Während sich Victory Amplification zu Hause in UK bereits zu einer großen Nummer entwickelt hat, nimmt die Marke hierzulande (noch) den Newcomer-Status ein. Dass die Amps und Cabs überhaupt über den Kanal zu uns kommen, ist dem Engagement von Einzelhändlern zu verdanken – unser Test-Amp kommt von Musik Produktiv, danke dafür. Das Debut in G&B gibt der „Krake“, ein austrainierter, technisch moderner Vollröhren-Rocker.
Das Sortiment der in Knaphill/Surrey ansässigen Firma ist mit elf Verstärkermodellen und zwölf Cabinets ganz schön umfangreich. The Kraken stammt aus der „Compact Series“ und gehört zu einer Gruppe von sechs Amps, die sich in der Bauform gleichen, aber unterschiedlichen Ansprüchen im Ton und der Ausstattung genügen. Unter dem Namen „Handwired Series“ stellt Victory Amplification dagegen konventionelle Topteile „normaler“ Größe her. V100 heißt das Flagschiff, das zwei eigenständige, separate Kanal zu bieten hat sowie u. a. zwei FX-Loops, Hi/Lo-Power –Umschaltung und 6L6/EL34-Bias-Switching.
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Combos sind ebenfalls im Angebot und das EL34- Topteil „Heritage-Series-V44“ hält die britische Vintage-Flagge hoch. Die Preise liegen zwischen ca. € 800 bis 3000. Das Selbstverständnis des Herstellers folgt der klaren Devise, Zitat: „Verstärker zu entwickeln, die einem im Spiel weiterbringen und niemals im Stich lassen“. Handverdrahtung, Printboards wo sie Sinn machen, kompromisslose Verwendung hochwertiger Bauteile, das sind die Eckpfeiler, auf denen laut Victory die Fertigung ruht. In der Summe ein verheißungsvolles Versprechen. Scheint, dass wir Großes erwarten dürfen.
Konstruktion
Im schlichten Grau steht er da, Stahlblechgehäuse, Lochgitter als Haube über den Röhren und Trafos, mehr oder weniger ein gewohnter Anblick in der Runde der Lunchbox-Amps. Wenig Spektakel machen auch die vordergründigen Eckdaten: Eine Klangreglung, zwei manuell oder per Fußschalter wechselweise nutzbare Soundmodes − repräsentiert durch die beiden Gain-Regler −, zwei Master-Volumes, ein serieller Einschleifweg, drei Lautsprecherausgänge (1× 16, 2× 8 Ohm). Aber dann kommen doch spezielle Eigenheiten zum Vorschein.
Während die meisten Kompaktverstärker die kleine EL84 in der Endstufe nutzen, hat der Krake zwei „ausgewachsene“ 6L6 am Start. Damit spannt er in der Ausgangsleistung eindrucksvoll die Muskeln. Gleichzeitig bietet der Amp die Möglichkeit, die Power zu reduzieren. Am Standby-Schalter wählt man dazu statt „High“ die Position „Low“. Für technisch Interessierte, die Anodenspannung wird verändert, parallel die statische Biasspannung am Gitter- 1 (415/-37, 210/-18 VDC). An der Rückseite kann zusätzlich zwischen der Class-AB-Gegentaktfunktion (beide Röhren) und Single-Ended-/Eintakt-Betrieb (eine Röhre) gewählt werden. Ergibt vier Leistungsebenen: 50, 8, 1, 0,3 Watt. Der Schalter an der Rückseite deaktiviert wahlweise die eine oder die andere Röhre, um für einen gleichmäßigen Verschleiß sorgen zu können.
Was Sound-Veränderungen angeht, ist auch noch der unscheinbare Druckschalter zwischen den Speaker-Outs und den FX-Buchsen von Bedeutung. Er nimmt auf die Dynamik der Bassfrequenzen Einfluss, ähnlich wie es Regler mit dem Namen Resonance, Reactance usw. tun. Versteckt hinter dem Lochblechgitter gibt es im Übrigen noch einen Mini-Schalter. Er verändert die Bias-Spannung so, dass man alternativ EL34 in der Endstufe nutzen kann. Und dank zweier Testpunkte und eines Trimmpotis ist das Einmessen anderer/neuer Röhren ein Kinderspiel. Äh, Kinderspiel … sagte ich Kinderspiel!?
