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Neurosis: Times Of Grace

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Die Post-Hardcore-Institution aus Oakland/ USA ist dank ihres neuen Opus ,Fires Within Fires‘ wieder in aller Munde. Ich habe mir daher ihr legendäres ,Times Of Grace‘-Album von 1999 noch mal vorgeknöpft.

(Bild: Neurot, Cargo)

Dass ich im Folgenden mit Superlativen nur so um mich schießen werde, liegt ganz einfach daran, dass wir hier über Neurosis reden. Kaum eine andere Band dürfte die Grenzen des Hardcore dermaßen gesprengt und das Genre so nachhaltig geprägt haben. Seit über 30 Jahren lärmen sich die Herren aus Kalifornien nun schon durch die Plattenregale ihrer Hörerschaft, ohne dabei auch nur eine einzig fragwürdige Aufnahme abzuliefern. ,Times Of Grace‘ aus dem Jahr 1999 markiert dabei in vielerlei Hinsicht einen Wendepunkt. Nicht nur war es das erste Album, welches komplett unter der Schirmherrschaft von Produzenten-Legende Steve Albini (Nirvana, Shellac, PJ Harvey, High of Fire) entstand, es war auch der Beginn einer musikalischen Neuausrichtung die bis heute andauert.

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Times of Grace

Um die Besonderheit von ,Times Of Grace‘ zu verstehen ist es sicherlich sinnvoll, einen Blick auf das Vorgänger-Album ,Through Silver And Blood‘ zu werfen. Hier war es vor allem die kühle und stellenweise vom Industrial-Sound der späten 80er-Jahre geprägte Härte, die das gesamte Album dominierte. Die Songs waren oft weniger dynamisch und durch den Gesang über weite Strecken noch von der Hardcore-Vergangenheit der Band geprägt. Auf ,Times Of Grace‘ sollte sich all das ändern. Die Aufnahmen fanden erstmalig in Steve Albinis Electrical Audio Studio statt – was Neurosis bis heute beibehalten hat – wobei Albini damals wie heute größten Wert auf eine vollkommen analoge Arbeitsweise legt und es laut eigener Aussage als seine primäre Aufgabe versteht, den Sound der Band so einzufangen, wie sie in dem gigantischen Aufnahmeraum des Studios klingt. Aufwendige Post-Produktion oder ausgedehnte Editing- Prozesse haben da natürlich nichts zu suchen.

(Bild: Neurot, Cargo)

Das Ergebnis dieser Einstellung ist auf ,Times Of Grace‘ überdeutlich zu hören. Die klirrende Kälte des Vorgängers wurde durch eine unheimlich authentisch und natürlich klingende Produktion ersetzt, die einem das Gefühl gibt, mit der Band in einem Raum zu stehen. Jedes Instrument hat seinen Platz im Mix und klingt trotzdem unglaublich plastisch und greifbar.

Aber nicht nur die Produktion hatte sich verändert; auch das Songwriting wurde komplett über den Haufen geworfen. Wo vorher wütende, monolithische Kompositionen vorherrschten, machte sich die Band eine ganz neue Dynamik für die Song-Strukturen zunutze. Schon der Opener ,Suspended In Light‘ macht deutlich, woher der Wind hier weht. Mit verträumten und fast schon orientalisch anmutenden Klängen wird eine Reise in ein neues Sound-Universum eingeläutet. Das darauf folgende ,The Doorway‘ leitet dann den Start mit einem unfassbar deftigen Gitarren- Riff ein und die Band gibt erst mal so richtig Gas. Doch schon nach wenigen Minuten wird die Sound- Wand durchlässig und Noah Landis Synthesizer bekommen Luft zum atmen. Was der Mann da aus den Tasten haut ist der Wahnsinn: unglaublich dezent, niemals im Vordergrund und doch so unersetzbar wichtig für den gewaltigen Gesamt-Sound.

(Bild: Neurot, Cargo)

Doch bevor die Band ins Schlingern zu geraten droht, wird die Bremse gezogen und die Gitarristen Steve Von Till und Scott Kelly zaubern ein weiteres Riff der Kategorie Abrissbirne aus dem Hut, welches den Song förmlich zerreißt. Das folgende ,Under The Surface‘ zeigt dann, das Neurosis viel mehr als nur Vollgas zu bieten haben – der fragil-schöne Mittelteil veranschaulicht gut, wie die Band die neue Dynamik einzusetzen weiß. Auch das Malstrom-artige ,The Last You’ll Know‘ sowie das an Pink Floyd erinnernde ,Belief‘ zeigen, dass die Wahl des Studios und des Produzenten besser hätte nicht ausfallen können: Die unglaubliche Akustik des Aufnahmeraums des Electrical Audio Studios kommt hier wirklich zu voller Geltung.

Als wäre all das aber nicht genug der Veränderung, erschien zum Release parallel zu ,Times Of Grace‘ eine weitere CD – welche die Band übrigens unter dem Namen Tribes Of Neurot veröffentlichte – die auf den schlichten Titel ,Grace‘ hörte. Die Idee war es, ein Begleit-Album zu bieten, welches parallel zum eigentlichen Haupt-Album gehört werden kann. Musikalisch stehen hier absolut cineastische Geräuschwelten im Vordergrund, die aber speziell auf die Songs von ,Times Of Grace’ abgestimmt sind und sozusagen als eine Art Untermalung dienen sollten (2010 wurden beide Alben zusammen als Doppel-CD wiederveröffentlicht; d. Red.). Die Band empfahl in den Liner Notes zum ,Grace‘-Album ausdrücklich, beide Alben gleichzeitig über zwei unabhängige Stereo- Anlagen zu hören, was natürlich mehr als ambitioniert ist. Aber auch ohne die Ergänzung durch ,Grace‘ bleibt ,Times Of Grace‘ bis heute eines der wichtigsten und einflussreichsten Neurosis- Alben und hat auch 18 Jahre nach seinem Erscheinen nichts an Faszination eingebüßt.


Aus Gitarre & Bass 05/2017

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