Sie funktioniert hervorragend. Dazu kommt: Wenn meine Texte zu seltsam oder persönlich sind, stört das niemanden, denn keiner wird sie hören. Die Gitarrenmelodien bewahren dieses Geheimnis.

John Cuniberti hat Kevin Shirley als Produzent abgelöst. Welche Rolle hat er gespielt?

Ich habe mit beiden Produzenten sehr gerne gearbeitet. Beide nehmen gerne live auf, ebenso wie ich. John Cuniberti hat häufig mit einem einzelnen Stereo-Mikrofon gearbeitet, diese Idee hat mich sehr angesprochen. Am Ende haben wir zwar mehrere Mikrofone verwendet, aber live ohne Overdubs aufgenommen.

Warum wolltest du so arbeiten?

Es geht darum, dass Menschen miteinander Musik machen. Was kann es Besseres geben? Jeder Overdub bedeutet, dass etwas von der Original-Performance aus dem Weg geräumt wird. Natürlich gibt es jede Menge grandiose Musik mit Overdubs, aber ich finde, dass die Energie am besten fließt, wenn die Musiker in einem Raum zusammenspielen.

Wie lange haben die Aufnahmen gedauert?

Nachdem wir uns eingerichtet hatten, dauerte es rund eine Woche. Mein ursprünglicher Drummer war erschöpft, weil er nachts Gigs gespielt hat, also musste ich andere Schlagzeuger hinzuziehen. Das kostete mich einen Tag, aber generell ging alles ziemlich schnell.

Bei bester Laune: die Studio-Band (Bild: Paul Gilbert)

Waren die Songs fertig, als ihr ins Studio gegangen seid oder haben die Jungs von der Band Ideen eingebracht? ,Blues For Rabbit‘ klingt, als sei es aus einem Jam entstanden.

Alle Songs waren fertig, aber wir haben hier und da am Arrangement gefeilt. Wenn du glaubst, dass ,Blues For Rabbit‘ nach einem Jam klingt, dann versuche es zu spielen! Das Hauptthema habe ich geschrieben, um das Gehör meiner Schüler zu trainieren – es geht dabei um die Feinheiten einer Blues-Melodie. Im Ernst: Wenn du einfach mal die erste Melodie spielst, wird dir auffallen, dass sie sehr komponiert ist. Natürlich gibt es ein improvisiertes Solo in der Mitte, aber der komplette Rest sind komponierte Blues- Melodien, die die Band gemeinsam spielt.

Viele der Songs haben lustige Namen – etwa ,A Snake Just Bit My Toe‘ oder ,I Love My Lawnmower‘. Woher kommen sie?

Die meisten Titel entstanden aus den Texten, die ich für die Songs geschrieben hatte. Ich versuche nicht krampfhaft lustig zu sein, aber ich möchte Interesse wecken. Daher suche ich Titel, die für mich interessant klingen.

In ,A Herd Of Turtles‘ trägst du einige Strophen eines Gedichtes vor – über Schildkröten, Hasen und einen schwerhörigen Musiker. In der letzten Strophe geht es offensichtlich um dich. Wie kam es dazu?

In dem Song geht es darum, Herausforderungen zu meistern. Die Schildkröten wollen ein interessanteres Leben haben, die Hasen nicht vom Fuchs gefressen werden. Und ich will Musik spielen – trotz eines ernsthaften Gehörschadens. Am Ende finden wir alle einen Weg.

Welche Gitarren kamen für das Album zum Einsatz?

Vor allem zwei modifizierte Ibanez- Fireman-Modelle: zum einen die FRM200 mit zwei DiMarzio PG-13 Mini-Humbuckern und dann eine FRM150 mit drei dieser Pickups. Bei beiden Gitarren wurden Magnete am unteren Horn unter dem Schlagbrett montiert, die einen Slide festhalten, konkret einen Jim Dunlop 318 Slide. Die Konstruktion habe ich viel verwendet, denn damit kann ich schnell und einfach zwischen Slide- und normalem Spiel wechseln. Außerdem habe ich meine lilafarbene Ibanez Custom Shop Fireman mit Locking Vibrato gespielt. Komponiert habe ich auch auf einer Ibanez PGM miKro Gitarre. Als ich mit Mr. Big auf Tour war, habe ich sie im Hotelzimmer und auch im Bus bei mir gehabt.

