„Für mich bleibt Yngwie Malmsteen eine Legende, doch er spielt immer die gleichen Licks und Songs …“
Dark Tranquillity: Johan Reinholdz im Interview
von Andreas Schiffmann, Artikel aus dem Archiv
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(Bild: Linda Florin)
Nach einigen Jahren als Session-Gitarrist stieg Johan Reinholdz 2020 zum offiziellen Mitglied von Dark Tranquillity auf. Die schwedische Melodic-Death-Metal-Band, deren Wurzeln bis in die späten 1980er reichen, gehört zu den Vorreitern und erfolgreichsten Vertretern des sogenannten Göteborg-Sounds, der sich durch saubere Produktionen, ausgefeiltes Spiel und einen generell gehobenen musikalischen Anspruch auszeichnet – ein ideales Umfeld für den technisch beschlagenen (und sympathisch bescheidenen) 44-Jährigen, wie seine zentrale Rolle auf ‚Endtime Signals‘ belegt, dem 13. Studioalbum des Quintetts.
INTERVIEW
Johan, du hast mit neun Jahren angefangen, Gitarre zu spielen. Wie bist du Musikfan geworden?
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Meine Mutter hat zu Hause viel Musik gehört, vor allem schwedische Interpreten, die im Ausland kaum jemand kennen dürfte. Das war Rock, Klassik und Pop, die ganzen Hits der 1980er im Radio. Zur Gitarre kam ich schließlich über Klassenkameraden, die mir die schwedische Hardrock-Band Europe vorspielten.
Die war damals sehr populär, doch mich faszinierten in erster Linie ihre beiden Gitarristen Kee Marcello und John Norum. So begann ich, an einer lokalen Musikschule Gitarrenunterricht zu nehmen. Alles weitere lief wie bei anderen heranwachsenden Metal-Fans auch:
Meine Vorlieben wurden immer härter, von Metallica, Megadeth und Slayer über Sepultura zum Death Metal. Ungefähr 1993 gründete ich mit Freunden eine Band, die Coverversionen spielte, aber auch schon versuchte, eigene Songs zu komponieren.
Dein heutiger Stil lässt auch auf Einflüsse außerhalb dieses traditionellen Metal-Spektrums schließen. Wer hat dich dazu inspiriert?
Mein Musikgeschmack ging in die Breite, als ich durch Dream Theater den Progressive Rock der 1970er entdeckte. Außerdem mochte ich schon immer The Cure und Depeche Mode, während mich Klassik und Fusion-Jazz zu typischen Gitarrenhelden wie Yngwie Malmsteen oder Gary Moore führten.
Zu jener Zeit begann ich, Demos von Instrumentalmusik mit viel Shredding und Prog-Elementen aufzunehmen, was das schwedische Label WAR hellhörig machte. Das Kürzel stand für Wrong Again Records, und Bengt Wenedikter, der Betreiber, gab mehreren später berühmten Bands Starthilfe, darunter In Flames und Arch Enemy.
Er war ein guter Freund von mir und stand auf virtuose Gitarrenmusik, also bot er mir einen Vertrag an. Die erste Band, die sich daraus ergab, war Andromeda; uns gibt es immer noch, aber unser letztes Album kam 2011 heraus, insgesamt sind es sechs und zwei Live-DVDs. Die zweite Band hieß Nonexist und war eher ein Soloprojekt, das in Richtung Death und Thrash Metal ging. Daneben spielte ich bei der Prog-Power-Metal-Band Skyfire.
Und bei Dark Tranquillity warst du ab 2017 zunächst Live-Aushilfsgitarrist, richtig?
Ende 2016. 2019 beteiligte ich mich zum ersten Mal am Songwriting, als sich abzeichnete, dass Gitarrist Niklas Sundin, der die Band mitbegründet hatte, aussteigen würde. So entstand das Album ‚Moment‘, und ‚Endtime Signals‘ ist jetzt meine zweite Veröffentlichung mit Dark Tranquillity.
(Bild: Michele Aldeghi)
Ich habe dich zum erste Mal im Song ‚In the Deepest of Waters‘ von Andromedas 2001er Debütalbum ‚Extension of the Wish‘ gehört. Dieses halsbrecherische Solo im Intro, die Riffs… Das war alles ziemlich weit weg vom herkömmlichen Melodic Death Metal.
Das stimmt, aber die anderen Mitglieder von Dark Tranquillity und ich haben sehr ähnliche musikalische Vorlieben; wir alle stehen auf traditionellen und progressiven Metal.
Bist du über die anfänglichen Gitarrenstunden hinaus Autodidakt?
Nein. Ich lernte schon damals viel Theorie und Notenlesen, was mir half, als ich mich für ein Studium an einer Musikakademie einschrieb. Dort machte ich sogar einen Master als Musiklehrer. In gewisser Weise bin ich aber auch Autodidakt, besonders was das Spielen mit dem Plektrum angeht, denn mein erster Gitarrenlehrer, den ich bis zu meinem 16. oder 17. Lebensjahr hatte, war klassischer Gitarrist und Kontrabassist, weshalb wir nur mit den Fingern spielten.
