Gene Simmons: Kiss ist die am härtesten arbeitende Band des Showgeschäfts
von Marcel Anders, Artikel aus dem Archiv
Anzeige
„Guten Tag! Wie geht es ihnen – möchten sie einen Keks?“ Ein Empfang in lupenreinem Deutsch. Von einem Mann, der um elf Uhr morgens mit schwarzer Sonnenbrille, Lederjacke, Baseball-Kappe, Jeans und Bikerboots in der Marlene-Dietrich-Suite des Berliner Hyatt Hotels empfängt – im abgedunkelten Raum mit Bodyguard vor der Tür. Zu seiner Linken: Ein klobiger Metall-Tresor, auf den eine Goldmünze, eine Actionfigur und ein Teller Kekse drapiert sind.
„Sind sie sicher? Die sind mit Marzipan. Sehr lecker.“ – „Nein danke, ich bin auf Diät“. „Ich auch“, spricht Gene und greift beherzt zu den Süßigkeiten. Eine Geste, die viel über ihn sagt: Seine Einstellung zum Leben, zum Konsum und Genuss ist geradezu hemmungslos, seine Widersprüchlichkeit faszinierend und die Angriffsfläche, die er damit liefert, so groß wie ein Wolkenkratzer. Denn Gene Simmons ist hier für Business: Er will ein Produkt bewerben, das nach dem Prinzip „mehr ist mehr“ funktioniert, das maßlos überteuert erscheint und sich primär an eingefleischte Kiss-Fans richtet. Dabei enthält es ungeahnte Schätze, die eine ganz andere Seite des Schminke-Rockers zeigen – im positiven Sinne.
Anzeige
interview
Gene, zu den herausragenden Stücken in ,The Vault‘ zählt deine allererste Aufnahme aus dem Jahr 1966, die stark nach den Beatles klingt. Warst du ein Fan von ihnen?
Und wie! Sie haben mein Leben verändert. Nicht, dass es die erste Musik war, die ich je gehört hätte. Als ich mit acht Jahren nach Amerika kam, kannte ich schon Little Richard, Chuck Berry, Fats Domino und Ray Charles. Dieselbe Musik, die auch die jungen Beatles verrückt gemacht hat. Eben die Gründerväter des Rock’n‘Roll. Deren Musik hat mich gefesselt – aber sie hat längst nicht dafür gesorgt, dass ich selbst in einer Band sein wollte. Das kam erst, als die Beatles in der Ed-Sullivan-Show auftraten und die Hälfte des Landes zuschaute. Als ich das sah, hat mich das nachhaltig verändert. Ich wusste, was ich mit meinem Leben anfangen sollte: Musiker werden. Da kannst du noch so bescheuert aussehen, noch so eine blöde Frisur haben und mit noch so einem merkwürdigen Akzent reden – die Mädchen werden dich trotzdem mögen.
,The Vault‘ enthält auch Stücke, die du mit keinem geringeren als Bob Dylan geschrieben hast. Darf man fragen, warum du die nie veröffentlicht hast?
Weil es nur drei Stück sind – wo und wie hätte ich die veröffentlichen sollen? Etwa auf einem Kiss-Album? Nein. Wir haben zwar angefangen, zusammen zu schreiben, hatten aber keinen wirklichen Plan – und auch kein Ziel. Das war Ende der 80er – zu der Zeit als er mit den Traveling Wilburys anfing. Und dieses Projekt ist ja ähnlich zustande gekommen: Da haben sich ein paar Jungs getroffen, um zu jammen und Songs zu entwickeln. Mit Petty & Co. hat es geklappt – mit mir nicht. Keine Ahnung, warum. Wobei ich hinzufügen muss, dass ich ja nicht nur Kiss-Songs schreibe, sondern in erster Linie Gene-Simmons-Stücke. Selbst, wenn wir als Band ein neues Album angehen, schreibe ich nicht explizit dafür. Das habe ich noch nie getan. Ich setze mich hin und lege los. Von 20 oder 25 Stücken, die auf diese Weise entstehen, eignen sich vielleicht vier oder fünf für Kiss.
Deshalb auch jede Menge unveröffentlichte Sachen, bei denen man sich fragt: „Ist das wirklich Gene Simmons?“ Einfach, weil sie nicht nach Kiss klingen.
Ganz genau. Und bei einigen spiele ich alle Instrumente selbst: Schlagzeug, Gitarre, Bass, Keyboards. Wirklich alles.
Was dir die meisten Fans und Kritiker kaum zutrauen …
Und damit liegen sie so etwas von falsch. Sie glauben, ich wäre ein reiner Showman und würde nur posen. Aber das ist definitiv nicht der Fall. Mag sein, dass ich kein Bass-Virtuose bin und keine spektakulären Sachen veranstalte. Aber ich weiß, was ein Song braucht, und ich bin in der Lage, ihm das zu geben und meinen Part beizusteuern. Ich habe niemanden, der das hinter der Bühne für mich erledigt und mich einfach gut aussehen lässt – ich mache das selbst. Und zwar in einem wirklich schweren Kostüm und mit jeder Menge Makeup. Das ist nicht leicht – und das soll mir erst einmal jemand nachmachen!
