Darf es etwas mehr sein?

Test: Eventide H90 Harmonizer

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(Bild: Dieter Stork)

Mit dem H9 hat Eventide wohl das Schweizer Effekt-Taschenmesser für gehobene Ansprüche erfunden. Mit dem H90 geht es jetzt für alle weiter, denen ein einzelner aktiver Effekt einfach nicht reichte.

Der H9 Harmonizer ist wohl allseits beliebt. Der einzige Kritikpunkt war oft, dass man gerne mal mehr als eins davon hätte. Und so sieht man nicht selten gleich zwei auf einem Board. Dieses Problem könnte der neue H90 Harmonizer beheben, der zwei gleichzeitig nutzbare Sounds bietet. Doch den H90 einfach als Doppel-H9 zu bezeichnen, würde ihm nicht gerecht werden, denn hier hat sich darüber hinaus einiges getan. Für Neulinge schauen wir uns generell an, was der H90 kann, für alle mit H9-Erfahrung gehen wir dann später auf die Neuerungen ein.

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HARDWARE UND BEDIENELEMENTE

Der Eventide Harmonizer wird in einem ganz ansehnlichen Karton geliefert und bringt sein eigenes Netzteil sowie einen Aufkleber, ein Plektrum und Klebefüßchen mit. Möchte man ein anderes Netzteil nutzen, sollte einem klar sein, dass der H90 gerne mit 12V und einem Center-Positive-Stecker versorgt werden möchte – nicht völlig verrückt, aber exotisch genug, um kurz darauf hinzuweisen.

Das Gerät selbst wirkt robust, ist dabei aber noch verhältnismäßig leicht. Es ist wohlproportioniert und es fühlt sich weder unnötig groß noch gestaucht an. Mit seiner symmetrischen und klaren Optik finde ich es sehr ansprechend gestaltet. Und auch wenn klar ist, dass hier Wert auf eine attraktive Formgebung gelegt wurde, hat man im Folgenden doch zu jeder Zeit den Eindruck, dass die Benutzerfreundlichkeit beim Design im Vordergrund stand. Das schließt sich hier also keinesfalls aus (ich schaue da vorsichtig in Richtung Meris).

(Bild: Dieter Stork)

Packt man den Eventide das erste Mal aus, ist man vermutlich überrascht über die vielen Klinkenbuchsen auf der Rückseite: vier Inputs, vier Outputs und zwei Anschlüsse für Expression-Pedale beziehungsweise Controller sind schon sehr üppig und lassen eine ganze Menge Routings zu. Des Weiteren findet sich der Anschluss fürs Netzteil, eine USB-C-Buchse für Firmware-Updates und die Verbindung zur Control-Software sowie eine LED-Anzeige für die Line-Level auf der Rückseite. Letztere wäre auf der Front vermutlich hilfreicher gewesen, aber wahnsinnig oft wird man sie wohl nicht bemühen. Seitlich finden sich noch MIDI-In- und Out/Thru-Buchsen in voller Größe, es werden also keine Adapter benötigt.

Eine MIDI-Anbindung ist natürlich auch vorgesehen.
Eine MIDI-Anbindung ist natürlich auch vorgesehen. (Bild: Dieter Stork)

Nach den knapp zehn Jahren, die es das H9 nun gibt, hat Eventide dem großen Bruder nun ein deutlich hochauflösenderes Display spendiert, was Einstellungen direkt am Gerät merklich vereinfacht. Generell ist jedes Bedienelement auf der Front auch drückbar: nicht nur die drei Fußschalter, welche zur Aktivierung beziehungsweise dem Durchschalten von Presets und Effekten dienen können, sondern auch die großen Potis für Select und Perform sowie die kleineren Potis unterhalb des Displays, welche die jeweils angezeigte Funktion übernehmen. Die kleinen Buttons für Programs, Routing, Presets und Parameters sind natürlich auch drückbar – aber wer hätte gedacht, dass sich selbst das, was man zunächst nur für LEDs über den Fußschaltern hält, als Bedienelement herausstellt? Somit lässt sich sehr viel komfortabel direkt am Gerät einstellen.

Mit H90 Control gibt es eine Software für PC und Mac, welche das einfachere Einstellen der Effekte sowie das Updaten der Firmware ermöglicht.

Übersichtlich gestaltet und voller Einstellmöglichkeiten ist man mit der Editor-Software des H90 im Land der unbegrenzten (Tweak-)Möglichkeiten.

