(Bild: Franz Holtmann)
Die ES-355 ist die Königin der ES-Linie – Liebling der Stars. In dem Zusammenhang die Namen von B.B. King, Chuck Berry, Freddie King oder Keith Richards zu nennen, heißt wohl, Eulen nach Athen zu tragen.
Im Jahr 1958 von Gibson eingeführt, erregten die ungewöhnlich konstruierten Modelle der halbakustischen ES-Reihe (Electric Spanish) mit ihrer „wonder-thin silhouette“ und den gerundeten Double Cutaways schon für einiges Aufsehen beim durchaus beeindruckten Publikum. Bemerkenswerte Umsatzzahlen indes waren erst einmal nicht zu verzeichnen.
Offenbar setzte man bei Gibson jedoch größere Hoffnungen in die neu entwickelten und nach und nach in unterschiedlich ausgestatteten Versionen herausgebrachten Thinline-Electrics, als in die am Ende ihrer ersten Karriere dann schnell noch mit Humbuckern aufgewertete Les Paul, welche die damals in sie gesetzten Erwartungen aber leider nicht erfüllen konnte und bald darauf aus dem Programm verschwand. Ganz zu schweigen von den Mega-Flops der Modernistic Guitars Flying V und Explorer.
Was die Produktionszahlen angeht, werden die grundlegenden Entscheidungen in Gibsons Modellpolitik der späten 50erJahre aber noch einige Zeit vom Prinzip Hoffnung geprägt gewesen sein. Vergleicht man alle von 1957 bis 1960 mit Humbuckern gefertigten Les Pauls mit den Zahlen der ausgelieferten ES-Modelle, so kommt man jeweils auf gut 3000 Stück. Die altehrwürdige Firma Gibson suchte aber nach Modellen mit zeitgemäßer Ausrichtung, um ihren angestammten Platz gegen den immer mächtiger werdenden kalifornischen Konkurrenten auch weiterhin behaupten zu können, und von der Les Paul hatte man zuvor ja auch schon ganz andere Zahlen gesehen.
Nun ja, die LP Junior mit P90-Pickup brachte es im gleichen Zeitraum immerhin noch auf gut 12000 Einheiten. Aber die Pläne für die leichter herzustellende und schnittig gestalte SG (Solid Guitar), anfangs noch mit Les-Paul-Zusatz im Namen, lagen ja bereits in der Schublade.
Viel Arbeit war also in die Entwicklung der neuen Thinline-Serien investiert worden, und man glaubte mit Recht an den langfristigen Erfolg der gut gesetzten Mixtur von traditionellem Bezug (halbakustische Bauweise, gewölbter Korpus mit f-Löchern), spieltechnischer Erweiterung (Double Cutaway-Design = Freistellung der hohen Lagen) und brummfreier Elektrik (Humbucker).
Gibson-Chef Ted McCarty: „Die Idee für die 335 war in erster Linie eine, die ich mir ausgedacht hatte, um eine Solidbody-Gitarre zu bauen, die wie eine normale Akustikgitarre aussieht – und das haben wir nie patentieren lassen. Für einige habe ich Patente angemeldet (Moderne, Flying V, Explorer), weil ich wusste, was Leo Fender tun würde. Hatte ich ein Patent, wagte er sich nicht an das Thema ran. Bei vielen anderen Formen habe ich mir nie die Mühe gemacht. Es kostet Geld, eine Gitarrenform oder ähnliches zu patentieren. Ich hatte auch die Idee, den Holzblock in die Mitte der 335 zu setzen. Ich dachte an eine Solidbody-Gitarre mit hohlen Flügeln anstelle von massivem Holz. Les Paul hatte wahrscheinlich recht mit seinem Brett, aber das sah einfach komisch aus. Also haben wir eine Gitarre gebaut, die auch wie eine Gitarre aussah, nur dass sie an einigen Stellen hohl war und an anderen massiv.“
An der Umsetzung von Teds Ideen war natürlich Chefingenieur Walt Fuller, der u.a. den Varitone Rotery Switch für die Modelle 345 und 355 entwickelte, und das übrige Gibson Design Department maßgeblich beteiligt. Seth Lover hatte zuvor schon die Humbucker für Gibson entwickelt:
„Ich dachte, wenn wir Humbucking-Drosseln für Verstärker herstellen können, warum dann nicht auch Humbucking-Pickups? Also entwarf ich den Tonabnehmer. Ich glaube, ich hatte 1955 mit der Arbeit daran begonnen und 1957 haben sie angefangen, sie zu produzieren. Sie bauten die Pickups in die 175, eine Les Paul, die 335 und einige andere Modelle ein. Ich habe dem Tonabnehmer den Namen Humbucker gegeben, weil er das Brummen unterdrückt. Die Verkäufer in Chicago wünschten sich zudem Stellschrauben, was ich dann auch im Design übernommen habe. Außerdem habe ich die Tonabnehmer in der Gitarre so platziert, dass die Schrauben zum Steg und zum Griffbrett hin zeigen. Die Leute wollten wissen, warum ich das so gemacht habe. Zu dekorativen Zwecken (lacht)!“
Das im Frühjahr 1959 offiziell vorgestellte „Top-of-the-Line“-Modell ES-355, einige Exemplare kamen aber schon Ende 1958 zur Auslieferung, wurde in zwei Versionen herausgebracht: die ES-355TD in Mono-Ausführung und die ES-355TD-SV mit Stereo Varitone Circuit. Der Korpus ist immer, wie auch bei den Schwesterinstrumenten ES-335 und ES-345, aus laminiertem und in Wölbung gepresstem Ahorn gefertigt. Mittig ist durchgehend ein etwa zehn Zentimeter breiter Block aus massivem Ahorn eingefügt (Sustain Block), der mit Futter passgenau an die Wölbungen von Decke und Boden angepasst ist. Ted McCarty:
„Der Mittelblock war aus Ahorn. Obendrauf kam Fichtenholz, das wir so gekerbt haben, dass man die Decke darauf setzen konnte und sie sich noch ein wenig bog. Das galt für Top und Boden, denn der Holzblock hatte nur flache Seiten. Der Block machte die Gitarre steifer, sodass sie einen helleren Ton hatte als eine akustische.”