Ich spiele lange genug in dieser Band, um zu wissen, was ich tue. Wäre das nicht der Fall, wären wir – und somit auch ich – nie so weit gekommen. Aber um auf die Kollaborationen auf ,The Vault‘ zurückzukommen: Bei einigen Stücken arbeite ich mit befreundeten Musikern. Ace Frehley, unser alter Kiss-Gitarrist, singt zum Beispiel bei zwei Stücken, und auch die übrigen Kiss-Jungs sind gleich mehrfach am Start. Bei drei Stücken wirken die Van-Halen-Brüder mit. Insgesamt sind es 150 Songs, die nie veröffentlicht wurden, und die präsentiere ich in einem Tresor auf Stahlrädern. Das ist keine Spinnerei, sondern etwas, das ich lange geplant habe. Sprich: Etwas ganz Besonderes, Wertiges.
Du hast einiges an Kritik für den hohen Anschaffungspreis einstecken müssen. Nämlich satte 2000 Dollar. Ist das nicht ein bisschen viel?
Nicht, wenn ich sie persönlich ausliefere, was mir wichtig ist. Ich meine, wenn die Käufer in der Nähe von Los Angeles wohnen, verdiene ich durchaus daran. Denn es ist doch so: Je weniger ich fliegen muss, desto günstiger ist das für mich. Aber wenn ich dafür extra nach Düsseldorf muss, zahle ich drauf. Dann brauche ich ein Flugticket, einen Sicherheitsdienst, Versicherungen, Hotels, Verpflegung usw.
Warum tust du dir das an?
Weil ich reich bin – weil ich tun und lassen kann, was ich will. Und ich sage dir, für wen ich das hier tue: Nämlich für mich. Wenn du alles Geld hättest, das du dir nur wünschen würdest, und dann eine riesige Party schmeißt – da willst du doch nicht der einzige Gast sein. Du willst Leute, die mit dir feiern, die an deinem Erfolg teilhaben.
Also geht es letztlich immer nur um dich?
Da bin ich ganz egoistisch. Ich will die Fans treffen, die Kinder, die nach meinen Songs benannt wurden, die vielleicht sogar zu ihnen gezeugt wurden und die Tätowierungen, die diese Leute tragen. Ich will ihre Leidenschaft und Hingabe spüren und sie in vollen Zügen genießen. Da bin ich wie alle Leute, die Songs komponieren, Bilder malen, Bücher schreiben oder was auch immer: Wenn sie ihr Arbeitszimmer verlassen, wollen sie die Freude sehen, die sie anderen damit bereiten. Was ja auch der Grund ist, warum man auf Tour geht. Klar, verdient man damit auch Geld, aber die Magie besteht darin, eigene Songs zu performen und Menschen glücklich zu machen. Das geht nur im Verbund mit ihnen – nicht alleine.
Dabei ist deine Philosophie, der du seit 50 Jahren folgst, eher die, dass nur Geld glücklich macht …
Nein, missversteh mich nicht: Geld ist das Wichtigste auf der Welt. Und es entwickelt sich immer offenkundiger in diese Richtung. Zu behaupten, Liebe käme weit vor allem anderen, ist zwar romantisch, aber es stimmt nicht. Denn es gibt ja auch Frauen in Äthiopien, die ihre Kinder aufrichtig lieben, aber trotzdem nicht ernähren können, weil sie kein Geld haben. Insofern reicht Liebe allein nicht aus, sondern man braucht auch Geld – für Essen, Wasser, Kleidung und Medizin. Insofern ist Geld alles und ohne geht nichts. Selbst Gott lässt in der Kirche den Hut rumgehen. Und auch das schönste Auto fährt nicht ohne Benzin.
Offiziell gönnst du dir gerade eine Auszeit von Kiss, um dich um dieses Boxset zu kümmern. Gleichzeitig tourst du mit deiner eigenen Band. Zeichnet sich für Kiss so langsam das Ende ab?
Ich für meinen Fall könnte nie machen, was Mick Jagger macht. So viel ist sicher. Aber: Jagger kann auch nicht machen, was ich mache. Und das sage ich als Fan. Wenn du ihn in meine Drachenstiefel mit den zehn Zentimeter hohen Absätzen stecken würdest und mit einer Rüstung, die zwischen 20 und 30 Kilo wiegt, würde er nach der Hälfte des Sets zusammenbrechen. Was auch für Bono, Thom Yorke und diese ganzen Jungs gilt. Wenn sie – wie ich – erst einmal zwei Stunden für Kostüm und Schminke bräuchten, wären sie schon völlig fertig, ehe es überhaupt losgeht. Das würden sie rein körperlich nicht hinkriegen.