BEDIENUNG

Man kann wirklich eine ganze Menge einstellen, daher sei hier nur das Wichtigste erwähnt. Bei näherem Interesse gibt es einen über sichtlichen Quickstart-Guide und eine längere Anleitung auf der Eventide-Homepage, gedruckt beigelegt ist leider nichts. Drückt man das Select-Poti, landet man im Bank-Modus und kann entweder am Poti drehen oder auf die Fußschalter A und B drücken, um durch Presets zu navigieren. Hat man ein Preset gefunden, das gefällt und möchte mehr Kontrolle, drückt man auf Perform und die Fußschalter übernehmen nun zuvor eingestellte Funktionen. Im einfachsten Fall schalten sie jeweils einen der beiden Algorithmen ein und aus.

Möchte man Parameter der Effekte verändern, so geht das jederzeit durch die Potis unterhalb des Displays. Hier sind die wichtigsten, wie Mix, direkt zu sehen. Drückt man auf den Parameters-Button, erhält man Zugriff auf weitere Parameter, durch die man durchscrollen oder sie eben direkt ändern kann. Möchte man die Effekte nicht seriell nutzen, sondern parallel, drückt man auf Routing und dreht am ersten Poti. Alles total simpel und intuitiv für ein Gerät mit so vielen Optionen.

Und die ganzen Anschlüsse? Damit ist echt viel möglich. Klar, Gitarre rein, Gitarre raus ist das Einfachste. Aber sie könnte auch mono rein und stereo raus. Oder vielleicht noch zwei Effektgeräte in den Loop hängen? Ein Stereo-Effektgerät? Und wer sagt eigentlich, dass das Signal nur an einen Amp gehen sollte? Bei H9-Nutzern sah man auch oft, dass sie eines vor dem Amp und eines im Effektloop hatten. Das geht nun mit einem einzelnen H90 auch. Um festzulegen, wo Insert 1 und 2 liegen sollen, dreht man wiederum einfach nur an den Potis. Easy.

WAS IST NEU?

Wer mit dem H9 vertraut ist, wird sich sicher fragen, ob sich ein H90 lohnt. Das ist natürlich nur individuell zu beantworten, aber generell gibt es schon einige Kriterien, die den H90 attraktiv(er) erscheinen lassen. Er beinhaltet von Haus aus alle Algorithmen des H9 Max und legt noch zehn komplett neue obendrauf. Viele davon gehen interessanterweise eher in die Vintage-Richtung. So findet sich mit dem Weed-Wacker ein „Overdrive, welches an ein berühmtes grünes Pedal erinnert“, mit dem Even-Vibe eine Uni-Vibe-Simulation, ein Tape-Delay, ein BBD-Delay, Phaser, Flanger und ein SP2016-Reverb.

Da bleiben für modernere Sounds noch drei übrig: Polyphony kann dank neuer „Spectral Instantaneous Frequency Tracking“-Technologie nun auch mit Akkorden umgehen und diese mit Chorus, Crystals oder Freeze-Effekten anreichern. Prism Shift verwandelt Akkorde in Arpeggios über bis zu drei Oktaven und Wormhole ist ein monströses Reverb mit Modulation und Warp. Durch die angesprochene SIFT-Technologie wird der H90 nun also auch mit ganzen Akkorden fertig – das ist ein riesiger Pluspunkt. Dass eine neue Chip-Generation zum Einsatz kommt, lässt vermuten, dass es bald noch etliche neue Algorithmen und gegebenenfalls auch Verbesserungen für die bestehenden geben wird.

SOUND

Jeder, der mal ein Eventide-Gerät gespielt hat, weiß, was nun folgt: Die Marke steht einfach für höchste (Sound-)Qualität. Dabei klingt es in der heutigen Zeit fast ein bisschen antiquiert, dass man „nur“ zwei Effekte gleichzeitig nutzen kann. Diese zwei Effekte sind aber in der Eventide-Welt oftmals eben viel mehr. Wie gut im neuen Wormhole-Algorithmus verdeutlicht, steckt dann in einem Effekt zeitgleich ein Reverb, Modulation und Pitch-Shifting. Und all diese Bestandteile sind von höchster Güte.

Wenn man zum Kennenlernen des Gerätes erstmal nur ein bisschen durch die Presets stöbert, merkt man sofort, wie cool echtes Spillover sein kann. Viele Geräte können einen Effekt so lange ausklingen lassen, wie man im gleichen Preset bleibt (weil der Algorithmus in dieser Zeit ja noch berechnet werden kann). Beim H90 klingt ein Hall auf Wunsch auch noch weiter, wenn man längst zum Pitch-Shifter gewechselt hat. Dies kann man bis hin zu 30 Sekunden einstellen, der Standard sind 10. Dafür war ich ganz dankbar, als ich bei meinem Test das Decay eines Halls auf 100 Sekunden gestellt hatte und mich fragte, wie ich den jetzt wieder weg bekomme.

