In Amerika füllt das Trans-Siberian Orchestra mit ihrer hörenswerten Mischung aus Rock-Show und Orchesterproduktion die größten Hallen. Seit 2009 erobert das Trans-Siberian Orchestra zunehmend auch Europa. Lange Zeit war die Formation hierzulande ausschließlich Metal-Fans bekannt…
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Der Grund für diese partielle Popularität des Trans-Siberian Orchestra: Die komplette Rock-Abteilung der Formation besteht aus Musikern von Savatage, einer der größten Progressive-Metal-Bands der Neunziger. Außerdem handelt es sich beim kreativen Kopf von TSO um den US-Song-Schreiber Paul O‘Neil, ebenso kompositorischer Mastermind von Savatage bis zu deren letztem Album ,Poets And Madmen‘ im Jahre 2001. Eine interessante Kombination also, klassische Musiker mit amerikanischen Rock-Größen vereint auf die Bühne zu stellen und zwischen Rock, Metal und Mozart ein neues Genre zu installieren.
Beim allerersten TSO-Konzert in Hamburg im März 2011 trafen wir uns zum Soundcheck mit den Gitarristen Al Pitrelli und Chris Caffery sowie Bassist Johnny Lee Middleton, also quasi dreifünftel der letzten Savatage-Besetzung, um uns von ihnen das TSO-Konzept und die Unterschiede zu Savatage genau erklären zu lassen.
Ihr drei wart Mitglieder von Savatage und seid jetzt das Herzstück von TSO. Was unterscheidet beide Bands und was ist gleich?
Chris: Na ja, der offensichtlichste Unterschied ist, dass Savatage eine progressive Heavy-Metal-Band war. Das Material wies überwiegend einen einheitlichen Stil auf, Elemente, die man allerdings auch auf der härteren Seite des Trans-Siberian Orchestras vorfindet. Dazu kommen bei TSO allerdings Tonnen an Klassik, softer Passagen und auch akustische Parts, insofern finde ich als Musiker hier eine größere Bandbreite vor.
Und ist es für euch schwieriger, bei TSO zu spielen als seinerzeit bei Savatage?
Chris: Ich denke, dass ich mir bei Savatage nicht so viele Gedanken über Details gemacht habe. Bei TSO ist dies anders, denn diese Band spielt auf der Bühne sehr tight, so dass nicht eine einzige Note länger gehalten werden darf als vorgesehen, während wir bei Savatage nicht einmal In-Ear-Monitoring hatten. Wir spielten vor bis zu 80.000 Zuschauern, dadurch war das Adrenalin natürlich höher als in unserer jetzigen Situation. Aber wie gesagt: Entscheidend ist, dass wir weit mehr auf Details achten.
Und wenn man dies mal nicht macht, dann merkt man es sofort. Siehst du das genauso, Al?
Al: Ich finde, dass ich bei TSO viel besser angezogen bin (lacht). Ich denke, Chris hat es bereits auf den Punkt gebracht: Wenn man in einer fünfköpfigen Progressive-Rock- ‘n‘-Roll-Band wie Savatage spielt, macht es auf der Bühne einen Höllenspaß. Du spielst in Stadien, auf Festivals und in riesigen Hallen, du trägst Jeans und verschwitze T-Shirts und machst einfach guten Rock ‘n‘ Roll.
Jetzt stehen wir mit einigen der besten Streicher und der besten Sänger der Welt auf der Bühne, alle sind schick angezogen und spielen Beethoven, Tschaikowsky, Chopin und Mozart, der Anspruch ist also ein ganz anderer. Du gehst nicht einfach raus auf die Bühne und sagst: Hier habt ihr‘s!
Die meisten auf der Bühne tragen In-Ears, was die Live-Show quasi unters Mikroskop bringt. Alles was gespielt wird hat man genauso auf dem Monitoring als wenn man eine CD mit Kopfhörer anhört. Wenn man mit 14, 15, 16 Leuten auf der Bühne spielt, muss man auf jedes kleine musikalische Detail achten. Wenn wir also proben, dann starten und enden wir jedes Stück immer auf die gleiche Weise. Es gibt viel mehr Details in der Musik und die muss dann eben auch beachten.
