Dem multinationalen Progressive-Fusion-Rock-Trio The Aristocrats eilt der Ruf voraus, eine der zurzeit besten Instrumental-Bands der Welt zu sein. Das technische Vermögen der Beteiligten Guthrie Govan (Gitarre, England), Bryan Beller (Bass, USA) und Marco Minnemann (Schlagzeug, Deutschland) ist atemberaubend, die kompositorische Vielfalt ihrer Alben nahezu grenzenlos.
Seit Ende Juni steht ihre aktuelle Scheibe ‚You Know What…?‘ in den Plattenregalen und sorgt beim Fachpublikum für riesiges Interesse.
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Interview
Guthrie, auf ‚You Know What…?‘ gibt es neun Songs, jeweils drei von jedem Band-Mitglied. Existiert dennoch ein roter Faden? Oder legt ihr gesteigerten Wert auf größtmögliche Unterschiede der Kompositionen?
Auf jeden Fall macht es uns auch diesmal wieder riesigen Spaß zu beobachten, dass unsere Zuhörer versuchen herauszufinden, wer welchen Song geschrieben hat. Interessanterweise liegen die Fans dabei ebenso oft daneben wie richtig. Wir werten dies als untrügliches Zeichen, dass The Aristocrats einen eigenen charakteristischen Sound haben und wir wirklich als Band funktionieren, und nicht etwa als inhomogenes Trio unterschiedlicher Individuen wahrgenommen werden.
Die meisten Leute denken beispielsweise, dass die Nummer ‚When We All Come Together‘ aus meiner Feder stammt, da sie so viele abgedrehte Gitarrenparts besitzt. Die Fans folgern daraus, dass so etwas nur ein Gitarrist komponiert haben kann. Doch in Wirklichkeit stammt die Grundidee des Songs von einem Demo, das Marco aufgenommen hat. Gleichzeitig scheinen Bryan und ich ein untrügliches Gespür dafür zu haben, dem jeweils anderen das Leben schwer zu machen. (lacht)
Einige der kompliziertesten Gitarrenparts stammen von Bryan, ein paar der abgedrehtesten Basslinien von mir. Was in meinem Fall allerdings kein Zufall ist, denn bei meinen Songs habe ich deutlich länger an den Bassparts als an meiner Gitarrenarbeit gebastelt.
Hattet ihr eine bestimmte Vision für ‚You Know What…?‘
Zumindest gibt es einen signifikanten Unterschied zu den bisherigen Aristocrats-Scheiben. Mein Anspruch war diesmal, bei meinen drei Songs immer nur eine Gitarre zu spielen. Bryans Vorstellungen waren ganz ähnlich, auch wenn man im Hintergrund hin und wieder eine weitere versteckte Gitarre oder eine oktavierte Harmonie hören kann. Marco dagegen wollte – quasi als künstlerischen Gegenpol zu Bryan und mir – eine komplett produzierte Gitarrenwand, deshalb sind seine Songs randvoll mit Overdubs.
Es war eine wirklich spannende Herausforderung, beide Extreme unter einen Hut zu bekommen. Eine Nummer wie ‚Terrible Lizard‘ klingt in meinen Ohren unglaublich roh und rau, während ‚Burial At Sea‘ deutlich teurer produziert und fast schon poliert wirkt.
Wie darf man sich eure Zusammenarbeit konkret vorstellen? Erklärst du Marco und Bryan, welche Art des Drummings, welche Bassparts du dir bei deinen Kompositionen wünschst?
Wir drei achten bereits bei unserem Songwriting auf nahezu jedes Detail. Bevor wir uns im Studio treffen, hat jeder seine Ideen als mp3-Version mit zahllosen Vorschlägen für sämtliche Instrumente festgehalten. Natürlich sind weitere Vorschläge und Beiträge der jeweils anderen immer herzlich willkommen. Dennoch achtet jeder Komponist genau darauf, dass sein grundsätzliches Konzept verstanden und umgesetzt wird, bevor wir mit den eigentlichen Aufnahmen beginnen. Wir haben festgestellt, dass es für uns weitaus effektiver ist, wenn jeder seine Ideen bereits konkret und detailliert ausarbeitet, bevor wir uns treffen. Im Studio produziert dann jeder seine eigenen Stücke. Natürlich hoffen wir, dass die Zuhörer trotzdem einen roten Faden erkennen können, zumal jeder von uns mit dem Wissen um die Stärken und Eigenarten der jeweils anderen komponiert. Zudem denke ich, dass unser einzigartiger Band-Sound sowieso automatisch entsteht, wenn wir drei zusammen spielen, unabhängig davon, aus welcher stilistischen Ecke der betreffende Song kommt.
Hat sich dein Songwriting in den zurückliegenden Jahren verändert? Hat sich auch dein Geschmack verändert?