Natürlich kann man seine Anschaffung im vierstelligen Bereich schlicht dazu verwenden, zwei virtuelle Tube Screamer in Reihe zu schalten. Generell möchte Eventide aber die komplexen Sounds bedienen, die, von denen man selbst kaum weiß, wie sie funktionieren und was da genau passiert. Eben jene, bei denen man hellhörig wird und sich fragt: Was ist das denn jetzt? Eine Assoziation, die ich beim Testen häufiger hatte, war: „Damit könnte man super Filmmusik machen“. Hier klingt einfach fast alles larger than life. Und passend dazu gibt es beispielsweise das „Cinematrick“-Preset. Schauen wir dort hinter die Kulissen, nutzt allein der Arpeggiate-Effekt ein Fuzz, Pitch und Arp-Delay. Dazu kommt noch ein ausgeklügeltes Shimmer auf der anderen Seite. Das klingt mächtig.

Und auch die neuen, polyphonen Pitch-Effekte gefallen mir sehr gut. Hier ist es cool, dass man den Fußschalter nicht nur als On/Off nutzen kann, sondern auch als Momentary-Switch. Der Effekt besteht also so lange, wie man den Taster gedrückt hält, wie wenn man auf ein Whammy steigt. Auch dabei arbeitet der H90 gut mit ganzen Akkorden. Als Test habe ich mal probiert, alles an „Effekt“ rauszunehmen und den H90 nur als Drop-Tuner zu verwenden. Das Eventide überzeugt hierbei mit erstaunlich geringer Latenz. Was das Feeling angeht, war es keinerlei Problem für mich, der Sound wird dann allerdings doch merklich verändert. Im Songkontext funktioniert es immer noch gut, für sich allein erhalten cleane Gitarren ein etwas matteres Soundbild. Bei verzerrten Sounds wirkt es fast schon so, als würde etwas mehr Growl hinzugefügt, was gar nicht schlecht klingen muss.

So oder so möchte der H90 lieber komplexe Sounds liefern, bei denen das Pitch-Shifting dazu genutzt wird, zusätzliche Intervalle hinzuzufügen. Die künstliche 12-String hat mir zum Beispiel wirklich gut gefallen. Auch der neue Prism-Shift-Effekt weiß auf ganzer Linie zu überzeugen. Und wem die Werkseinstellungen hier nicht gefallen, dem stehen 15 Einstellmöglichkeiten zur Verfügung, um den Klang nach eigenem Gusto zu verbiegen, zum Beispiel in Feinheiten wie Gain Low, Gain Mid und Gain High.

Eines meiner persönlichen Highlights ist das Even-Vibe in seiner „Air Bubbles“-Einstellung. Wow, das klingt echt super. Und einmal mehr denke ich mir: Man sollte den Eventide H90 wirklich in ein Stereo-Setup einbinden, sonst verschenkt man die Hälfte der Magie.

ALTERNATIVEN

Für € 1200 gibt es eine ganze Menge Pedale auf dem Markt. Die Frage ist also: Was erwartet man von einem (Multi-)Effektpedal? Wer gerne Sounds bastelt und experimentierfreudig ist, könnte sich das Empress Zoia (€ 550) anschauen; das Line 6 HX Effects bietet für € 580 bis zu neun gleichzeitig nutzbare Effekte, die Möglichkeit Impulsantworten zu laden und die Scribble-Strips. Als Allzweckwaffe haben sich das Line 6 HX Stomp für € 600 und das Boss GT-1000CORE für € 700 bewährt, erlauben sie doch zusätzlich noch Amp-Simulationen. Und für € 1130 bekommt man schon das große Boss GT-1000, für € 1250 das Line 6 Helix LT und für € 1450 ein Fractal Audio FM3. Aber das Eventide liefert nun mal eben die Eventide-Effekte. Diese kann man auf den anderen Geräten teilweise nachbauen, hier hat man sie direkt spielbereit.

(Bild: Dieter Stork)

RESÜMEE

Man kann es nicht anders sagen: Der H90 Harmonizer ist kein Schnäppchen. Dafür erhält man eine ganze Menge sehr komplexer Effekte, die wahnsinnig gut klingen. Wer auf der Suche nach „Brot und Butter“-Effekten ist, der wird zwar auch glücklich, verpasst aber möglicherweise eine Menge des Potentials. Das Eventide richtet sich eher an Sound-Connaisseure, die genau wissen, was sie möchten, oder die es lieben, sich inspirieren zu lassen. Selbige überzeugt es daraufhin mit gewaltigen Klangwelten und umfangreichen Möglichkeiten, was die Verkabelung und Steuerung angeht. Und ganz ehrlich: Der H90 Hamonizer macht einfach wahnsinnig viel Spaß und es ist großartig, ihn direkt am Gerät bedienen oder für tiefere Bearbeitungen ganz bequem in die App wechseln zu können.

