Andrew Stockdale hat unverkennbar das Rock- Star-Gen. Der 40-jährige Australier sieht aus wie der Bruder von Lenny Kravitz, hat eine kräftige Prise Ozzy Osbourne meets Robert Plant in seiner Kehle und schreibt grandiose Songs, die bei den Fans offenkundig direkt in Bauch und Beine gehen. Gleich die erste Veröffentlichung seiner Band Wolfmother sorgte für sensationelle Verkaufszahlen, 2006 bekam die Gruppe für den Song ,Woman‘ sogar einen Grammy Award verliehen.
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Zwischenzeitlich musste Andrew Stockdale die Besetzung seiner Band runderneuern, zudem äußerte er vor drei Jahren eine zunehmende Unlust an Wolfmother und stellte eine Solokarriere in Aussicht. Von derlei Überlegungen ist im Frühjahr 2016 nichts mehr zu spüren. Mit ihrer vierten Scheibe ,Victorious‘ sind Wolfmother erfolgreicher denn je, füllen die Hallen und Clubs in aller Welt und haben ihre, sagen wir mal, Midlife-Crisis offenkundig überwunden. Wir trafen uns mit Stockdale im Rahmen eines rappelvollen Wolfmother-Konzerts in Hamburgs Club Große Freiheit 36 und unterhielten uns über Riffs, Reife und die Theorie der 10.000 Stunden.
Andrew, mit welchem Gefühl wirst du in knapp zwei Stunden auf die Bühne gehen? Macht es wieder Spaß?
Andrew Stockdale: Natürlich freue ich mich mittlerweile wieder auf die Konzerte, allerdings sind 90 Minuten Spielzeit nicht allzu viel, um mit inzwischen vier Alben in der Hinterhand alle neuen Songs einzubauen. Immerhin gibt es mit ,Pretty Peggy‘, ,The Love That You Give‘, ,The Simple Life‘, ,Gypsy Caravan‘ und ,Victorious‘ allein fünf Nummern vom neuen Album, die wir unbedingt spielen wollen. Wir füllen momentan die 3000er- bis 4000er-Clubs in den USA und Europa. Es ist ein tolles Gefühl, ein neues Album draußen zu haben, das die Leute lieben.
Das war nicht immer so, du hattest mit Wolfmother durchaus schwierige Zeiten, nicht wahr?
Andrew Stockdale: Ja, das stimmt. Aber ich habe immer an die Theorie der 10.000 Stunden geglaubt.
Kannst du diese Theorie mal erklären?
Andrew Stockdale: Sie lautet: Wenn du 10.000 Stunden deines Lebens in eine Sache investierst, hast du eine solide Basis geschaffen, die nicht so leicht umzustoßen ist. Die Beatles haben 10.000 Stunden ihres Lebens hier in Hamburg verbracht und in dieser Zeit ihre Fähigkeiten als Songschreiber und Musiker perfektioniert. Alle reden heute von den Fab Four, aber bevor sie dazu wurden, hatten sie bereits mit einer etwas anderen Besetzung 10.000 Stunden ihres Lebens investiert. Viele Leute vergessen das. Bei mir war es ähnlich: Ich hatte bereits 10.000 Stunden oder auch vier Jahre in diese Band investiert, bevor es anfing, schwierig zu werden. Wir spielten 350 Shows in vier Jahren und ich musste mich an dieses neue Leben natürlich erst einmal gewöhnen.
Ständig unterwegs, immer in anderen Städten, Hotels, Clubs, kaum zu Hause. Da fragt man sich irgendwann einmal: Will ich dieses verrückte Leben eigentlich wirklich? Sollte ich nicht häufiger zu Hause sein, bei meiner Familie? Sollte ich mir nicht einen regulären Job suchen? Ich musste lernen, mein neues Leben zu akzeptieren und es zu mögen. Ich musste diese Entscheidung erst bewusst für mich treffen. Als dann zwei meiner Band-Mitglieder ausstiegen, war es für mich wie ein Schlag ins Kontor. Heute ist das anders. Wenn jetzt jemand aus der Band nicht mehr touren will, aus welchen Gründen auch immer, weiß ich, dass ich jemand Neues finde, der seinen Platz übernehmen kann und mit mir Wolfmother am Leben hält. Am Anfang war ich mir da nicht so sicher. Ich wusste nicht, ob es das Ende der Band bedeutet und ich wieder ganz von vorne anfangen muss. Heute weiß ich, dass trotz einiger Umbesetzungen die Band immer größer geworden ist.
Klingt nach gesteigertem Selbstbewusstsein.
