Andrew White dürfte bislang sicherlich durch seine unkonventionell designten Akustik-Gitarren aufgefallen sein. Dass er jedoch auch mit Strom kann, beweist seine erste EGitarre, eine Semihollowbody-Thinline im ES-335-Stil. Vorhang auf für die Andrew White AH 880 TS!
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Schon auf den ersten Blick wird die gleichermaßen aufwendige wie penible Verarbeitung des koreanischen Herstellers deutlich: Mehrlagige Einfassungen an Kopfplatte, Korpusdecke und -boden, eingefasstes Griffbrett sowie F-Löcher mit einlagigen Bindings. Decke und Boden zieren bookmatched halbierte Riegelahornfurniere, die vom spiegelglatt polierten Tobacco Sunburst Finish in Szene gesetzt werden.
Nicht ganz klassisch
Die dreifach gesperrten Hölzer von Decke und Boden sind einen guten halben Millimeter dünner als beim ES-Original. Der durch den Body verlaufende Centerblock ist ca. 100 mm breit, trägt nicht nur die Pickups, den Steg und das lizensierte Bigsby-Vibrato, sondern minimiert Rückkopplungen und fördert gleichzeitig das Sustain. Inzwischen hat sich diese Konstruktion über sechs Jahrzehnte bewährt.
Beim Hals weicht Andrew White jedoch völlig vom Vorbild ab. So kommt bei der AH 880 ein aus Ahornstreifen und zwei Walnuss-Layern fünffach gesperrter Hals mit einem Griffbrett aus Sonokeling (indonesisches Palisander) zum Einsatz.
22 perfekt abgerichtete und polierte Medium-Jumbo-Bünde verteilen sich über das Spielfeld, auf welchem Block-Inlays aus Perloid und Abalone sowie Sidedots die Orientierung erleichtern.
Während die Kerbenausrichtung des Tusq-Sattels keine Wünsche offen lässt, hat man es mit der Abrichtung nicht ganz so genau genommen. So sind einerseits die Diskantsaiten unterschiedlich hoch, andererseits ließe sich das Gesamtniveau noch um ein paar Zehntelmillimeter optimieren.
Das schlanke Kopfplatten-Design gibt die recht enge Positionierung der präzise arbeitenden Grover Tuner vor, sodass einige der Saiten hinter dem Sattel doch recht stark abbiegen müssen. So gesehen erweist sich das selbstschmierende Tusq-Sattelmaterial ohnehin als vorteilhaft.
Über einen Nashville-style Tune-o-matic-Steg mit erweiterten Justierwegen erreichen die Saiten das auf die Decke geschraubte Bigsby B50 Vibrato, auch als Horseshoe-Bigsby bekannt. Die Wandlung der Saitenschwingungen übernehmen zwei koreanische Vintage Giovanni (by Artec) GVH1-CR Humbucker, die mittels Dreiweg-Toggle sowie zweier Volume- und zweier Tone-Regler verwaltet werden.
Bandbreite
Auch unter Berücksichtigung des „kleinen“ Bigsbys zurrt die AH 880 mit ihren 4,03 kg recht ordentlich am Gurt, den übrigens große Knöpfe sicher halten. In jedem Fall aber präsentiert sich das Thinline-Modell bestens ausbalanciert. Das Halsprofil ist eher kräftiger Natur, liegt aber dennoch komfortabel in meiner Hand.
Der Halsfuß gestattet in Kooperation mit den großzügig angelegten Cutaways barrierefreies Spiel in den höchsten Griffbrettregionen. Die leichtgängigen Potis lassen sich mit den Speed-Knöpfen geschmeidig handhaben, auch wenn man die oberen umlaufenden Kanten der Knöpfe recht scharf belassen hat. Hier könnte man aber mit einer Feile Abhilfe schaffen.
Die Andrew White AH 880 gibt sich überaus schwingfreudig, resoniert sie doch nach jedem Saitenanschlag intensiv und am Körper deutlich spürbar. Zudem bringt die Konstruktion beachtliches Sustain zutage, das langsam und kontinuierlich abklingt.
Ebenso punktet sie mit achtbarer, die Tonbildung fördernde Dynamik. Rein akustisch dringt ein kraftvoll voluminöses, breites, ausgewogenes und lebendiges Klangbild mit reichem Obertongehalt ans Ohr.
Im direkten Vergleich mit frühen Patentnummer-Humbuckern meiner ES-335 liefert der Vintage-Giovanni-Steg-Pickup deutlich mehr Output. Mit fetten Bässen, druckvollen Mitten und klaren Höhen ist er klanglich auch ganz nah dran, zeigt jedoch speziell in den unteren und mittleren Frequenzen gewisse Defizite bei der Saitentrennung, die zu Lasten von Transparenz und Offenheit gehen.
Rund, warm und bluesig setzt sich der Hals-Pickup in Szene. Er gibt sich ausdrucksstark, dank klarer Höhen und spritziger Obertöne überraschend transparent und löst im Gegensatz zu seinem Nachbarn Akkorde deutlich besser auf. Seine Stärken sind cleanes und low-gain crunchy Riff oder Rhythmusspiel, Jazz-Chords und bluesige Soli.
Am zerrenden Amp oder mit Hilfe eines guten Overdrive-Pedals kann die AH 880 auch erstaunlich gut rocken.
Hätte ich nicht erwartet. Diesbezüglich tun sich beide Pickups nichts.
Metallern würde ich diese Gitarre zwar nicht ans Herz legen, aber bei allem was sich zwischen Jazz und Hardrock bewegt, sehe ich null Probleme – im Gegenteil. In jedem Fall aber kommt der Gitarre bei all diesen Stilrichtungen ihr Sustain und ihre feine Dynamik zugute, dank derer sich allein mit dem Anschlag zahlreiche Klangfacetten realisieren lassen.
(Bild: Dieter Stork)
Resümee
Andrew Whites E-Gitarren-Premiere, die Semihollowbody-Thinline AH 880, präsentiert sich als vorbildlich verarbeitetes und komfortabel zu spielendes ES-335-Pendant. Mit ordentlichen Humbuckern ausgestattet, bedient sie, unterstützt von reichlich Schwingfreude und Dynamik, ein breites Feld unterschiedlichster Musikgenres.
Das Bigsby-Vibrato arbeitet nahezu verstimmungsfrei, entsprechend gefühlvolle Behandlung vorausgesetzt. Ein wenig schwer tue ich mich allerdings mit dem Preis, obgleich ein hochwertiger Formkoffer darin enthalten ist. Gut, hier haben wir es mit koreanischer Fertigung zu tun. Sicherlich könnten es die Chinesen preisgünstiger, besser jedoch keinesfalls.