Johnny: Der Unterschied zwischen Savatage und TSO ist, dass es bei TSO weit mehr auf diese Details ankommt. Aufgrund der In-Ear-Monitore hörst du wirklich alles. Du kannst dir deinen eigenen Mix erstellen und genauso klingen, wie du es möchtest. Wenn man alles hört, merkt man sofort, wenn jemand danebenliegt.
Bei Savatage wurde einfach nur alles laut gedreht und los ging‘s. Dazu eignet sich diese Musik ja auch, während bei TSO viel mehr Finessen zu finden sind. Jede Note zählt, jeder Fehler zählt, jedes Crescendo zählt, alles ist wichtig. Dazu kommt, dass wir keinen Alkohol trinken – ein elementarer Unterschied. Ich will ehrlich zu dir sein: Früher haben wir nichts ausgelassen, aber bei TSO ist dies komplett anders.
Du bist immer komplett im Bilde, denn wenn du dich verspielst und einer aus dem Timing kommt, sind alle daneben. Du musst immer genau im Bilde sein, sonst fischst du schnell im Trüben.
Chris: Was man bei TSO wirklich lernen kann, ist, wie man eine verlässliche Konstanz in sein Spiel bekommt, egal ob es sich um eine winzige Note oder um den schnellsten Lauf handelt. Auf der Bühne spielen so viele unterschiedliche Musiker, und dennoch sind wir eine Einheit, so wie es ein Orchester auch sein muss. Du lernst, dass es in einer Rock-Band zwar cool sein kann, spontan eigene Ideen umzusetzen, dies in einem Orchester aber völlig fehl am Platz ist.
In einem Orchester hat jeder seinen ganz speziellen Part, den es zu erfüllen gilt. Wenn du diesen Part nicht erfüllst, merken es die anderen sofort. Man lernt als Ensemble zu denken und zu spielen. Natürlich muss man auch seine Technik verbessern, um diese Parts spielen zu können. Man übt viel, damit man die klassischen Passagen wirklich drauf hat. Für mich persönlich gilt, dass ich weit mehr auf Details achte und mich als wichtigen Bestandteil des Orchesters fühle.
Und heißt das: Jeder Fehler wird nach einem Konzert sofort analysiert? Gibt es regelmäßige Manöverkritik?
Al: Nur, wenn es musikalisch richtig durchhängt. Wenn mal jemand eine Note verpasst, sein Plektrum fallen lässt oder einen Drumstick verliert, macht keiner daraus einen Elefanten. Wir alle sind Menschen, und diesen menschlichen Faktor sollte man immer in der Musik bewahren. Wenn ich etwas grundlegend Verkehrtes höre, und zwar gleich zwei, drei Shows nacheinander, dann muss man natürlich darüber sprechen … Ich möchte Hamburg, Berlin, Düsseldorf oder wo immer wir waren mit dem Gefühl verlassen, dass unser Publikum denkt: Dies war ein außergewöhnliches Konzert, denn ich konnte fühlen, was die Band ausdrücken wollte. Ich möchte etwas Großartiges abliefern, nicht etwas Perfektes. Ein riesengroßer Unterschied!
Inwieweit beeinflusst das musikalische Konzept von TSO euer Equipment? Habt ihr es seit Savatage-Tagen grundlegend verändert?
Al: Nein, im Grunde genommen hat sich kaum etwas geändert. Der Unterschied ist, dass es bei TSO kein Equipment auf der Bühne gibt, alles ist backstage oder unter der Bühne verstaut. Und was sich auch verändert hat ist die Wahl der Boxen: Wir setzen bei TSO Isolation-Cabinets ein, so dass wir gängige Lautsprecher einsetzen können, ohne dass man irgendetwas hört. Ansonsten gibt es keine reguläre Backline, sondern elektronische Drums, Keyboards, Samples.
