Seit mehr als 20 Jahren ist Chuck Garric der Bassist der Alice Cooper Band. Der 57-jährige Amerikaner teilt sich die Bühne mit den großartigen Gitarristen Nita Strauss, Ryan Roxie und Tommy Henriksen und gehört zu einem Ensemble, das tadellose technische Fähigkeiten mit einem kräftigen Schuss Rock‘n‘Roll verbindet. Will sagen: Obwohl hier jeder Ton sitzt, umgibt das Quartett das Flair anarchistischen Ungehorsams, bei dem die wilde Show mindestens genauso wichtig ist wie handwerkliche Genauigkeit.
Die Fähigkeit, diese beiden Extreme zu vereinen, hat Garric unter anderem bei Ronnie James Dio gelernt und von 2002 an bei Alice Cooper weiter verfeinert. Seit 2012 pflegt der US-Bassist zusätzlich eine Liaison mit Coopers Tochter Calico: Die beiden sind die Galionsfiguren der Rockband Beasto Blanco, die im Herbst 2024 ihr neues Album ‚Kinetica‘ veröffentlicht hat. Wir haben die Gelegenheit einer Alice-Cooper-Show auf der Open-AirBühne des Hamburger Stadtparks genutzt, um mehr über den freundlichen Musiker mit der ungestümen Aura zu erfahren.
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Chuck, es heißt, dass du irgendwo auf dem Land, fernab der großen Musikerzentren Amerikas geboren wurdest.
Ich bin am Lake Tahoe an der Grenze zwischen Kalifornien und Nevada aufgewachsen, in einem kleinen Ort, in dem der Hund begraben liegt.
Na ja, immerhin lebt auch David Coverdale am Lake Tahoe.
Ja, das stimmt, aber Coverdale wohnt auf der anderen Seite des Sees, dort wo die Häuser teurer sind und die Gegend nobler ist. Ich dagegen bin auf der ärmeren, verlasseneren Seite des Sees aufgewachsen. Häuser gab es da früher nur sehr vereinzelt.
Um mein Elternhaus herum waren nur Berge und Felder, Felder und nochmals Felder, bevor irgendwann ein zweites Haus mit Nachbarn kam. Allzu viele Spielkameraden gab es hier nicht, aber diejenigen, die hier lebten, gingen mit mir auf die gleiche Schule.
Außerdem hatte ich das Glück, dass meine beiden älteren Brüder in einer gegenüberliegenden Straße wohnten. Einer meiner Brüder spielte Schlagzeug, der andere spielte Gitarre, und zwar wirklich richtig gut. Mike konnte schon in jungen Jahren alles spielen, Eddie Van Halen, Led Zeppelin, Randy Rhoads, Ozzy Osbourne, Black Sabbath. Damals spielte ich noch Trompete in der Schule.
Wie ungewöhnlich!
Ja, und ich liebte es! Meine beiden Brüder dagegen standen total auf Rock‘n‘Roll, und wenn sie nach Hause kamen, brachten sie tolle Musik von Humble Pie, Queen, The Doors oder Black Sabbath mit. Ich liebte dieses Zeugs! Eines Tages fragten mich Freunde, ob ich mir einen Bass kaufen und mit ihnen Musik machen könnte.
Es gab bei uns in der Gegend allerdings überhaupt kein Musikgeschäft, ich musste meinen allerersten Bass also per Post aus einem Katalog bestellen. Es dauerte ein paar Wochen, bis er eintraf, aber dann war ich das glücklichste Kind auf dieser Erde. Der Bass hatte irgendeinen obskuren Namen, besaß aber einen P-Bass-Body und einen P-Bass-Hals. Damit und mit einem kleinen Peavey-Combo fing alles an.
Später spielte ich lange Zeit Ampeg SVT, hatte anschließend auch Ashdown- und HartkeAmps, bin mittlerweile aber bei Kemper gelandet. Ich erinnere mich noch genau an meine allerersten Gehversuche als junger Musiker, ich übte Songs von Queen, nicht gerade die leichteste Übung, und auch die von AC/DC.
Ich liebte das Bass-Spiel von Bon Daisley und entdeckte immer mehr Bands, die mir gefielen. Ich übte und übte und übte. Wir fingen an, auf Partys zu spielen, zunächst ohne Sänger, überwiegend Coversongs. Außerdem absolvierten wir Talentwettbewerbe und nutzten jede Möglichkeit, um bekannter zu werden.
Hast du dir bekannte Bands auf der Bühne angeschaut?
Ja, natürlich. Ich musste unbedingt Humble Pie sehen. Ich fuhr nach Reno in Nevada. Dann ging das Licht an, die Show begann, und ich hatte sofort meine Trompete und meine gesamte Kindheit vergessen. (lacht) Ich wusste genau: Das hier ist the real shit!