Aber, weil wir eben keine T-Shirts und Turnschuhe tragen, heißt das auch, dass wir das unmöglich noch mit 74 hinkriegen. Das wäre dann wenig überzeugend. Denn Kiss – das ist unser Motto – ist die am härtesten arbeitende Band des Showgeschäfts. Punkt aus. Von daher weiß ich, dass wir das nicht hinkriegen würden. Aber momentan fühle ich mich toll, ich sehe gut aus und ich zittere kein bisschen. Siehst du, wie ruhig meine Hand ist?
Ich sage dir was: Wenn du ohne Stress einschlafen kannst, hast du weniger Runzeln im Gesicht – das ist einfach so. Und deswegen brauche ich kein Lifting. Das benötigen nur Leute, die Stress haben und deren Körper das auch deutlich zum Ausdruck bringt. Das bedeutet, je mehr du ihm zumutest, desto verlebter sieht er aus. Und ich habe keine Runzeln, ich fühle mich wohl, meine Haut ist gut, ich schlafe wie ein Stein und nehme keine Drogen. Das ist ganz simpel. Und die Wahrheit ist: Deine Mutter hatte immer Recht, und deine Freunde lagen immer falsch. Sie sind dumm und im Grunde nicht besser als deine ärgsten Feinde. Sie sagen: „Lass uns ausgehen und saufen oder uns zudröhnen.“ Dagegen hat deine Mutter immer gesagt: „Ruh dich aus, trink viel Wasser, iss Gemüse und verschwende deine Zeit nicht mit Verlierern, die Alkohol trinken und Drogen nehmen.“ Damit hat sie den Nagel auf den Kopf getroffen. Und sie war sehr stolz auf mich! Wahrscheinlich eher auf meinen Geschäftssinn als auf meine Musik, aber das kann ich ihr nicht verübeln.
Apropos Geschäftssinn: Auf deiner Homepage vertreibst du eigene Bässe – gespielte und ungespielte. Geben die Leute wirklich einen fünfstelligen Betrag aus, um ein Instrument zu erwerben, das du auf der Bühne nur einmal kurz eingesetzt hast?
Das klingt jetzt sehr negativ. Als ob ich ihnen wer weiß was abverlangen würde.
Na ja, eine Classic Axe für 10495 Dollar ist schon eine Hausnummer.
Aber das ist nicht für jeden gedacht, sondern nur für Leute, die das unbedingt wollen und das nötige Kleingeld haben. Die ein Instrument möchten, das ich vor ihren Augen live spiele und anschließend signiere – mit Widmung und allem, was dazugehört. Das ist eine Dienstleistung, nach der eine große Nachfrage besteht – und die bediene ich. Nicht mehr und nicht weniger. Sie bekommen ein qualitativ hochwertiges, personalisiertes Produkt, an dem sie Spaß haben, auf dem sie selbst spielen können und das ein echtes Sammlerstück darstellt. Ich finde es nur legitim, ein entsprechendes Honorar dafür aufzurufen. Wäre das Ganze billiger, wäre es für viele Fans sicherlich auch nicht so erstrebenswert. Man muss ein Gefühl der Exklusivität erzeugen und etwas anbieten, das sich nicht jeder leisten kann. Erst dadurch wird es zum begehrenswerten Gegenstand.
Außerdem bietest du mit der Master-Bass-Class Gruppenunterricht im Bass-Spielen mit anschließendem Songwriting an – mit Erfolgsgarantie! Würdest du das auch mit einem Autodidakten wie mir hinkriegen?
In unter einer Stunde!
Das meinst du nicht ernst?
Oh doch. Selbst wenn du noch nie ein Instrument in Händen gehalten hast. Ich meine, das ist nichts anderes, als sich Grundkenntnisse in einer Fremdsprache anzueignen – wie ich es mit Deutsch, Japanisch und Ungarisch getan habe. Ich kann weder Ungarisch lesen noch schreiben, aber das muss man auch nicht, um es zu sprechen. Und man kann hunderte von Songs schreiben, ohne eine einzige Note zu lesen, oder Ahnung von Musiktheorie zu haben. Um ein Buch zu schreiben, reicht es, wenn es dir gelingt, etwas verbal hinzukriegen. Du diktierst es einfach jemandem, der es für dich aufschreibt. Und wenn ich Songs komponiere, hält jemand anderes die Noten für mich fest. Fertig aus.
Diskographie: mit Kiss:
Kiss (1974)
Hotter Than Hell (1974)
Dressed To Kill (1975)
Alive! (1975)
Destroyer (1976)
Rock And Roll Over (1976)
Love Gun (1977)
Alive II (1977)
Dynasty (1979)
Unmasked (980)
Music From The Elder (1981)
Creatures Of The Night (1982)
Lick It Up (1983)
Animalize (1984)
Asylum (1985)
Crazy Nights (1987)
Hot In The Shade (1989)
Revenge (1992)
Alive III (1993)
Kiss Unplugged (1996)
Carnival Of Souls (1997)
Psycho Circus (1998)
Sonic Boom (2009)
Monster (2012) Solo:
Gene Simmons (1978)
Asshole (2004)
Speaking In Tongues (2004)
The Vault (2017)