Mit dem Plektrum haben mir Gitarrenlehrvideos von unter anderem John Petrucci, Steve Morse und Paul Gilbert geholfen. Da ich darüber hinaus selbst unterrichte, lerne ich im Umgang mit meinen Schülern ständig weiter dazu, denn wenn du Dinge erklären und analysieren musst, werden sie dir selbst noch klarer.
Hattest du eine bestimmte Strategie, um deine eigene musikalische Handschrift zu entwickeln?
Nein, das geschah nicht bewusst, und ich kann auch gar nicht beurteilen, ob ich einen eigenen Stil habe, obwohl ich es natürlich hoffe. Auf alle Fälle bemühe ich mich, nicht wie andere Gitarristen zu klingen.
Wie gehst du grundsätzlich beim Komponieren vor?
Meistens vom Kleinen zum Großen. Ich sammle ununterbrochen Ideen auf dem Computer oder Smartphone, seien es Licks, Riffs oder Akkordfolgen, und füge sie zu längeren Fragmenten zusammen Zwei oder drei davon ergeben oft ein grobes Songgerüst.
Texte schreibe ich selten, doch wenn mir eine interessante Formulierung einfällt, wird sie notiert. Dass ich mich beim Songwriting an einer bestimmten Stimmung oder vorgegebenen Struktur orientiere, ist auch eher die Ausnahme.
Die Musik auf ‚Endtime Signals‘ stammt hauptsächlich von Keyboarder Martin Brändström und dir. Wie würdest du dein kreatives Verhältnis zu ihm beschreiben?
Wir harmonieren prima miteinander. Er hat die besondere Gabe, auf deine Ideen einzugehen und sie so zu ergänzen, dass sie viel besser werden. Seine eigenen Demos sind eher vage gehalten; er lässt viele Leerstellen, wo ich mich einbringen kann, und dann arrangieren wir gemeinsam.
Martin ist nach unserem Sänger Mikael Stanne, dem letzten verbliebenen Mitglied der Urbesetzung, der dienstälteste Musiker in der Band und seit einigen Alben auch der Produzent, was ihn sozusagen zum Gatekeeper macht. Er achtet darauf, dass der Dark-Tranquillity-Sound erhalten bleibt und nichts aus dem Rahmen fällt, was ich einbringen will, denn obwohl unser Stil relativ breitgefächert ist und wir sowohl sehr brutale als auch sehr softe Songs bringen können, gibt es immer wieder mal Ideen, die nicht passen.
Woher kam dieses immense Vertrauen der Band in dich? Du durftest dich schon früh kreativ einbringen und bist der einzige Gitarrist, nachdem Dark Tranquillity die meiste Zeit über zwei Gitarristen hatten.
Ich kenne und liebe die Band seit 1993, als ihr erstes Album ‚Skydancer‘ herauskam. Darum verstehe ich ziemlich gut, was ein Dark-Tranquillity-Song braucht. Und wir haben einfach auch einen guten persönlichen Draht zueinander.
Equipment, Übungsroutine und Lieblingsgitarristen auf Seite 2 …
(Bild: Linda Florin)
Es heißt, du redest nicht gern über Equipment, aber gib uns doch bitte trotzdem einen kleinen Überblick. Du spielst offensichtlich Dellinger- und Brocken-Gitarren von Caparison.
Genau, dort habe ich seit 2019 ein Endorsement. Ich wurde von einem ihrer Vertreter auf Tournee angesprochen, der sagte, sie würden mich gerne in ihren Musikerpool aufnehmen, und ich hatte schon viel Gutes über ihre Instrumente gehört.
Reinholdz‘ Gitarren stammen von Caparison. Auf dem Foto ist das Modell Dellinger zu sehen (Bild: Johan Reinholdz)
Sie schickten mir eine Gitarre zum Testen, die mir sehr gut gefiel, auch weil sie ein ähnliches Spielgefühl hatte wie Ibanez-Gitarren, die ich jahrelang verwendet hatte. Sie kam mir also irgendwie vertraut vor, also schien eine Kooperation mit Caparison einfach Sinn zu ergeben. Dark Tranquillity sind unter anderem auch Endorser der Gurtmarke Richter und benutzen live Kemper-Profiling-Amps.
Sie sind sehr praktisch und kommen mir entgegen, weil ich Pedale hasse; ich will mich während Konzerten aufs Spielen und die Interaktion mit dem Publikum konzentrieren. Kempers sind großartig und äußerst verlässlich. Ansonsten hast du Recht, ich interessiere mich nicht sonderlich für Equipment, auch wenn ich das vielleicht sollte.