Paul O‘ Neil ist ein cleverer Typ, er umgibt sich mit den Besten der Welt und deshalb ist er auch ein so vorbildlicher Chef. Er hat uns engagiert, weil er uns für die beste Rock‘n‘Roll-Band der Welt hält. Paul hat TSO um uns herum, um diese perfekt funktionierende Rhythmusgruppe gebaut. Er mischt Orchester mit Rock-Band, also gibt es das normale Instrumentarium: Marshalls, Flying Vs. Vielleicht sind nicht ganz so viele SVTs wie normal auf der Bühne.
Chris: Ich verwende einen digitalen Preamp, was für mich eine prima Lösung ist, weil dadurch der Sound jeden Abend exakt gleich ist. Ich habe nach 25 Jahren in diesem Business ziemlich viel von meinem Gehör eingebüßt, und insofern ist es gut für mich, nicht jeden Abend neu mikrophonieren zu müssen, sondern mich darauf verlassen zu können, dass es bei jeder Show absolut gleich klingt. Und selbst, wenn ich das Gefühl habe, dass es mal anders klingt, weiß ich, dass mein Toningenieur das nicht denkt. Eine wirklich angenehme Situation. Deswegen gefallen mir die elektrischen Drums auch so gut, denn wir müssen uns niemals Sorgen wegen des Sounds machen. Auf der Bühne klingt es jeden Abend exakt gleich.
Eure Instrumente haben ganz unterschiedliche Stimmungen, richtig?
Johnny: Ja, das stimmt. Einige Bässe sind einen Halbton tiefer gestimmt, einer hat ein Drop-D-Tuning, einer hat Normal-Tuning. Mein Equipment hat sich im Laufe der Jahre sehr verändert, denn der Bass-Sound von Savatage und TSO ist sehr unterschiedlich.
Ich spiele mittlerweile einen Fender Jazz Bass, der zu dieser Musik wirklich sehr gut passt, für Savatage vermutlich aber nicht geeignet gewesen wäre, weil er klanglich ganz anders ausgerichtet ist. Bei Savatage musste ich immer gegen die Bass-Drum ankämpfen, also brauchte man einen PunchBass mit EMG-Tonabnehmern.
Bei TSO muss ich mit der Bass-Drum aber überhaupt nicht kämpfen, außerdem gibt es hier zwei Keyboarder, deswegen brauche ich keinen Fünfsaiter. Bei Savatage spielte ich mit Plektrum, um all die schnellen Läufe zu realisieren, aber ich hasse Plektren, sie sind eigentlich nur für Gitarristen gedacht, die Bass spielen wollen. Ein echter Bassist spielt mit den Fingern, und bei TSO brauche ich keine Plektren.
TSO ist einfach eine andere Welt, man spielt viele Sachen, die Spaß machen, und viele, die wirklich schwierig umzusetzen sind, denn Beethoven kannte keine Bassisten, insofern übernehme ich die Cello-Parts. Das macht die Sache gleichzeitig aber auch sehr interessant. Dadurch, dass ich Noten lesen kann, ist es zum Glück einfach für mich, denn ich muss nicht lange herumprobieren, sondern schlage einfach die Partitur auf und spiele den Cello-Part. Ich habe zum Glück an der Highschool Notenlesen gelernt, das macht sich jetzt bezahlt.
Al, du bist musiktheoretisch sogar umfassend bewandert, nicht wahr?
Al: Ich habe ja schon mit zwei Jahren angefangen Gitarre zu spielen. Meine Mutter sah, dass ich Spaß daran hatte und unterrichtete mich. Das war in den frühen Sechzigern, sie kaufte mir Bücher und brachte mir Notenlesen bei. In der Schule stellte ich bereits kleine Orchester zusammen, mit Trompete, Posaune und Klarinette. So bekam ich im Laufe der Jahre immer mehr Erfahrung und kann heute Noten genauso gut lesen wie Sprache.
Ist denn alles, was Paul O‘Neil umgesetzt haben möchte, in Noten verfasst?
