Wer hätte künstlich gealterten Gitarren, Bässen und Verstärkern jemals einen derartigen Erfolg prophezeit? Bezeichnungen wie reliced, aged, distressed, worn, used usw. gehören inzwischen zum gebräuchlichen Vokabular von Gitarren-Freaks und -händlern. Das geht so weit, dass die Relic-Modelle bestimmter Custom Shop Masterbuilder wie z. B. Vince Cunetto oder auch des 2006 verstorbenen John English heute schon Sammlerpreise erzielen.
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Bei alldem geht es ausschließlich darum, neuen Gitarren oder Bässen das Flair von jahrzehntelanger wenig pfleglicher Behandlung, Bühnenschweiß und extremen Witterungsschwankungen zu verleihen. Angebote in Kleinanzeigen oder Internet-Auktionen wie: „Biete Fender Custom Shop Strat, Heavy Reliced, Neuzustand da kaum gespielt.“ entbehren nicht einer gewissen Absurdität.
Den Stein ins Rollen brachte kein Geringerer als Keith Richards, als er Mitte der 90er für eine Stones-Tour bei Fender diverse Vintage Reissues orderte. Da diese ihm jedoch zu neu und steril erschienen, regte er an, sie per „Sonderbehandlung“ künstlich altern zu lassen. Dass sich daraus eine regelrechte Wissenschaft entwickeln würde hat er natürlich nicht ahnen können. Inzwischen sind zahlreiche Hersteller und Gitarrenbauer auf den Relicing- oder Aging-Zug aufgesprungen, und so kann man heute aus einem Authentizitäts-Spektrum von perfekt bis peinlich wählen.
In der Regel stammen die renommierten Instrumente aus Custom Shops und reißen somit ein beträchtliches Loch ins Portmonee, spielen allerdings auch, zumindest bei Fender, qualitativ und klanglich in der obersten Liga. Kurz und gut, mit seiner neuen Road-Worn-Reihe bietet der US-Hersteller künstlich gealterte, laut Fender-Custom-Shop-Klassifizierung „Heavy Reliced“ Strats, Teles, Precision- und Jazz-Bässe zum bezahlbaren Preis an. Gefertigt werden sie in Ensenada/Mexiko.
Konstruktion
Die 50s-Modelle vertreten im Grunde die 1957er Bauweise und kommen daher mit Erle-Bodys. Das ist historisch ebenso korrekt wie das wunderbar geshapte V-Profil der verschraubten einteiligen Ahornhälse. Korinthenkacker oder Erbsenzähler würden allerdings die verchromte Hardware beanstanden, denn eigentlich müsste es vernickelte sein. Damit kann ich jedoch durchaus leben, zumal sie relativ natürlich „distressed“ wurde und man Schrauben sowie Bridges authentisch wirkende Flugrostpatina spendiert hat. Die 60s Strats (konkreter: 62er Reissues) tragen auf ihren C-geshapten Ahornhälsen Palisandergriffbretter, wegen ihrer planen Unterseite auch Slapboards genannt. Alle Road-Worn-Gitarren sind mit rund abgerichteten, sorgfältig polierten 6105-Bünden bestückt, die sich komfortabler bespielen lassen als die originalen schlanken Spaghetti-Frets. Das hauchdünne Nitro-Finish sorgt nicht nur für eine authentischere Optik, sondern bietet vor allem klangliche Vorteile. Die damit eingesparten Fertigungskosten investiert Fender quasi in die Nachbehandlung. Nimmt man diese genauer unter die Lupe, fällt auf, dass sich die zugefügten Lackabnutzungen, Macken und Dellen, im Fachjargon mit Chips, Dings und Dongs bezeichnet, von Instrument zu Instrument nur wenig unterscheiden. Ingesamt hat man die Hälse intensiver gealtert als die Bodies, deren Rückseiten sogar frei von Gürtelschnallenspuren sind. So stehen noch Flächen für die eigene Kreativität zur Verfügung. Gelungen ist auch das Aging der Schalter- und Reglerknöpfe, Hebelspitze, Pickup-Kappen und Pickguards. Well done! Die klar lackierten Maple-Spielfelder aller 50s Strats (und Teles!) wurden meines Erachtens jedoch sehr übertrieben bearbeitet, nämlich beinahe flächendeckend. Umso erstaunlicher ist es, dass jeweils die Bünde 9, 10, 11 und 12 völlig unangetastet blieben, also quasi niemals bespielt wurden. Ebenso leicht übertrieben hat man es auf den Halsrücken, wo sich die abgespielte Oberfläche hart vom übrigen Lack abgrenzt. Lassen wir jedoch die Kirche im Dorf: Bei den Road Worns handelt es sich natürlich um Massenprodukte, anders ließen sich deren Preise auch nicht erklären. Die teuren Custom Shop Relics, speziell die der Masterbuilt-Reihe, sind indes echte Unikate, bei denen in der Regel selbst intensivste Nachbehandlung (Heavy Relicing) natürlich und authentisch wirkt.