Pauls Ibanez FRM150 mit drei DiMarzio PG-13-Mini-Humbuckern (Bild: Paul Gilbert)

Die Slide-Magneten sind ein interessantes Konzept …

… und meine liebste Neuentdeckung. Mein lokaler Gitarren-Service-Mann hat sie mir eingebaut. Sie funktionieren fantastisch. Die einzige Herausforderung ist, dass man Slide spielen können muss. Aber ich werde da immer besser, vor allem, da es jetzt so einfach ist, den Slide zu nehmen und zu üben.

Wie sah es in Sachen Amps und Effekte aus?

Das komplette Album wurde mit einem Marshall Bluesbreaker 2×12″-Combo eingespielt. Ich habe ihn clean eingestellt und Kanal II verwendet, da der einen wärmeren Ton hat. Meine Pedale waren ein Fulltone Deja Vibe, ein Xotic Effects AC Booster, ein Supro Drive und ein TC Electronic MojoMojo.

Die Studio-Einstellungen von Pauls Marshall Bluesbreaker 2×12″-Combo (Bild: Paul Gilbert)

Gibt es weitere Details bei deinem Equipment, die eine Rolle gespielt haben?

Ich liebe es, die Saiten zu ziehen und mit viel Vibrato zu spielen. Das geht einfacher mit einer höheren Saitenlage. Auch das Slide-Spiel funktioniert damit besser. Also habe ich den Abstand der Saiten zum Hals erhöht, er ist jetzt um einiges höher als der eines typischen Shredders. Da ich jedoch trotzdem manchmal schnell spielen will, benutze ich sehr dünne Saiten, nämlich .008-.038 – und dazu sehr dünne Picks mit einer Stärke von 0,50 mm. Dieses Setup ermöglicht mir eine breite Palette an Sounds und Techniken. Ich liebe es! Meine schnellsten Licks spiele ich übrigens häufig mit einem leichten Anschlag, von daher brauche ich Verzerrung, um sie lauter zu bekommen.

Hast du Tipps für einen guten Sound?

Ich fange mit einem clean eingestellten Amp an und füge dann Zerrpedale hinzu, bis sich der Ton richtig anfühlt. Normalerweise benutze ich drei davon, damit ich die Art und den Grad der Verzerrung während des Spielens verändern kann. Eins sollte man dabei beachten: Laut in einer Band mit Schlagzeuger zu spielen ist etwas komplett anderes als leise zu Hause – von daher ist es fast unmöglich, seinen Ton zu finden, bevor man einige Zeit mit einer Band gespielt hat.

Hattest du je Probleme mit deinem Ton?

Die gab es durchaus. Ende der 1980er-Jahre habe ich bei Racer X einen ADA-Preamp verwendet. Als ich dann zu Mr. Big kam, haben weder der Produzent noch die Band meinen Sound gemocht und mich ermutigt, wieder über Röhren-Amps zu spielen. Ich habe viele Brands getestet und kam schließlich zurück zu Marshall. Ich liebe den Sound von Gary Moore, Jimi Hendrix und den frühen Van Halen, von daher sind Marshalls die richtigen Amps für mich.

Du bist seit vielen Jahren als Gitarrenlehrer aktiv und wirst beim Guitar Summit in Mannheim Ende September (2019) Workshops geben. Was ist dabei dein Konzept?

Ich liebe es zu unterrichten. Es ist eine gute Art, die Feinheiten der Gitarre und der Musik generell zu entdecken – und das gemeinsam mit anderen Leuten, die sie ebenfalls lieben. Ich frage für meine Workshops häufig einen Bassisten und einen Schlagzeuger an, die sich ein paar Songs draufschaffen sollen, damit wir jammen können. Im Moment bin ich allerdings so sehr mit Gitarrenideen beschäftigt, dass ich kaum Zeit für Fragen habe.

Paul Gilbert Workshop auf dem Guitar Summit 2019 (Bild: Lars Horstmann)

Wenn jemand Fragen hat, die eine detaillierte Antwort brauchen, kann er sich bei meiner Online-Schule bei ArtistWorks anmelden. Ich habe dort über 7.000 Videos für meine Schüler gespeichert. Und es kommen ständig neue hinzu. Man kann Suchbegriffe wie „Picking“ eingeben, dann erscheinen zahlreiche Unterrichtseinheiten.

