Ein Album ‚The Great Adventure‘ zu nennen, weckt Kindheitsgefühle, versprüht den Zauber von Rummelplatz und Camping-Urlaub, Lagerfeuer und Nachtwanderungen. Wer könnte so ein Abenteuer spannender musikalisch inszenieren, als Prog-Rock-Genie Neal Morse?
Über die Karrierestationen des kalifornischen Songwriters, Multiinstrumentalisten und Bandleaders muss man nicht viele Worte verlieren: Spock’s Beard, Transatlantic, Flying Colors, diverse Soloprojekte und eine telefonbuchstarke Diskografie sprechen für ihn.
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Nach dem kommerziell enorm erfolgreichen Konzeptwerk ‚The Similitude Of A Dream‘ stellte der Kreativkopf Anfang des Jahres mit ‚The Great Adventure‘ die Fortsetzung vor und ist damit derzeit mit seiner Band in Europa unterwegs. Wir nutzten die Gelegenheit zum Gespräch über effektives Songwriting, seine Radiant Music School und sein Live-Equipment – erstmals ganz ohne Amps.
Interview
Neal, was war dein größtes Kindheitsabenteuer?
Lass mich überlegen: Als ich zwölf Jahre alt war, bin ich von Southern Oregon nach L.A. getrampt, das war ziemlich aufregend.
‚The Great Adventure‘ ist ein Konzeptwerk mit 22 Songs. Wie entscheidest du eigentlich, angesichts der Vielzahl deiner Projekte, welcher Song wohin kommt?
Vieles hat mit Timing zu tun. Wenn ein Album ansteht, wie demnächst mit Flying Colors und ich habe gerade ein, zwei neue Songs, frage ich die Jungs wie sie die Ideen finden und ob wir sie verwenden wollen. Daneben gibt es musikalische Gründe. Wenn ich eine Idee habe, die eher ein Songwriter-Track werden könnte, dann passt sie am besten für meine Solo-Shows. Oftmals sind das Bauchentscheidungen. Und es kommt mitunter auch vor, dass eine Band einen Song nicht mag. Nicht alles, was ich vorschlage, wird auch umgesetzt.
Du arbeitest extrem schnell, dein Output an Songs ist hoch. Was empfiehlst du für ein effektives, strukturiertes Arbeiten?
Das Wichtigste ist, konzentriert, diszipliniert und fleißig zu sein. Selbst wenn ich eine Idee anfangs nicht so toll finde, bringe ich sie konsequent zu Ende. Ich versuche alles, um einen fertigen Song daraus zu machen. Selbst wenn der später nicht verwendet wird. Was ebenfalls hilft, sind Deadlines. Manche Musiker können ewig mit einem Song herumspielen!
(lacht) Deshalb: Wenn es keinen Abgabetermin gibt, setz dir selber einen. Ich gewähre mir für einen Song einen gewissen Zeitrahmen, dann muss er fertig sein. Denn danach steht schon etwas anderes an, für das ich mir ebenfalls ein Zeitfenster reserviert habe. Das benötigt Disziplin, resultiert aber in effektivem Arbeiten. Das ist mitunter nicht einfach. Das ist mir schon bewusst. Wir sprechen hier schließlich über Kunst. Aber ich habe selbst auf Tour heute Morgen zwei neue Songs rausgehauen. Ich weiß gar nicht wie, es floss einfach. Wie Bob Dylan schon sagte: „Wer weiß schon, woher das Zeug kommt?“ (lacht) Ich persönlich würde jetzt gerne „von Gott!“ antworten. Aber vieles hängt doch von mir selbst, meiner Disziplin und meinem Fleiß ab.
Bist du bei der Suche nach neuen Sounds auch so konsequent?
Das ist einer meiner Schwachpunkte, das gebe ich zu. Aber wenn man in einer Sache nicht so gut ist, sucht man sich Leute, mit denen man zusammenarbeiten und von denen man lernen kann. Die Jungs meiner Band sind klasse darin. Ich bin eher Songwriter, das ist meine Stärke. Wenn ich eine Idee entwickle, beginne ich meist mit Klavier und Gesang oder Gitarre und Gesang. Ich stelle mir zwar ein Arrangement vor, doch das erarbeiten wir gemeinsam.
