"Ich stehe noch immer auf die Musik, die ich als Teenager kennen und lieben gelernt habe."
Interview: Steve „Lips“ Kudlow von Anvil
von Matthias Mineur,
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Mitleid ist so ziemlich das Letzte, was Anvil verdient hätten, auch wenn ihr tragischberührender Dokumentarfilm ,The Story Of Anvil‘ (2010) eindrucksvoll belegt, dass die Gründungsmitglieder Steve „Lips“ Kudlow (Gitarre) und Robb Reiner (Schlagzeug) häufiger am Boden liegen als sich im Glanz ihres Ruhms zu sonnen. Trotz aller Unwägbarkeiten leben die Kanadier weiterhin den Traum eines kompromisslosen Heavy Metal, der auch auf dem neuesten Album ,Pounding The Pavement‘ frisch und lebendig wie seit ehedem klingt. Wir haben die Band im Studio im norddeutschen Örtchen Rhauderfehn besucht, um ihr während der Aufnahmen über die Schulter zu schauen und gleichzeitig mit Gitarrist Lips einige grundsätzlichen Aspekte seines Musikerlebens zu erörtern.
Lips, natürlich möchte man sich als Musiker künstlerisch nicht wiederholen. Aber wie gelingt einem das, wenn man bereits seit 40 Jahren im Geschäft ist? Konkret: Mit welchem Ziel bist du an euer neues Album herangegangen?
Es gab kein konkretes Ziel, denn wir arbeiten permanent an neuen Songs und halten einfach die Ideen fest, die aus uns herauskommen. Das Songwriting für ,Pounding The Pavement‘ begann also unmittelbar, nachdem unser letztes Album ,Anvil Is Anvil‘ fertiggestellt war. Insofern kreisen unsere Gedanken sowieso immer um die Zukunft, wodurch wir vermeiden, dass wir uns selbst kopieren. Wenn ein Album im Kasten ist, weiß jeder genau, was er gerade abgeliefert hat und kommt gar nicht erst in die Versuchung, irgendetwas davon zu wiederholen. Dadurch findet permanent Fortschritt statt. Natürlich gibt es auch Einflüsse durch frühere Scheiben, aber immer nur unter dem Aspekt einer Aktualisierung des eigenen Stils. Die Fans fragen ständig, weshalb wir nicht mehr so spielen wie in den sogenannten „guten alten Tagen“. Ich selbst frage mich das ja mitunter auch. Aber ich versuche, immer nur das prickelnde Gefühl früherer Alben aufzugreifen, nicht aber die konkrete Idee an sich. Wenn ich dieses Gefühl in ein neues Riff packe und es Robb vorstelle, entwickelt er dazu einen alternativen Groove. Somit handelt es sich dann um die neue Idee zweier Komponisten, die bereits seit ewigen Zeiten zusammenarbeiten und einen bestimmten Stil etabliert haben.
Haben sich dein Stil, dein Ansatz und dein Geschmack über die Jahre nicht sowieso verändert?
Nur marginal. Ich stehe noch immer auf die Musik, die ich als Teenager kennen und lieben gelernt habe. Ich bin in den 70ern aufgewachsen und habe diese musikalische Ära förmlich aufgesogen. Die Ausläufer dessen, was in der Zeit passierte, gehen ja sogar bis in die späten 60er zurück. Alles begann mit der Entdeckung der verzerrten Gitarre. Die Beatles waren die Ersten, die sich dieses Mittels bedienten, aber erst Jimi Hendrix machte Distortion und Feedbacks zu seinem grundsätzlichen Konzept. Damit änderte sich alles. Ohne diese Entwicklung wären Black Sabbath, Led Zeppelin und Deep Purple nicht denkbar gewesen. Ich nenne diese drei Bands die „Main Three“, analog zu den „Big Four“ im Heavy Metal. (Lips spricht von Metallica, Slayer, Anthrax und Megadeth, Anm. d. Verf.) Natürlich darf man Cream als Vorläufer nicht vergessen. Sie alle zusammen kreierten etwas, das ich Riff-Rock nenne und woraus sich der Heavy Metal entwickelte. Interessanterweise sind die Typen, die dies erfunden haben, dafür nicht berühmt geworden: Das Riff zu ,Satisfaction‘ wurde 1965 durch ein Distortion-Pedal gespielt und war im Grunde genommen der erste Heavy-Metal-Song der Geschichte, ohne dass Keith Richards als Erfinder des Heavy Metals gilt.
Du ziehst also eine klare Grenze zwischen Rock, Hardrock und Heavy Metal?