Nee, das ist es nicht wirklich. Bitte, rumschrauben im Röhren-Amp ist nichts für Laien – man muss das immer wieder betonen. Bei Spannungen von bis zu 450VDC kann die Gesundheit böse Schaden nehmen (nach meinem letzten Schlag an der V2-Anode eines Blackface Pro Reverb vor einigen Jahren bin ich kuriert bzw. sehr, sehr … sehr vorsichtig geworden; es hat mich gut einen Meter an die Zimmertür geworfen … uff!). In Sachen Fernbedienung per Fußschalter hat The Kraken noch etwas Spezielles in petto. An der einen Stereo-Buchse liegt die Umschaltung der Gain-Stufen und der Master-Volumes an. Ein entsprechendes Schaltpedal mit (leider schlapp leuchtenden) LED-Anzeigen und knapp fünf Meter langem Kabel gehört zum Lieferumfang. Über den zweiten FS-Anschluss ist einerseits der Status des FX-Wegs schaltbar.
Andererseits − und das ist besonders − steht hier die sogenannte Override-Funktion zur Verfügung, die erzwingt, dass Gain und Master paarweise zugleich wechseln, wie bei einem gewöhnlichen Zweikanalverstärker. Nach dem Entfernen der Bodenplatte kann man die qualitativ hochstehende Verarbeitung und Substanz der Elektronik begutachten. Penibel gemacht, sehr schön anzusehen. Positiv hervorzuheben ist auch, dass mehrere Feinsicherungen die Schaltung schützen. Von der gepriesenen Handarbeit ist allerdings nicht viel zu sehen bzw. das Printboard sieht doch so aus, als ob es zumindest partiell maschinell bestückt wird. Die Trafos liefert eine englische Firma namens Demeter Windings mit Sitz in Chelmsford/Essex, knapp 70 Kilometer nordöstlich von London.
Die 6L6-Röhren liefert JJ-Electronics, die vier 12AX7 tragen das Logo von PM Guitar Tubes, ebenfalls eine englische Company, ansässig in Sittingbourne, in der Grafschaft Kent. Made in UK ist insoweit wörtlich zu nehmen.
Praxis
Victory charakterisiert The Kraken tonal als klassisch britisch bis aggressiv amerikanisch. Nicht die aussagekräftigsten Schlagworte, aber ich war vorgewarnt – es könnte hart zur Sache gehen. Die ersten Noten habe mich dann trotzdem ein bisschen erschreckt: Gain I, mittlere Lautstärke, die Höhen haken einem ja schier das Trommelfell aus! Tja, Vintage 30-Speaker, Tonregler in der Mitte, so geht es nicht. Oder nur bedingt, manch einem gefällt das vielleicht genauso. Treble zurück auf 9 – 10 Uhr, auch die Mitten gefühlvoll einblenden, am besten noch zu Speakern aus der Greenback-Familie o. ä. wechseln, dann sieht die Welt doch gleich anders, gefälliger und ausgewogener aus.
Um es auf den Punkt zu bringen, der Gain-I-Modus erzeugt seinen „beherzten“ Klangcharakter mit einem Konglomerat, das Nuancen aus der Plexi-Marshall-Ära mit einer Art JCM800-Fundament mischt. Die Höhen bilden sich bei aller Offensive tatsächlich aber deutlich geschmeidiger, nicht so harsch wie bei den 2204/2203-Amps aus. Und die Verzerrungen entwickeln sich erheblich harmonischer. Für die britisch orientierten Traditionalisten unter uns ein wahrer Ohrenschmaus. Und zwar nicht nur, weil sich Klangbild, Ansprache und Dynamik ausgesprochen homogen ausbalancieren. Nein, die Gain-I-Sektion setzt darüber hinaus damit Zeichen wie die Dichte ihrer Distortion dem Spieler folgt.
Fürwahr, es ist beeindruckend: Fast wie aus dem Bilderbuch gehorcht der Amp in der Gain-IEbene auf Nuancen im Attack. Ganz leichte Anzerrungen, z. B. in einem Akkord-Arpeggio, wandeln sich mit stärkerem Anschlag in komplexere Distortion, ohne dass sich die Lautstärke verändert. Und das gelingt schon bei geringen Stellungen des Master-Volumes. Am besten allerdings im High-Power-Betrieb und einigermaßen laut, weil da der Amp sein maximales Tonvolumen freimacht. Beim Umschalten auf die schwächeren Ebenen magert seine Wiedergabe im Bassbereich und den Tiefmitten deutlich ab. Physik, es liegt in der Natur der Technik. Doch selbst bei 0,3 Watt darf man mit der Fülle und Markanz des Tons höchst zufrieden sein.