Du hast 2018 deine Radiant School Of The Arts in Nashville eröffnet. Ein Wochenkurs kostet stolze 1.895 US-Dollar. Was erhält man dafür?
Ich zeige den Studenten, wie ich arbeite, schreibe zum Beispiel einen Song vor ihren Augen, damit sie meine Gedanken und die Umsetzung nachvollziehen können. Das Single-Note-Riff am Anfang von ‚Welcome To The World‘ entstand zum Beispiel während eines Kurses. Aber zurück zur Frage: Das Angebot beinhaltet neben Komposition, Musiktheorie, Tontechnik und Performance alles, was man für die Arbeit als Profimusiker braucht. Am Ende eines Kurses sollen die Studenten einen Song erarbeitet, arrangiert und aufgenommen haben. Jeder, der einen Kurs belegt hat, meinte, dass er eine Menge für sich herausgezogen habe. Ich denke, das hat weniger mit mir als Person zu tun. Es ist die Umgebung, das Studio, die kreative Atmosphäre, die für junge Musiker aufregend ist. Einige von ihnen sind unglaublich talentiert, manche haben sogar danach angefangen zusammenzuarbeiten.
Zum Schreiben benutzt du gerne deine Gibson ES-335 von 1968. Warum diese Gitarre?
Nun, diese Gitarre ist mein Schatz. Sie spiele ich nur im Studio und mag sie besonders für Rhythmusarbeit. Als ich damals an ‚One‘ arbeitete, traf ich mich mit einem Freund und Gitarrensammler. Er besitzt um die 50 alte Stratocasters, sensationelle Instrumente aus den 50er-Jahren. Daneben auch noch ein paar andere, darunter eine Gibson ES-335 von 1962. Ich nahm sie in die Hand, spielte ein paar Akkorde und fühlte mich sofort heimisch. Kennst du das? Der Hals spielte sich wunderbar und die Pickups klangen fantastisch! Der Bridge-Pickup hatte sehr präsente Höhen, der Hals-Pickup sang und hatte diesen rauen, kehligen Ton. Alles fühlte sich sofort richtig an! Er borgte mir diese Gitarre für ‚One‘ und ich war traurig, als ich sie zurückgeben musste. Ich hätte sie mir nicht leisten können, also suchte ich eine bezahlbare ES-335. Und mit dieser bin ich bis heute glücklich.
Dein Hauptinstrument auf der Bühne ist eine Mittsiebziger-Stratocaster. Wie hat sich das Instrument über die Jahre klanglich entwickelt?
Ich benutze sie ja auch im Studio und da finde ich, klingt sie immer ein bisschen anders. Aber hauptsächlich ist sie mein Live- Instrument, weil sie sich so vertraut anfühlt. Sie hat schon einiges erlebt. Man sieht es ihr an. Ich wollte übrigens für diese Tour eine neue Gitarre mitnehmen und habe die erste Show auch tatsächlich mit einer anderen Gitarre gespielt. Aber irgendwie fühlte sich das nicht gut an. Also hab ich‘s gelassen! (lacht)
Guckt man auf die Equipment-Liste deines Radiant Studios, steht da auch deine Strat auf der Inventarliste. Hast du kein Problem damit, sie für Produktionen zu vermieten?
Nein. Wenn ich im Studio bin, bin ich ja dabei und bin eher gespannt wie sie in den Händen von jemand anderem klingt.
Für die Akustik-Parts hast du diesmal eine Ovation Double-Neck dabei.
Genau. Fünf Tage vor der Tour besuchte ich einen Freund in Hendersonville, Tennessee, der dort einen Pawn-Shop betreibt. Dort hing diese Gitarre an der Wand und ich dachte, die wäre perfekt für diese Tour! Ich habe sie vom Fleck weg gekauft. Die Ovations haben ein Pickup- System, das auch bei hohen Lautstärken ziemlich unempfindlich gegen Feedbacks ist. Und ich fand sie zudem cool, weil ich sie als Double-Neck mit zwei verschiedenen Tunings nutzen kann. Obwohl die Akustik-Parts von ‚The Great Adventure‘ auf einer Sechssaitigen eingespielt wurden, macht es live nichts, wenn ich sie auf der 12-String spiele. Im Gegenteil, ich finde diesen leichten Chorus-Effekt einer 12-Saitigen sehr charmant.