Um den Road-Worn-Strats sowohl Vintage- als auch rockigere Klänge zu entlocken, entschied Fender sich für die bewährten TexMex-Singlecoils, die erstmals auf der mexikanischen Jimmie-Vaughan-Strat zum Einsatz kamen. Verwandt mit den Custom Shop Texas Specials liefern sie etwas kraftvollere Vintage-Sounds. Der mittlere Pickup wurde entgegengesetzt gewickelt und besitzt umgekehrte Polarität, sodass der in den Schalterzwischenstellungen vorliegende Humbucker-Effekt Einstreugeräusche minimiert.
Praxis
Hinsichtlich ihrer Verarbeitung rangieren die Gitarren auf hohem Niveau: Vorbildliche Bundbearbeitung, perfekt aus- und abgerichtete Sättel, tadellos funktionierende Klusontype-Mechaniken und werksseitig schwebend justierte Vintage-Vibratos. Solide Bedienelemente (US-Schalter und CTS-Potis) unterstreichen den höchst positiven Gesamteindruck. Die Road-Worn-Strats vermitteln auf Anhieb ein vertrautes, ja schon beinahe intimes Spielgefühl, ganz so, als würde man sie schon seit Jahrzehnten intensiv einsetzen. Sowohl die V- wie auch die C-Profile liegen komfortabel in der Hand, die satinierte Oberfläche bietet warmen, holzigen Grip – einfach klasse. Die Hölzer schwingen sehr intensiv und liefern schon unverstärkt kraftvolle, ausgewogene, brillante und transparente Klangbilder. Vor allem aber halten die dynamische Ansprache, die flinke, spritzige Tonentfaltung und das überdurchschnittliche Sustain Wohlfühl- und Spaßfaktor hoch. Diesbezüglich unterscheiden sich die jeweiligen 50s- und 60s-Probandinnen nur um Nuancen, was von konstant guter Holzqualität zeugt. Während die Rosewood-Modelle wärmer und etwas fetter klingen, tönen die Maple Necks brillanter, knackiger und einen Hauch spritziger. Überrascht haben mich die unterschiedlichen Gewichte der Testgitarren, insbesondere die beiden Sunburst-Modelle sind extrem rückenfreundlich.
Wenig Neues bieten die Road-Worn-Schwestern am Verstärker, erfüllen also voll und ganz meine Erwartungen. Klasse Vintage-Strat-Sounds mit etwas mehr Dampf und exzellenter Dynamik, die ausdrucksstarkes, flüssiges Spiel und Tonbildung fördert. Neben dem Saitenanschlag lassen sich die Klänge mithilfe der gleichmäßig agierenden Potis präzise und feinfühlig kontrollieren. Nicht ganz so heiß wie die Texas-Special-Pickups klingen die TexMex irgendwie kultivierter, gepflegter, insgesamt ausgewogen und transparent, zeigen seidige Brillanz und reichen Obertongehalt. Druckvoll und mit rundem bluesigen Ton präsentiert sich der Hals-, drahtig und glockig zugleich der Mittel-, punchy, knackig und bissig der Steg-Pickup.
Die nahezu brummfreien Zwischenpositionen der PUs liefern sehr schöne, leicht näselnde In-between-Sounds, die sogar am übersteuernden Amp Charakter und gutes Durchsetzungsvermögen zeigen.
Resümee
Ich wage mich nicht allzu weit aufs Eis, wenn ich prognostiziere, dass die Road-Worn-Reihe Fender einen ähnlichen Erfolg bescheren wird wie die edlen Custom Shop Relic Modelle. Unsere vier Test-Strats lassen sich wunderbar bespielen und vermitteln bereits auf der Ladentheke das Flair von 47 – 52 Jahren schweißtreibender Bühnenarbeit. Dank ihrer etwas leistungsstärkeren TexMex-Pickups liefern sie exzellente Vintage-Sounds und decken damit das breite Klangspektrum unzähliger Strat-Heroen ab. Neben der sorgfältigen Verarbeitung machen die dünne Nitro-Lackierung und das Heavy Relicing der Holz- bzw. Metall- und Plastikkomponenten einen wirklich authentischen Eindruck, wenngleich das mexikanische Schleifteam stellenweise offenbar etwas übermotiviert an der Arbeit war, speziell im Hinblick auf die Maple-Griffbretter. Sicherlich wird der Vintage-Purist hier und da noch Ungereimtheiten entdecken, Unterschiede zu den USA Relics sind jedoch durchaus beabsichtigt. Schließlich möchte man die Arbeitsplätze der Masterbuilder nicht gefährden. Bringen wir es auf den Punkt: Die Road-Worn-Strats präsentieren sich als erstklassige Gitarren mit authentischem Vintage-Flair und -Sound zu überaus fairen Preisen. Zum Lieferumfang zählt ein Deluxe-Gigbag, auf ein Pflege-Set hat Fender wohlweislich verzichtet …