Im Gain-II-Modus schlägt The Kraken ganz andere Töne an. Hohe Kompression trifft auf singende Mitten. Die Wiedergabe verschlankt sich in den Bässen erheblich. Die Gain-Reserven sind geradezu irrwitzig hoch. Trotzdem herrscht unerwartet dezente Ruhe, ohne hohe Nebengeräusche, wenn man das Guitar-Volume zudreht. Da hat der Entwickler – ein gewisser Martin Kidd – aber ein echtes Kunststück vollbracht. Erst recht und vor allem weil sich die Verzerrungen nicht als Tonkiller betätigen. Die Klangfarben sind detailreich und zeigen das Potential des jeweiligen Instruments präzise auf. Wer Unterstützung des Sustain mag (wer nicht?!) und sich bei Hammer-Ons und Pull-Offs gerne vom Amp getragen fühlt, ist hier an der richtigen Adresse.
Das hat irgendwo sogar etwas vom „sagenhaften“ Singsang des Boogie von Mesa. Bzw. es erinnert an Mesas Sondermodell King Snake, das mithilfe seines Mid-Boost „unendlich“ ausklingende Töne erzeugt. Einen Nachteil hat die Gain-Power allerdings. Sie provoziert selbst bei Tonabnehmern, die man eigentlich als unempfindlich für Feedbacks kennt, doch schnell Rückkopplungen. Man sollte größeren Abstand zum Kraken halten, dann verringert sich die Fiepgefahr. Wenn der Gain-II-Modus laut Victory perfekt für „…progressive und Extended-Range Spieler“ sein soll, so kann ich nur bedingt zustimmen. Aus rein klanglicher Sicht überzeugen Dropped-Tunings zwar, sie pulsieren im Attack aber nicht so energiereich wie sich das mancher wünschen wird. Zudem dürften Speed-Metallern das Ansprechen auf die Anschläge nicht schnell genug sein. Somit ist Gain II primär als Lead-Kanal für Melodien und Soli zu sehen. Das Konzept des Kraken funktioniert auf diese Art auch in sich stimmig: Quasi-Clean (subtile Anzerrungen enthalten) bis sattere Distortion in der Sektion-I, sei es für Rhythm oder markige Blues-Solos u. ä., Gain II für die „heiß“ verzerrten Passagen.
Fragt sich, ob und worin sich der Amp von den hochkarätigen und teueren Meistern seiner Zunft unterscheidet? Nun, so elegant der Kraken schon klingt, in Sachen Transparenz, räumlicher Tiefe und Tonkultur ist absolut gesehen durchaus noch Luft nach oben, wie auch in der Ausstattung. Am Ende kommt noch einmal ein dickes Lob. Wie viele Amps hatte ich schon hier, bei denen der FX-Weg in so einem GainKonzept nicht wirklich gut arbeitete. The Kraken zeigt, das es geht. Funktioniert perfekt, vorausgesetzt man benutzt FX-Prozessoren, die den 0-dB-Pegel verarbeiten können. Der Einschleifweg liegt vor den Master-Volume-Reglern. Daher können sogar Pegelverluste in gewissem Rahmen aufgeholt/ausgeglichen werden.
Die Bypass-Schaltung wirkt ausschließlich auf den Return, sprich der Send liegt permanent offen, gibt immer ein Signal ab. Mit den bekannten Folgen. Ist ein Echo- /Reverb-Gerät angeschlossen, hört man beim Einschalten Effektfahnen der vorher gespielten Sequenz. Das ist noch verbesserungswürdig, z. B. indem beide Wege geschaltet werden.
Alternativen
In der Preisklasse des The Kraken, und auch schon darunter, tummeln sich reichlich interessante Amps. Nur wenige davon gleichen ihm allerdings im Charakter. Und keiner deckt sich letztlich mit dem Kraken im Gesamtkonzept. Tut mir leid, ich habe insofern keine Alternative auf dem Zettel, die ich seriös empfehlen könnte.