‚The Great Adventure‘ schließt an ‚The Similitude Of A Dream‘ an, klingt jedoch düsterer und härter. Erklär mal, was das hinsichtlich deines Equipments bedeutete.
Der größte Unterschied liegt darin, dass ich einen Fractal AX8 Amp Modeler benutzt habe, den ich jetzt auch auf dieser Tour dabeihabe. Als es um das Gitarrensolo in ‚Welcome To The World‘ ging, dachte ich, vielleicht sollte ich mal einen anderen Sound probieren. Ich fand Erics (Gillette, sein Gitarrist) Fractal AX8 spannend und wollte das mal probieren. Stell dir vor, die Jungs von Fractal Audio schickten mir ein Teil umsonst! Total nett! Ich rief dann einen Freund in Nashville an, der für eine Menge Musiker Sounds programmiert und er richtete mit mir zusammen das AX8 für meine Bedürfnisse ein. Das spiele ich jetzt auf Tour.
Damit hast du keinen Amp auf der Bühne.
Genau! (lacht) Cool, oder? Mein Signal geht durch das AX8 zum Mischpult, von da zur P.A. und auf meine Monitore. Auf dieser Tour habe ich zum ersten Mal einen Tontechniker dabei, der die Sounds für mich schaltet. Das ist extrem komfortabel. Ich wechsle ja zwischen Gitarre und Keyboard, und für diese Show brauche ich sogar Kostüme. Da bin ich froh, dass ich mich nicht auch noch darum kümmern muss. Das alles ist ziemlich komplex, und ich will mich nicht verzetteln. Und schließlich will ich nicht nur die Show abspulen, sondern auch genießen!
Letzte Frage: Du hast für Juni die Veröffentlichung deines Progressive- Rock-Musicals ‚Jesus Christ – The Exorcist‘ angekündigt, an dem du zehn Jahre gearbeitet hast. Was dürfen wir erwarten?
Ein vollumfängliches Musical mit Prog- Rock-Parts, nur nicht so präsent wie auf meinen bisherigen Alben. Denn wenn die Band lange Instrumentalparts spielen würde, was machen die Sänger und Darsteller derweil auf der Bühne? Als ich vor zehn Jahren begann, hatte ich eine Broadway- Show im Hinterkopf. Das Ziel war eine Geschichte wie bei einer Oper, in mehreren Akten. Es geht um die Phase in Jesus‘ Leben, in der er Wunder vollbracht, Menschen geheilt und auch den Teufel ausgetrieben hat. Alles sehr theatralisch! Ich liebe es halt, dramatische Musik zu schreiben! (lacht)
Vielen Dank fürs Gespräch!
Diskografie
Neal Morse:
Neal Morse (1999)
Lead Me Lord – Worship Sessions Volume 1 (2005)
Send The Fire – Worship Sessions Volume 2 (2006)
Songs From The Highway (2007)
Secret Place – Worship Sessions 3 (2008)
The River – Worship Sessions Volume 4 (2009)
Mighty To Save – Worship Sessions 5 (2010)
Get In The Boat (2013)
Songs From November (2014)
To God Be The Glory (2016)
Life & Times (2018)
Neal Morse Band:
It’s Too Late (2002)
Testimony (2003)
One (2004)
? (2005)
Sola Scriptura (2007)
Lifeline (2008)
Testimony Two (2011)
Momentum (2012)
The Grand Experiment (2015)
The Similitude Of A Dream (2016)
Alive Again (2016)
The Similitude Of A Dream: Live In Tilburg 2017 (2018)
Morsefest 2017: Testimony Of A Dream (2018)
The Great Adventure (2019)
Transatlantic:
SMPT:e (2000)
Live In America (2001)
Bridge Across Forever (2001)
Live In Europe (2003)
The Whirlwind (2009)
Whirld Tour 2010: Live In London (2010)
More Never Is Enough: Live @ Manchester & Tilburg (2011)
Kaleidoscope (2014)
KaLIVEoscope (2014)
Spock’s Beard:
The Light (1995)
Official Live Bootleg/The Beard Is Out There (1996)
Beware Of Darkness (1996)
The Kindness Of Atrangers (1998)
Live At The Whisky And NEARfest (1999)
Day For Night (1999)
Nick ’n Neal Live In Europe: Two Separate Gorillas (2000)