
SOUND UND PRAXIS
In der ersten Runde des Tests wird der X88-IR per XLR an mein Studio-Interface angeschlossen. Folglich kann der Preamp in Verbindung mit dem digitalen Backend zeigen, was in ihm steckt. Los geht es im Clean-Kanal. Im „Normal”-Mode erhält man kristallklare Clean-Sounds, wie man sie vom X88R schon kannte. Die typischen LA-Studiosounds aus den Achtzigern ertönen aus dem Monitor. Perlend, klar und definiert. Das klingt klasse mit Strat oder Tele.
Neu hingegen ist der „Altered”-Modus: Hier wird dem Sound mehr „Schmutz” und Körper hinzugefügt. Bei höherem Gain (Preamp-Regler) erstrahlen herrliche Break-up-Sounds, die auch mit einer Les Paul oder anderen Humbucker-Gitarren wunderbar schmatzig und authentisch klingen. In beiden Soundmodi ist deutlich eine amerikanische Klangfärbung à la Fender zu hören, die aber im Gegensatz zum originalen X88R nicht nur auf das ultracleane Segment ausgerichtet ist, sondern das Spektrum von super clean bis zu leichtem Crunch abdeckt.
Hierfür stellte sich die Impulse Response der Soldano-1×12″-Open-Cab als mein Favorit heraus. Wahrlich beeindruckend, was da aus den Monitoren kommt. Auch der Crunch-Modus wurde überarbeitet. Dieser wurde im X88R einst etwas stiefmütterlich vernachlässigt. Ganz anders heute: Erstens reicht das Gain-Spektrum nun von leichtem SLO-Crunch bis hin zu High-Gain.
Bei höheren Einstellungen des Preamp-Reglers ist die Überschneidung mit dem Overdrive-Kanal fließend. Zweitens ist der Crunch nun wesentlich tighter konzipiert und präsentiert sich in einem angenehm definierten Bassbereich. Da matscht nichts. Mit aktiviertem Bright- und Fat-Schalter sowie moderat eingestelltem Preamp-Poti kann man sich im Crunch-Modus ganz ausgezeichnet beispielsweise in die Sound-Territorien eines Warren Haynes vorwagen. Dabei fühlt sich der X88-IR schlichtweg großartig an.
Nimmt man Fat wieder heraus und dreht Preamp auf, bei etwas angehobenem Bass, Middle und mit Treble ein wenig über zwölf Uhr, so erhält man ein saftiges Rhythmus-Brett für Riffs mit bester Soldano-Sound-Signatur. Zudem reagiert der X88-IR sensibel auf die Arbeit mit dem Volume-Poti an der Gitarre. Das macht einen Heidenspaß. Die verschiedenen Impulse Responses der 4×12″-Varianten klingen hier allesamt vorzüglich.
Übrigens: Die IR der Soldano-1×12″-Closed-Back stellt sich als Alternative zu den wuchtigen 4×12″-Klängen in diesem tonalen Kontext als sehr positiv und feinzeichnend dar. Ab geht es in den Overdrive-Modus. Für seinen Lead-Sound bekam der X88R mit der Zeit den Legenden-Stempel (wie der große Bruder SLO-100 auch). Im Overdrive-Modus des neuen X88-IR steckt nun auch genau dieser Sound.
Allerdings gibt es einen Unterschied: Der X88-IR kann auf Wunsch noch mehr Gain, wortwörtlich geht es jetzt wirklich bis „11″… Für meinen Geschmack reicht es schon mit dem Preamp-Regler vor der Mittelstellung. Die cremigen, druckvollen und obertonreichen Sounds fliegen einem aus den Monitoren nur so entgegen. Ja, das ist „der” Sound, den man mit Soldano assoziiert. In Kombination mit z.B. der Impulse Response der Soldano 4×12″ mit V30-Lautsprechern klingt es, als würde ein SLO-100 im Nebenraum per Mikrofon abgenommen.
Mit Bright, Fat und der effektiven Dreibandklangregelung lassen sich vielfältigste Nuancen einstellen – von den markanten Lead-Sounds aus den goldenen Jahren der Rack-Ära, über klassische Hair-Metal-Bretter bis hin zu ganz harten Gangarten. Spätestens jetzt kommen die zusätzlichen Möglichkeiten des Editors zum Tragen. Insbesondere Depth und Presence erlauben im Direktbetrieb über die XLR-Ausgänge zusätzliche Gestaltungsmöglichkeiten.
Freunde von tief gestimmten Gitarren können hier richtig Schub hinzufügen und auch eine gehörige Präsenz im oberen Frequenzspektrum betonen. Low- und Tiefpass-Filter bieten effektive Möglichkeiten zur Feinabstimmung, was sich bei den verschiedenen Impulse Responses auch anbietet. Da Gain-Reserven en masse vorhanden sind, fällt es dem X88-IR auch leicht, Palm-Mutes und härteste Riffs mit Definition und Wucht aus den Monitoren zu transportieren. Gleichwohl gilt: Es ist und bleibt ein Soldano.