Also von nun an nur noch Gitarren und Bässe anstatt Bläser!
Richtig. Man muss sich in jene Zeit zurückversetzen: Damals war Rock‘n‘Roll ein Lifestyle, es war das Leben! Es war der Pulsschlag dieser Jahre, überall gab es neue Rockbands. Eine aufregende Zeit! Ich musste also eine Entscheidung treffen: Musik oder geregeltes Leben.
Bis zu diesem Augenblick hatte ich noch regulär gearbeitet, in der Produktion einer Firma. In der Schule war ich keine besonders helle Leuchte gewesen, das einzige Fach, in dem ich wirklich gut war, war Sport. Außerdem wollte ich sowieso nur Musik machen.
Also fuhr ich mit 500 Dollar in der Tasche im Auto nach Los Angeles und versuchte, damit über die Runden zu kommen. Ich nahm mir ein billiges Hotelzimmer, suchte mir einen Aushilfsjob und ging wieder zur Schule, diesmal aber zu einer Musikschule. Das alles war so um 1986 und 1987, der Moment, in dem ich anfing, mich auf meine wahren Talente zu konzentrieren.
“Damals war Rock‘n‘Roll ein Lifestyle, es war das Leben! Es war der Pulsschlag dieser Jahre, überall gab es neue Rockbands. Eine aufregende Zeit!”
War dein Talent als Bassist seinerzeit schon für Außenstehende sichtbar?
Ich denke schon. Als ich mich an der Musikschule einschrieb, hatte ich überhaupt kein musiktheoretisches Wissen. Das Einzige, was ich bis dahin gemacht hatte: Ich lernte bekannte Songs auswendig und spielte sie mit meinen Bands.
Nach ein paar Wochen an der Musikschule bekam ich unter anderem Joel Di Bartolo von der ‚Tonight Show‘ und Dean Taba, einen der damals angesagtesten Studiobassisten in Los Angeles, als Lehrer. Dean nahm mich eines Tages zur Seite und sagte: „Hör mal, unter all meinen Studenten ragst du heraus. Ich denke, dass du es schaffen könntest.“
Ich war total baff. Als er mich um ein Gespräch bat, dachte ich zunächst, er würde sagen: „Du solltest dir lieber einen anderen Job suchen.“ Aber er tat das genaue Gegenteil: Dean ermunterte mich, an meinem Ziel festzuhalten. Ich war total glücklich und glaubte ihm natürlich nur allzu gern. Bis heute habe wir einen guten Kontakt zueinander und ich gestehe ihm immer wieder: „Dieser eine Satz von dir hat mein gesamtes Leben verändert!“
Wie ging es weiter?
Ich habe mit Beginn der Musikschule immer in irgendwelchen Bands gespielt, daran hat sich bis heute nichts geändert. Ich hatte Bands in Hollywood, ich rannte zu jeder Audition, die sich anbot, wurde natürlich bei weitem nicht immer genommen, sondern oft auch abgelehnt. Ich bekam viele Komplimente, die sich für mich zwar nicht immer auszahlten, habe aber trotzdem jeden einzelnen Tag meines Lebens genossen.
Geblieben ist seither auch dein Faible für Fender-Bässe, nicht wahr?
Ja, das stimmt. Der Sound, das Handling, die Optik, Fender ist einfach mein Bass!
Immer P-Bass? Oder auch Jazz-Bass?
Nun, eigentlich immer P-Bass, aber so genau kann man das eigentlich nicht voneinander trennen. Ich liebe Geddy Lee von Rush, ich liebe aber auch Bob Daisley und all die Typen, die ihren eigenen Stil kreiert haben. Zum Beispiel Lemmy. Ich liebe Lemmy! Nicht nur wegen seines Bass-Spiels, sondern wegen seiner gesamten Attitüde.
Ich liebe es, wie Bob Daisley Bass spielt, aber ich liebe auch Paul McCartney. Ich mag unterschiedliche Bassisten und ihre verschiedenartigen Stile, und genauso liebe ich unterschiedliche Bässe. Aber der P-Bass war für mich immer schon der am universellsten einsetz bare Bass. Deshalb musste ich natürlich auch selbst einen originalen P-Bass besitzen.
Heute Abend bei Alice Cooper spielst du aber auch einen Epiphone Thunderbird, oder?
Das liegt daran, dass ich auch ein glühender Fan von Pete Way bin, der bekanntlich überwiegend Thunderbirds gespielt hat. Im Grunde genommen bin ich – trotz meiner Vorliebe für Fender Precision – ein grundsätzlicher Bass-Fan.