Resümee
Die Begegnung mit dem The Kraken kann für Freunde klassischer Brit-Sounds eine Offenbarung sein. Zum einen, weil seine Tonformung sehr markant ist und sich in der Ansprache/Reaktion fast schon vorbildlich sensibel benimmt, zum anderen, weil der Amp u. a. dank der effizienten Klangregelung und der vier Leistungsstufen ein sehr breites Sound-Spektrum abdeckt. Hohe Max.-Leistung im kompakt geschnürten Paket, sinnvolle Schaltfunktionen, ein exzellent funktionierender FX-Weg (der allerdings in der Bypass-Schaltung noch Optimierung vertragen könnte), sehr gute Verarbeitung … man darf mit Fug und Recht resümieren, dass der The Kraken seinen Preis wert ist.
Für die Aufnahmen kamen zwei Mikrofone mit Großflächenmembran zum Einsatz, ein AM11 mit von Groove-Tubes/Alesis und ein C414 von AKG, platziert vor einem Celestion-Creamback im klassischen 4×12-Cab.
Die Clips wurden pur, ohne Kompressor o. jegliche EQ-Bearbeitung über das Audio-Interface Pro-24DSP von Focusrite in Logic Pro eingespielt. Die Raumsimulationen steuert das Plug-In „Platinum-Reverb“ bei.
Die Instrumente sind eine Fender-CS-Relic-Strat-1956 und eine 1957-Signature-Les-Paul „Lee Roy Parnell“ aus dem Gibson-Custom-Shop.
Bedeutung der Buchstabenkürzel:
OD: Overdrive, geringe Anzerrungen.
CR: Crunchsound, etwas mehr Gain als bei Overdrive.
Dist: stärker Verzerrungen, hohe Gain-Ebene.
LD: Leadsound
LG: Low Gain, Gain-Poti niedrig aus-gesteuert im Kanal.
MG: Medium Gain im Kanal.
LP: Les Paul / Humbucker.
Clip 1 bis 4: Impressionen vom Channel 1. Einzelnoten können annähernd clean klingen, der Kanal ist aber so „heiß“, das Akkorde im Grunde mindestens „haarig“ anzerren. Clip 3 zeigt deutlich auf, wie sensibel der Krake auf den Anschlag reagiert: Ich habe nicht am Guitar-Volume gedreht, der Sound-Unterschied entstand alleine durch die Anschlagsstärke. Ziemlich cool, das machen dem Kraken nicht viele nach.
In den Clips #5 und #6 war das Gain-Poti des Channel 2 ungefähr 60% aufgedreht. Es geht also noch mehr. Die Strat musste wieder herhalten, einmal mit tieferen Noten (#5), dann mit hohen bis sehr hohen Tönen (#6). Man hört ein bisschen heraus, dass im Hintergrund die Feedbacks lauern, nicht wahr?
In den Clips #7 und #8 hören wir meine CS-Sign.-Parnell-Les Paul im Dropped –Tuning um darzustellen inwieweit der Krake moderne Heavy Sounds abbilden kann. Klanglich macht er das stark, aber seine (zu) nachgiebige Reaktion auf die Attacks macht einen durch die Rechnung. Clip #8 habe ich genau deswegen so eingespielt, damit man hören kann wie der Amp mit schnellen Attacks umgeht. Könnte präziser und prägnanter sein, nicht wahr?! Und ich habe wirklich sehr sauber gespielt. Und die erhabene Paula ist auch alles andere als lahm in der Ansprache.
Im Clip #9 hören wir die beiden Kanäle im Wechsel, erkennbar an dem Schaltpuls in der Mitte. Channel II verfällt –wie das so seine Art ist- sofort in ein Obertonfeedback.
Clip #10 präsentiert mein Referenz-Riff“ (RefRiff), das ich mit jedem Test-Amp/-Distortion-Pedal einspiele, damit man den Charakter der von uns getesteten Produkte quasi auf einer neutralen Ebene vergleichen kann.
Ich wünsche viel Vergnügen, und…, wenn möglich, bitte laut anhören, über Boxen, nicht Kopfhörer! ;-).
Fragen, Anregungen und ja, auch Kritik sind wie stets willkommen. Nachrichten bitte an frag.ebo@gitarrebass.de. Es klappt nicht immer, aber ich werde mich bemühen möglichst kurzfristig zu antworten.