Wie sieht es mit deiner eigenen Entwicklung aus? Hast du dich in letzter Zeit auf spezielle Punkte in deinem Spiel konzentriert?

Ich versuche ständig, mein Melodiespiel über Akkordwechsel zu verbessern. ,Little Wing‘ von Jimi Hendrix ist ein großartiger Song, um das zu üben. Ich versuche dabei, Melodien zu spielen, die zu den einzelnen Akkorden passen, anstatt mich auf die Begleitung zu verlassen. Blues ist auch gut, um über Akkordwechsel zu spielen. Eigentlich ist Blues nichts anderes als eine Form von Jazz. Eine meiner größten Entdeckungen war es, 4-Noten-Apreggios über zwei Saiten zu spielen, und dann auf das nächste Saitenpaar zu wechseln, um die nächste Oktave zu erreichen. Das habe ich auf dem aktuellen Album häufig eingesetzt.

Wie übst du heutzutage? Arbeitest du noch immer an deiner Technik oder geht es mehr darum, Ideen zu entwickeln?

Ich spiele und tüftle gerne. Ich kann mich den ganzen Tag hinsetzen und an einer Melodie arbeiten. Wenn ich jedoch Skalen rauf und runter üben müsste, würde ich die Musik aufgeben. Ich habe das früher gemacht, und damals war es aufregend, denn es brachte einen technischen Durchbruch. Heute interessiert mich dieser Sound nicht mehr, aber genau das brauche ich – Interesse. Ich liebe Musik.

Du bist seit über 30 Jahren im Geschäft. Wo siehst du dich heute?

Ich habe das Gefühl, dass ich gerade dabei bin, meine Stimme zu finden – auf der Gitarre. Ich denke, dass ich mich mehr verändert habe als viele andere Gitarristen meiner Generation. Darüber bin ich sehr glücklich. Wann immer ich mein Spiel erweitern kann und neue Sounds finde, werde ich sehr aufgeregt. Meine Karriere ist etwas, das ich nicht wirklich kontrollieren kann. Ich hoffe, dass die Leute meine Musik mögen. Bislang hat das ja ganz gut geklappt.

Du bist bekannt für deine Hi-Tech-Fähigkeiten. Hörst du dir auch Gitarristen an, die einen komplett anderen Ansatz verfolgen – wie etwa Nile Rodgers oder Steve Cropper?

Als Teenager habe ich mir viele Gitarristen angehört. Doch seitdem suche und finde ich Inspiration eher in Songs, anderen Instrumenten und Melodien, die Gitarristen normalerweise nicht spielen. Diese Melodien sind allesamt bereits in meinem Kopf, denn ich bin mit dem Pop-Radio der 1970er-Jahre aufgewachsen. Das könnte mein Ziel werden – mein Gitarrenspiel mit den Melodien in meinem Kopf zu verbinden. Und dann weitere Melodien zu kreieren. Und ab und an ein paar Hochgeschwindigkeits- Licks einzustreuen!

Wie definiert eigentlich ein Saitenvirtuose wie du den Begriff „Technik“?

Für mich bedeutet Technik, das Instrument so präzise kontrollieren zu können, dass man jeden Ton exakt gleich spielen kann – mit der gleichen Länge, der gleichen Geschwindigkeit, der gleichen Anschlagsstärke, der gleichen Struktur. Das einzige, was sich verändert, ist die Tonhöhe. Es klingt dann fast wie ein programmierter Gitarren-Sound aus einem MIDI-Keyboard. Alles ist gleich. Dabei gibt es allerdings zwei Probleme: Zunächst mal klingen exakt gleiche Noten nicht sonderlich musikalisch. Denn gerade Dynamik, unterschiedliche Sounds, Texturen und Tonlängen sind es, was der Musik Ausdruck verleiht. Außerdem ist es auf der Gitarre schwierig, jede Note wirklich gleich zu spielen. Da eignen sich ein Cembalo oder ein digitales Keyboard sehr viel besser.

Paul Gilbert rockt mit seiner Band die Electric Party auf dem Guitar Summit 2019:

(erschienen in Gitarre & Bass 08/2019)

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