Der typische Signature-Sound bleibt erhalten und transportiert stets die so typischen Mitten, die den Soldano-Sound so legendär gemacht haben. Als Zwischenfazit lässt sich zusammenfassen: Der X88-IR bietet absolut authentische Sounds, selbst bei der Direct-Anwendung. Die Möglichkeiten, sich Sounds nach seinem Geschmack so zu individualisieren, dass man sofort aufnehmen kann oder bühnenfertig ist, sind immens und hocheffektiv.
Die Variabilität des Editors, diese Sounds in Bezug auf Presence, Depth, Hi- und Lo-Pass Filter sowie die Auswahl der Impulse Response auf 128 Speicherplätzen arrangieren zu können, macht den X88-IR zu einem flexiblen und einfach zu bedienenden Soundwerkzeug. Zudem klingt der X88-IR im Direktbetrieb wie ein großer, mächtiger Amp. Absolut überzeugend.
Auf in Runde zwei: Der X88-IR ist ja in aller erster Linie ein Vollröhren-Preamp. Geht man aus den Main-Outputs heraus, wird das Signal vor dem digitalen Backend abgegriffen. „Rack is back” formuliert es Soldano ganz selbstbewusst. Ob es hier tatsächlich einen Trend zurück zu kühlschrankhohen Rack-Monstern geben wird, mag ich bezweifeln. Aber der X88-IR kann beispielsweise in den Return eines Effektweges eines anderen Amps eingespeist werden.
Oder man nutzt eine externe Röhrenendstufe. In Kombination mit einem Multieffektgerät oder auch Pedals wie Hall, Delay oder Chorus/Flanger usw. erhält man ein immer noch kompaktes Setup. Da der Pegel des Effektweges im X88-IR schaltbar ist, lässt sich hier jede etwaige Effektperipherie perfekt einfügen. Um den X88-IR auf dem traditionellen, analogen Weg zu hören, schließe ich ihn an eine Röhrenendstufe und schicke ihn über verschiedene 4×12″-Boxen.
Und auch hier liefert er ab: Die oben bereits beschriebene Finesse im Sound flattert aus meiner Box. Das ist zu keiner Zeit ein Kompromiss, sondern druckvoller und wundervoller Soldano-Sound in allen Nuancen. Dynamisch, auf das Spiel reagierend und eben der Ton, den die Soldano-Aficionados erwarten dürfen. Insgesamt fühlt sich der X88-IR vielleicht etwas moderner an, insbesondere bezogen auf den Bassbereich wirkt er im Vergleich zum originalen X88R etwas straffer und tighter.
Das ist offenbar auch ganz im Sinne des Herstellers, denn Soldano hat seinen Vorverstärker im Vergleich zu 1988 unter anderem in diesen Punkten weiterentwickelt. In einem Live-Setup kann der Amp mit all diesen Möglichkeiten also sowohl mit einer Endstufe und Box auf der Bühne und gleichzeitig parallel über die XLR-Ausgänge direkt ins FOH gefüttert werden. Für beide Anwendungsbereiche erfüllt der X88-IR die Erwartungen voll und ganz.
RESÜMEE
36 Jahre ist es her, da begründete Mike Soldano mit dem X88R die Ära der Rack-Preamps. Nun ist der in vielerlei Hinsicht überarbeitete Nachfolger zu haben. Der Soldano X88-IR ist nicht nur ein außerordentlich flexibler und wohlklingender Dreikanal-Röhrenvorverstärker, sondern ein voll ausgestattetes Kraftpaket, das sich als High-End-Lösung insbesondere für Direktanwendungen präsentiert.
Für direkte Aufnahmen oder die Belieferung des FOH liefert der X88-IR lupenreine Soldano-Signature-Sounds allerhöchster Güte. Die klanglichen Überarbeitungen betreffen vor allem den erweiterten Clean-Kanal und den Crunch-Modus, die allesamt gewonnen haben. Das Spektrum ist breiter und lässt keine Wünsche offen. Die umfangreiche Ausstattung macht den X88-IR zu einem hochprofessionellen Frontend für Gitarrenaufnahmen.
Die Verarbeitung ist top und es macht einfach enormen Spaß, als Gitarrist mit dem X88-IR zu interagieren. Das Spielgefühl erzeugt einen gewissen Suchtfaktor. Bei einem Straßenpreis von rund 2800 Euro ist das allerdings kein billiges Vergnügen. Das Preis-Leistungs-Verhältnis zu beurteilen fällt da nicht leicht. Ja, das Teil ist teuer. Aber gleichzeitig wird man neben den vielen Anwendungslösungen, die der X88-IR bietet, auf der emotionalen Seite mit dem Spielgefühl und absolut erstklassigem Ton belohnt – wenn man den typischen Soldano-Sound mag.
Plus
● Erstklassige Soundqualität
● Umfangreiche Ausstattung
● Bedienbarkeit
Minus
● Power-Schalter auf der Rückseite

(erschienen in Gitarre & Bass 02/2025)