Kommt im Heimstudio zum Einsatz: Line 6 POD (Bild: Johan Reinholdz)
Darum schaffe ich mir selten neue Sachen an. In meinem Heimstudio kommen ein Line6 Pod und verschiedene Plugins zum Einsatz, die ich mit Logic Pro oder Steinberg Cubase verwende. Ansonsten habe ich ein paar alte Übungsverstärker von Peavey und Mesa/Boogie, aber das war’s auch schon.
Mesa/Boogie 50/50 mit Hughes-&-Kettner-Box (Bild: Johan Reinholdz)
Du produzierst auch selbst, vornehmlich dein Solomaterial. Hast du dir das aus der Notwendigkeit heraus angeeignet, eigene Ideen festhalten zu müssen?
Ja, ich wollte unabhängig arbeiten können, also brachte ich mir alles selbst bei und lernte aus Ratschlägen, die mir Studio-Profis gegeben haben. Mit diesem Wissen konnte ich mich auch in andere Bereiche ausstrecken und Musik aufnehmen, die kaum etwas mit Rock oder Metal zu tun hat – düster melancholisches Zeug, das eher in Richtung Ambient geht und weitgehend ohne Gitarren auskommt.
Line 6 FBV Shortboard MkII (Bild: Johan Reinholdz)
Lass uns mal anhand eines Beispielsongs Dark Tranquillitys Vorgehensweise beim Schreiben beleuchten. Wie wäre es mit ‚Not Nothing‘ vom neuen Album?
Das ist eine interessante Wahl, denn die Demo stammte von mir und hat sich bis zur finalen Version stark verändert. Ich war total überzeugt von der Melodie und dem Hauptriff, doch der Rest überzeugte die anderen Jungs in der Band nicht so richtig.
Ihrer Meinung nach passten die verschiedenen Teile nicht zusammen, also haben wir einiges weggelassen und die Strophen im Grunde nur aus zwei Akkorden aufgebaut. Es hat ziemlich lange gedauert, auch weil der Refrain überladen war, wobei mir ein Fehler bewusst wurde, den ich immer wieder mache:
Ich stecke zu viele musikalische Informationen in kurze Parts, weshalb ich öfter wie ein Bildhauer arbeiten und Teile entfernen sollte, statt mehr hinzuzufügen. Die Passage vor dem Solo besteht aus Ideen, die zuerst für den Refrain gedacht waren, doch das Solo selbst ist praktisch genau so vom Demo übernommen worden. Ich nehme Solos generell gerne für Demos auf, um etwas von ihrer Spontaneität einzufangen.
Auf der Liste deiner Lieblingsgitarristen steht ein Name, den man nicht alle Tage liest: Andy Latimer von der britischen Progressive-Rock-Band Camel. Was beeindruckt dich konkret an ihm?
Zunächst einmal sind Camel toll und beispielsweise im Vergleich zu Yes unterbewertet. Ich mag vor allem ihr 1979er Album ‚I Can See Your House From Here‘, und Andy ist nicht nur ein hervorragender Songwriter, sondern auch ein geschmackvoller Sologitarrist. Sein melodischer Stil erinnert mich ein bisschen an David Gilmour von Pink Floyd, doch wenn du mich fragst, ist Andy vielseitiger.
Hast du eine Übungsroutine, und arbeitest du an bestimmten Schwächen in deinem Spiel?
Ich habe mir im Lauf der Jahre eine Art Workout aus etwa zehn Übungen zurechtgelegt, um an meiner Technik zu arbeiten. Mir ist aufgefallen, dass sie nachlässt, wenn ich mal ein paar Tage keine Gitarre in der Hand hatte, und außerdem tue ich mich schwer mit neuen Ideen, wenn ich nicht zielgerichtet spiele.
Das heißt also, ich verwende diese Übungen, um kreativ zu werden, denn wenn ich sie durchziehe, versetzt mich das in einen Flow-Zustand, in dem mir die besten Sachen einfallen. Dummerweise geschieht das manchmal auch, während ich Schüler unterrichte. Jedenfalls kann ich mich nicht hinsetzen und auf Kommando komponieren.
Was ich auch gerne tue: Jam-Videos für Social Media aufnehmen, was mich anspornt, an meiner Performance zu feilen. Ehrlich gesagt versuche ich immer noch, mir selbst zu beweisen, dass ich Gitarre spielen kann. Man lernt sein ganzes Leben lang, und wenn ich Leute wie Chris Poland oder Guthrie Govan in Action sehe, komme ich mir grottenschlecht vor.
Ich bin wirklich extrem selbstkritisch und nehme das, was ich geschafft habe, nicht als selbstverständlich hin. Schau dir Yngwie Malmsteen an, der das genaue Gegenteil von mir ist. Er hat sich immer für den King gehalten und scheint sich nie anderen Einflüssen gegenüber geöffnet zu haben.
Man hatte nie den Eindruck, er würde sich selbst herausfordern. Für mich bleibt er eine Legende, doch er spielt immer die gleichen Licks und Songs, das ist in meinen Augen die falsche Einstellung für einen Musiker.