Al: Bei den klassischen Passagen, wenn wir zum Beispiel Mozarts 25. Symphonie spielen, stützen wir uns komplett auf die Vorlage. Wenn wir im Studio arbeiten, schaue ich mir die Noten durch und entscheide, welche Stimmen wir verwenden sollten. Insofern habe ich gelernt, Sachen zu filtern und auf unser Konzept zu übertragen.
https://www.youtube.com/watch?v=kWck-kFtNXI
Manche Passagen singt mir Paul O‘Neil aber einfach auch vor, denn wie gesagt: TSO besteht sowohl aus ausgebildeten Musikern als auch aus Straßenmusikern, und beide Seiten sind für den Sound gleich wichtig. Wenn Leute behaupten, dass man als Musiker unbedingt Noten lesen können muss, sage ich: „Ja, das stimmt, aber man braucht ebenso gute Ohren.“
Musik wird über die Ohren wahrgenommen, also muss man auch ein gutes Gehör besitzen. Insofern ist es immer gut, wenn man unterschiedliche Herangehensweisen hat, um Musik zu interpretieren.
Zumal euer Publikum sicherlich auch ziemlich heterogen ist, oder?
Chris: Wir sind jetzt ja zum ersten Mal mit TSO in Europa und das Publikum ist ähnlich wie damals, als wir zum ersten Mal in Amerika auf Tournee gingen, also mehr ein reguläres Rock-Publikum, dazu lediglich ein paar jüngere Leute und ein paar wenige Zuhörer oberhalb von Sechzig. Überwiegend sind es hier Savatage-Fans. In Amerika hat sich dies im Laufe der Jahre aber signifikant geändert, heute kommen Menschen von 8 bis 80 zu unseren Shows. Das war ja auch das Ziel von Paul O‘Neil, er möchte die ganze Bandbreite abdecken.
Das ist der Grund, weshalb er die Band Trans-Siberian Orchestra genannt hat, denn die Trans-Siberian-Railroad ist die längste Eisenbahnlinie der Welt und durchquert die unterschiedlichsten Kulturen. Genau dies schwebte Paul O‘Neil auch musikalisch vor. Deshalb ändert sich unser Publikum nach und nach: Savatage-Fans bringen ihre Familien mit, die Familien bringen ihre Kinder mit, anschließend schleppen sie auch ihre Eltern und Großeltern mit zu TSO, und irgendwann sind statt zweien plötzlich 16 Familienmitglieder im Publikum.
In Europa sind wir halt noch in der ersten Phase, in der nur die beiden Savatage-Fans da sind. Aber ich bin mir sicher, dass sie beim nächten Mal ihre Kinder, ihre Freunde und ihre Eltern mitbringen. In Amerika ist es faszinierend, Menschen mit Schlips und Kragen und Abendgarderobe neben Metal-Heads mit Back-Sabbath-T-Shirt sitzen zu sehen. Es ist Familienunterhaltung, sie verbindet Menschen unterschiedlicher Altersgruppen und Interessen. Ich bin sehr stolz dabei zu sein.
Der Name Savatage ist jetzt so häufig gefallen, aber gibt es angesichts des riesigen Erfolges von TSO überhaupt noch eine Zukunft für die Band?
Johnny: Es ist unser größter Wunsch, ein weiteres TSO-Album zu produzieren. Aber damit ist Savatage nicht automatisch vorbei. Mal schauen, was die Zeit mit sich bringt.
Al: Als damals die Band Asia entstand, hat ja auch zunächst keiner mehr über ELP, King Crimson oder Yes gesprochen. Asia war ein neues Ding und darauf wurde alles fokussiert … Ich liebe es mit diesen Jungs in der gleichen Band zu spielen und ich bin ebenso sehr stolz auf unsere Vergangenheit. Heute zählt nur TSO, aber wer weiß, was wir in ein, zwei Jahren sagen?
Wenn man mich heute fragen würde, ob ich noch mal ein Savatage-Album machen möchte, heißt meine Antwort allerdings: „Unbedingt! Lieber heute als morgen!“ Aber bis es soweit ist, gibt es noch eine Menge toller Jobs für TSO zu erledigen.
Chris: Das hat Al gesagt … (lacht)
Danke für das nette Interview, und alles Gute mit TSO!
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