Selbstverständlich sind wir innerhalb unseres Trio-Konzeptes permanent auf der Suche nach weiteren Entwicklungsmöglichkeiten. Einige davon entstehen, indem wir immer wieder neue musikalische Genres ausprobieren oder versuchen, neue Sounds in unsere Songs einzubauen. Diese Haltung gab es in der Band allerdings immer schon. Wir hoffen natürlich, dass die Resultate allein deshalb immer besser werden, weil wir uns als Instrumentalisten weiterentwickeln. Hinzu kommt, dass wir bei der Studioarbeit zunehmend routinierter und gelassener werden.
Wie arbeitet ihr im Studio? Wo und mit wem habt ihr ‚You Know What…?‘ aufgenommen?
Das neue Album wurde in den Brotheryn Studios in Ojai, Kalifornien mit Toningenieur Jason Mariani eingespielt. Jason war eine große Hilfe, denn neben seinem enormen Wissen über sämtliche Details des Studio-Equipments hat er verstanden, welches klangliche Resultat wir als Band anstreben. Um es an einem konkreten Beispiel zu erklären: Marcos Drumkit wurde im größten Raum des Studios aufgebaut, während Bryan und ich in zwei kleineren Räumen untergebracht waren, dort unsere Amps aber so laut aufdrehen konnten wie wir wollten, ohne dass es Übersprechungen auf die Schlagzeugmikrofone gab.
Die drei Räume waren durch große Scheiben miteinander verbunden, sodass wir uns beim Spielen gegenseitig sehen konnten. Das ist ein wichtiger Faktor in einer Band wie dieser, bei der Spontaneität und Kommunikation in Echtzeit wichtige Grundlagen für das sind, was wir tun. Für die Gitarren-Overdubs wechselte ich dann in den Kontrollraum. Obwohl ich weiß, dass mitunter die Interaktion von Gitarre und Amp im gleichen Raum wichtige Impulse geben kann, war es mir wichtiger, mich auf Details wie akkurates Tuning und mehr klangliche Kontrolle fokussieren zu können, da in der Regie die Lautstärke bei Weitem nicht so hoch ist wie in einem Aufnahmeraum.
Mit welchen Gitarren, Verstärkern und Effektgeräten hast du die Songs eingespielt?
Mein Haupt-Rig für die Studio-Session bestand aus meinem Victory-V30-Head und einer 2×12-Victory-Box mit Celestion-Vintage-30-Speakern. Diese Kombination kann man bei den meisten der neuen Songs hören.
Bild: Matthias Mineur
Victory-V30-Head, Victory-2x12er-Box mit Celestion-Vintage-30-Speaker
Bild: Matthias Mineur
Govans Fractal Audio FX 8 plus zwei Roland-EV-5-Pedale
Darüber hinaus habe ich für die cleanen Sounds in ‚Last Orders‘ und ‚Spanish Eddie‘ einen Vox AC30 eingesetzt, sowie einen kleinen Carr-Combo für ‚All Said And Done‘. Als Mikrofone kam eine Kombination aus Shure SM57 und Royer-R-121-Ribbon zum Einsatz. Als Effekte habe ich einige Pedale benutzt, vor allem ein Xotic Wah und einen EP Booster, und bei einigen ganz speziellen Passagen auch einen Eventide H9. Zusätzlich konnte ich mir von den Studiobesitzern einen alten Univibe ausleihen, der in der Solo-Sektion von ‚D Grade‘ sehr hilfreich war.
Bild: Matthias Mineur
Die beiden Charvel Guthrie Govan Signatures
Bild: Matthias Mineur
Die beiden Charvel Guthrie Govan Signatures
Mein wichtigstes Arbeitspferd war wie immer mein Charvel-GG-Signature-Modell mit dem Eschekorpus. Allerdings lagen im Studio eine Reihe weiterer sehr interessanter Instrumente herum, von denen wir einige eingesetzt haben, da sie ungemein inspirierend aussahen. ‚The Ballad Of Bonnie & Clyde‘ beispielsweise wurde mit einer Les Paul Custom von 1970 eingespielt – die Gitarre gehörte früher Kenny Loggins – und in ‚Spiritus Cactus‘ habe ich eine sehr schöne alte 60er-Jazzmaster gespielt. In ‚When We All Come Together‘ kamen diverse ungewöhnliche Instrumente zum Einsatz, darunter eine Duesenberg-Bariton-Gitarre und eine Bilt Corvaire, ein drolliges Instrument im Surf-Stil, mit tiefen F-Holes, die durch den gesamten Korpus gehen. Zunächst interessierte mich eigentlich nur das außergewöhnliche Design der Gitarre, aber letztendlich passte sie auch klanglich perfekt zu diesem Song.
Wurden sämtliche Gitarrenparts live im Studio eingespielt? Gab es viele Overdubs? Und lässt sich jeder Song auch auf der Bühne reproduzieren?