PLUS

● Sounds
● Bedienung
● Editor-Software
● Wow-Faktor

MINUS

● Registrierung notwendig

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Der H90 Harmonizer am Bass

Es mag wenig überraschen, aber auch der Einsatz am Bass oder anderen tieftönigen Klangerzeugern, wie Synth, Keyboard, meiner Stimme nach einer langen Nacht, ist natürlich kein Problem.

Eigentlich wollte ich mich in diesem Abschnitt ausschließlich dem Sound widmen, da mein Kollege Florian die technischen Aspekte schon behandelt hat. Nicht unerwähnt bleiben sollte allerdings, dass für die Nutzung des Editors am Rechner eine Registrierung der Hardware per Eintrag der Seriennummer in den persönlichen Eventide-Account notwendig ist. Anderenfalls lässt sich die Software nicht einmal herunterladen und auch nach Installation ohne Anmeldung nicht nutzen. Ich muss gestehen, ich bin kein Freund dieser Praxis. Macht es doch das Verleihen, Testen oder auch die Nutzung an fremden Rechnern unnötig aufwendig.

Einmal angemeldet, funktioniert das Editieren allerdings auch ohne aktive Internetverbindung. Wie dem auch sei. Ist diese „Hürde“ überwunden, eröffnen sich mit einer Leichtigkeit komplexe, klangliche Sphären, dass es fast zu einfach scheint. Out of the box sind etwa die Hälfte der Werks-Presets bereits ohne nennenswerte Anpassung am Bass sinnvoll nutzbar. Über die Qualität der Modulationen und Reverbs muss man wohl keine großen Worte verlieren. Beim funky Envelope-Filter-Chorus-Fuzz ein wenig die Intensität eingestellt, am Blackhole-Reverb (einer meiner Dauerfavoriten) die Modulationstiefe angepasst oder beim Pitch-Delay die Tonart.

So gut wie jeder Patch macht sofort Spaß und lädt zum Experimentieren ein. Wenige Geräte bieten out of the box ein derartiges kreatives Potential. Steilvorlagen für Songs und Riffs kommen beim Durchschalten wie von selbst. Aber auch die Verzerrungen können sich hören lassen. Hierbei sind nicht nur massive Synth-Fuzz-Eskapaden à la Muse oder Royal Blood mit von der Partie, sondern auch ganz dezent angezerrte „Brot und Butter“- Sounds meistert der H90 mühelos.

Sorgen um Fundament- oder Druckverlust müssen sich dank der Routing-Möglichkeiten nicht gemacht werden. Nicht nur lassen sich die beiden Algorithmen sowohl seriell als auch parallel betreiben, es kann auch der Wet/ Dry-Anteil pro Algorithmus individuell bestimmt werden, zusätzlich zum globalen Mischungsverhältnis. So liefern auch sonst dünne Fuzzes oder starke Modulationen noch richtig Druck.

Apropos Druck: Der H90 bringt auch Synth- und Octaver-Sounds mit, die es in sich haben. Insbesondere Letztere kleben regelrecht an den Fingern und machen mit einer Bandbreite von ‚Sledgehammer‘ bis Skrillex unheimlich viel Spaß. So deckt das Gerät die Basics ab, liefert aber gleichzeitig experimentelles Potential für genau diese eine Stelle im Song, ohne dass dafür ein komplettes Effektpedal den restlichen Gig ungenutzt auf dem Board versauern muss.

Eventide hat mit seinen aus verschiedenen Effekten gemischten Algorithmen ein gesundes Mittelmaß an Komplexität und Bedienbarkeit gefunden. Klar lassen sich viele der Sounds auch mit einem Axe-Fx oder Helix nachbauen, jedoch mit einem ungleich höheren Aufwand. Und dank der Vorauswahl an Kombinationen lassen sich Klänge entdecken, die man sonst wohl nie in Erwägung gezogen hätte. Ob Muse-Coverband, Ein-Personen-Experimental-Shoegaze-Ambient-Noise-Projekt, Festzelt-Band oder dezenter Einsatz im Studio – genau wie bereits der Vorgänger bietet der H90 auch am Bass höchste Qualität für jede Stilrichtung.

(erschienen in Gitarre & Bass 01/2023)

Kommentare zu diesem Artikel

  1. Danke für den Test!
    Ein (zumindest für mich) wesentliches Kriterium wird in den Berichten leider fast nie erwähnt:
    Wie ist die Umschaltzeit zwischen zwei Presets? Aus User-Reviews habe ich entnehmen können, dass das beim H9 wohl nicht so toll war.

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