Der Body der ES-355 wurde mit Multi-Binding effektvoll eingefasst. Der Hals bekam im Gegensatz zu den anderen Thinlines mit Griffbrett aus Palisander ein gebundenes Ebenholzgriffbrett mit großen Blockeinlagen aus Perlmutt. Die ebenfalls mit mehrlagigen Bindings verzierte Kopfplatte krönte ein Split-Diamond-Logo. Die Waffleback Tuners wie auch alle weiteren Hardware-Parts kamen komplett in Goldausführung.
Zur Standardausstattung gehörte ein Bigsby Vibrato oder ein Maestro Vibrola. Das Wort „Stereo“ auf der Kopfplatte ist Hinweis auf die besondere Elektrik, die in der 355 und auch der 345 realisiert wurde. Über ein Stereo-Kabel lassen sich darüber die beiden Humbucker-Pickups getrennt zu verschiedenen Verstärkern herausführen, was aber kaum praktische Anwendung fand.
Ein weiteres auffälliges Ausstattungsmerkmal ist die Varitone-Filterschaltung. Per Drehschalter aufrufbar stehen damit fünf Sound-Varianten bereit. Da die Varitone-Schaltung das Signal bedämpft, stieß dieses Element aber bei vielen Spielern auf wenig Zuspruch und war damit oft Anlass für eine Modifikation, oder die Varitone-Schaltung wurde gleich ganz ausgebaut. Weniger Exemplare wurden in Mono gefertigt; besonders begehrt und dementsprechend teuer – da extrem selten – sind heute die Gitarren mit Stoptail und ohne Varitone.
LADY IN RED
(Bild: Franz Holtmann)
Das vorliegende Exemplar von 1968 ist, abgesehen von einem kleinen geflickten Schaden im Celluloid-Pickguard, in prachtvollem Erhaltungszustand. Mit 4,2 kg zwar kein Leichtgewicht, aber auch nicht ungewöhnlich schwer für das im Rahmen der ES-Reihe etwas massiver gebaute 355-Modell. Der schlanke Hals vermittelt ein vollkommen souveränes, festes Spielgefühl, das sich in der straffen, sustainreichen Tonentfaltung spiegelt.
Die Gibson ES-355 klingt nicht zuletzt ihres Ebenholzgriffbretts wegen immer etwas zentrierter, erdiger und direkter als ein 335-Modell. Schnell in der Ansprache setzt sich diese Gitarre mit starker Präsenz kraftvoll durch. Und das auch schon ohne die Umgehung der viel kritisierten Varitone-Schaltung.
STATISTIK
Die Gibson ES-355 kam nie in großen Zahlen auf den Markt und zumindest eine davon ist nicht mehr auf, sondern unter der Erde: Chuck Berry wurde zusammen mit seiner geliebten ES-355 beerdigt. Von 1958 bis 1965, den beliebtesten Jahrgängen, wurden 754 Mono-Versionen ausgeliefert, von der ES-355TD/SV Stereo 1056 Versionen. Das beste Jahr war 1967 mit 207 Mono- und 198 Stereo-Versionen. 1968 war mit 144 und 174 Einheiten auch noch gut, dann aber ließen die Verkaufszahlen stark nach.
1970 verschwand die Mono-Version von der Bildfläche, die 355TD/SV schaffte es noch bis 1981. Begehrte frühe Versionen bis 1965 sieht man nicht selten für 20.000 Euro aufwärts angeboten; Versionen bis 1970 in Bestzustand sind auch kaum mehr unter 8.000 Euro zu finden.
(erschienen in Gitarre & Bass 03/2022)