Was die Gitarrenparts betrifft habe ich nahezu das gesamte Spektrum an Aufnahmemöglichkeiten genutzt. Im Mittelteil von ‚Terrible Lizard‘ und am Schluss von ‚Last Order‘ kann man hören, dass man solche Stücke nur mit der gesamten Band aufnehmen kann. Meiner Meinung nach sollte man einen Song immer so aufnehmen, wie es das Beste fürs Arrangement ist, sprich: Manche Stücke verlangen nach einer detailliert arrangierten und aufwendig gestalteten Produktion, andere dagegen brauchen eher möglichst viele spontane und improvisatorische Anteile. Die Kunst besteht darin, herauszufinden, welche der beiden Möglichkeiten für den betreffenden Song am besten geeignet ist.
Wenn es dann später darum geht, das Material auch auf der Bühne umzusetzen, kommt uns unsere Arbeitsweise zugute, denn wir achten schon beim Komponieren darauf, dass die Stücke live reproduzierbar sind. In erster Linie sind wir nun einmal eine Live-Band, die darauf achten muss, dass ihre Studioaufnahmen auch im Konzert funktionieren. Einige der Stücke, die Marco beigesteuert hat, sind zwar dermaßen aufwendig produziert, dass man sie in einer Trio-Konstellation live kaum reproduzieren könnte. Aber wir haben entschieden, dass diese zusätzliche Dimension unserer Kreativität auf einem Album OK ist, da die übrigen Stücke der neuen Scheibe auf der Bühne problemlos funktionieren werden.
Denkst du beim Komponieren eigentlich daran, ob der Song auch unbedarften Zuhörern gefällt? Immerhin besteht der überwiegende Teil eures Publikums aus Musikern.
Natürlich lässt sich nicht abstreiten, dass unsere Musik einen hohen künstlerischen Anspruch besitzt. Dennoch sind unsere Songs nicht zu kopflastig oder avantgardistisch, wie ich finde. Unbestritten ist aber auch, dass sich in unserem Publikum ein hoher Anteil an Musikern befindet, der sich besonders für die komplexen Aspekte der Kompositionen interessiert. Doch auch die Musiker im Publikum kommen unseren Erfahrungen nach irgendwann an einen Punkt, an dem sie ihren Kopf ausschalten und nur noch die Stücke genießen, anstatt unsere Performance lediglich unter technischen Aspekten zu beurteilen. Für mein Empfinden ist dies Mainstream genug. Allerdings werden wir wohl nie die Zielgruppe von Taylor Swift und Konsorten erreichen, befürchte ich. (lacht)
Wie ist aktuell deine Situation als Endorser? Sind neue Produkte von dir in der Pipeline?
Zurzeit bin ich mit meinem Equipment außerordentlich zufrieden. Ich habe eine Charvel-Signature-Gitarre, mein Signature-Red-Bear-Plektrum und eine tolle Beziehung zu Victory-Amps. Die einzig signifikante Neuerung in meinem Rig sind die D‘Addario-NYXL-Saiten, die ich für mich entdeckt habe und die – abgesehen davon, dass sie wirklich großartig klingen – tatsächlich länger halten und besser in Stimmung bleiben als alles, was ich bislang gespielt habe. Ich bin mit meinem Equipment also rundum zufrieden und schaue deshalb auch gar nicht so genau, was es an neuen Sachen gibt. Ich habe den Eindruck, dass ich mich mit meiner aktuellen Zusammenstellung perfekt auf das konzentrieren kann, was ich machen möchte, nämlich Songs schreiben und live spielen.
Was steht für dich in diesem Herbst auf dem Plan? Gibt es neben den Aristocrats weitere Aktivitäten?
Mein Terminkalender ist zurzeit randvoll. Im Juli waren wir mit den Aristocrats auf einer großen US-Tour, nach dessen Ende ich mich sputen musste, um rechtzeitig nach Los Angeles zu kommen, wo mit Hans Zimmer die Proben für die Stadionkonzerte in Asien stattfanden. Im Anschluss daran sind die Aristocrats wieder an der Reihe. Es steht eine sehr lange Europatournee an, die bis Ende Februar 2020 dauern wird. Was danach kommt, weiß ich derzeit noch nicht, aber man kann davon ausgehen, dass es in allen Teilen der Erde reichlich Anfragen für Aristocrats-Konzerte geben wird. Nur mal zum Vergleich: Für das Album ‚Tres Caballeros‘ haben wir 128 Konzerte gegeben. Schaut man sich die ersten Reaktionen zu ‚You Know What…?‘ an, kann man davon ausgehen, dass das Interesse diesmal sicherlich nicht weniger groß ist.
Danke für das nette Gespräch, wir sehen dich dann mit den Aristocrats auf deutschen Bühnen!