Wobei sich diese Vorliebe auf Viersaiter beschränkt, nicht wahr?
Ja, das stimmt. Ich erinnere mich noch gut daran, als Fünfsaiter aufkamen und jeder Bassist einen Fünfsaiter besitzen wollte. Also legte ich mir auch einen zu, nahm aber schon nach wenigen Wochen eine Saite wieder runter. Meine Kollegen erklärten mich für verrückt, fragten, weshalb ich das mache. Meine Antwort war kurz und bündig:
„Für das, was ich spiele, benötigt man nur vier Saiten!“ Mag sein, dass sie innerlich mit dem Kopf geschüttelt haben, aber für mich funktionieren Viersaiter besser als Fünfsaiter. Ich fühle mich auf Viersaitern einfach zu Hause. Und wenn ich ehrlich bin: Ich habe den Sinn der fünften Saite eigentlich nie so ganz verstanden, jedenfalls nicht für die Art von Musik, die ich mache.
Spielst du mit Fingern oder mit Plektrum?
Mit beidem.
Immer schon?
Ja, aber als ich in die Band von Alice Cooper einstieg, spielte ich mit Fingern. Doch bereits nach wenigen Monaten wechselte ich wieder zu Plektren.
Weil?
Nun, weil es für mein Empfinden einfach besser zu Alices Musik passt. Ich mag das Spiel des ersten Alice-Cooper-Bassisten Dennis Dunaway, aber mit den Fingern konnte ich nie seinen Sound erzeugen. Also wechselte ich nach der ersten oder zweiten Tour zum Plektrum.
Davor hast du bei Ronnie James Dio gespielt. Übrigens auch mit Plektrum.
Das ist richtig, denn einer meiner Vorgänger war Jimmy Bain, und auch Jimmy war ein PlektrumBassist. Jimmy hat mir bei meiner Karriere sehr geholfen.
Es heißt, dass er extra zu den Dio-Proben gekommen ist, um dir Tipps zu geben.
Genauso war es. Unglaublich, nicht wahr? Ich fuhr zu Dios Proben und plötzlich tauchte Jimmy dort auf, setzte sich mitten in den Raum und schaute mir auf die Finger. Ich war natürlich super aufgeregt, denn Jimmy gehörte immer schon zu meinen Idolen.
Und plötzlich stand ich im Proberaum mit Ronnie James Dio, spielte die Bass-Parts meines großen Vorbilds Jimmy Bain, und Jimmy saß nur wenige Meter von mir entfernt auf einem Stuhl, um mir zuzuschauen. Mir zitterten die Knie, ich hasste es und hätte am liebsten gesehen, dass er den Raum verlässt.
Aber er saß nur da, schaute mir dabei zu, wie ich Note für Note seine Basslinien nachspielte. In einer Pause kam er zu mir, klopfte mir anerkennend auf die Schultern und drehte meinen Bass-Amp ein ganzes Stück lauter. Ich schlug die tiefe E-Saite an und dachte: Wow, JETZT klingt es wirklich wie Dio! Und weißt du, was er dann zu mir sagte?
Nämlich?
Er sagte: „Hey Mann, du spielst viel zu viele Noten, du spielst es viel zu korrekt! Mach mal halblang, sei ein bisschen bequemer und lehn dich ein wenig zurück!“ Ich war ziemlich verblüfft. Aber als ich dann mit Dio auf Tour ging, merkte ich schnell, was er meinte. Nämlich, dass man sich seine Kraft sorgsam einteilen sollte, wenn man auf langen Tourneen Abend für Abend auf die Bühne und zweistündige Shows spielen muss.
Die Dio-Tage haben dich geprägt, nicht wahr?
Oh ja, absolut. Ich wollte unbedingt mit Ronnie spielen, ich legte all meine Leidenschaft in mein Bass-Spiel, weil ich unbedingt dabei sein wollte. Ich bekomme noch heute eine Gänsehaut, wenn ich daran denke, wie er auf der Bühne zu mir rüberkam, das Mikrophon in seiner unnachahmlichen Art kreisen ließ und sich die Seele aus dem Leib sang.
Ich glaube, ich habe nie wieder so gut Bass gespielt wie auf den ersten Tourneen mit Ronnie. Eines Tages kam er nach der Show zu mir und sagte: „Chuck, du bist das Beste, was mir passieren konnte!“ Und ich entgegnete: „Danke, das Gleiche kann ich von dir sagen!“ Ich habe damals jede Chance genutzt, um im Geschäft zu bleiben, das hat sicherlich auch dazu beigetragen, dass ich schließlich bei Alice Cooper gelandet bin.