Andrew Stockdale: (lacht) Ja, ich bin selbstsicherer geworden. Ich weiß, dass es die Songs sind, um die es geht. Wenn du uns abends Stücke wie ,Woman‘ oder, Joker And The Thief ‘ spielen hörst, erlebst du, wie viel Kraft diese Nummern und welche Bedeutung sie für die Fans haben. Für mich ist das der wichtigste Aspekt. Denn wenn ich diese Songs nicht geschrieben hätte, würden wir uns jetzt nicht unterhalten. Wenn sich also Musiker entscheiden, uns auf dieser Reise zu begleiten, sei es für zwei Jahre, vier Jahre, ihr restliches Leben, dann finde ich das großartig. Aber wenn nicht, dann wird mich auch das nicht aufhalten können. Es sei denn, ich will es selbst.
Gab es Zeiten, in denen du ans Aufhören gedacht hast?
Andrew Stockdale: Ja, diese Momente gab es. Aber es waren Zeiten, in denen ich zu viel trank und einige Dinge zu dramatisch sah. Heute habe ich mich besser im Griff und zügle den Alkoholkonsum. Es kommt zwar immer noch vor, dass ich mal die Nacht durchmache, aber nur noch sehr selten. Als unser zweites Album veröffentlicht wurde, hatte ich eine schwierige Phase. Ich war sehr unsicher und soff zu viel. Heute bin ich deutlich ruhiger, weiß, dass es keinen Grund gibt, unruhig zu werden. Alkohol raubt einem Musiker sowieso nur die Spannung, man muss lernen, damit umzugehen und die Energie dazu zu nutzen, eine noch bessere Show abzuliefern und sich zu motivieren.
Stammst du aus einer musikalischen Familie?
Andrew Stockdale: Mein elf Jahre älterer Bruder spielt Posaune, er hat sogar am Musikkonservatorium studiert. Er konnte es kaum glauben, als ich eine Band gründete und anfing, Songs zu schreiben, um die halbe Welt zu reisen und jeden Abend auf der Bühne zu stehen. Ich kam zur Gitarre ja eher wie die Jungfrau zum Kind, hatte nie Unterricht, sondern brachte mir alles selbst bei. Ich war 12 oder 13 und klimperte einfach nur so herum, ohne die Sache allzu ernst zu nehmen. Manchmal gelingt mir das sogar noch heute. (lacht) Ganz im ernst: Wenn man eine Sache zu ernst nimmt, verliert man seine Lockerheit.
Und damit möglicherweise die Grundlage des Erfolges.
Andrew Stockdale: Ja, das könnte durchaus passieren. Ich hatte nie Unterricht, nie einen strengen Lehrer, der etwas von mir forderte. Ich machte immer nur das, wozu ich Lust hatte.
Jugendliche Unschuld als Quelle der Kreativität?
Andrew Stockdale: Exakt, das ist genau das, was ich meine. Wenn man seine Unschuld einbüßt, verliert auch die Musik an Tiefe. Man muss sich seinen Spaß erhalten. Hör dir die berühmtesten Riffs der Musikgeschichte an – drei, maximal vier Akkorde. ,Satisfaction‘ oder ,Brown Sugar‘ von den Stones, ,Smoke On The Water‘ von Deep Purple, ,Paranoid‘ und ,Iron Man‘ von Black Sabbath. Stücke, an die man sich immer erinnert und deren größte Stärke ihre Simplizität ist. Die Leute kommen zu den Konzerten, um Spaß zu haben. Deswegen sollte man als Musiker niemals seine kindliche Unschuld verlieren. Als Berufsmusiker musst du natürlich professionell arbeiten, um mit Plattenfirmen zu kooperieren, auf Tournee zu gehen, im Team zu funktionieren. Aber wenn es um Kreativität geht, sollte man den Spaß an die oberste Stelle setzen. Dann sollte es keine Rolle mehr spielen, wie viel Geld man damit verdient oder wie viele Frauen man ins Bett bekommt, wie viel Alkohol sie dir hinstellen oder wie viele Lines man durch die Nase ziehen kann. Wenn nicht der Spaß an der Musik die Hauptantriebsfeder ist, sollte man etwas anderes machen.
Ist das Gitarrenriff für dich immer der Ausgangspunkt eines jeden Songs?
Andrew Stockdale: Bei ,Woman‘ war das Riff zuerst da, bei ,Apple Tree‘ kam alles gleichzeitig, ich schnappte mir eine Gitarre und fing sofort an zu den Akkorden zu singen. Bei ,Dimension‘, ,Gypsy Caravan‘ und ,Victorious‘ war das Riff zuerst da. Die Texte kommen immer erst anschließend. Bei ,New Moon Rising‘ hatte ich zuerst den Drum-Beat, diese Kickdrum/Hi-Hat-Figur. Manchmal liefern mir ein cooler Groove und das richtige Tempo das perfekte Fundament für einen Song.
Wann sind deine kreativsten Phasen? Morgens? Abends? Wenn du traurig bist oder besonders gut gelaunt?
Andrew Stockdale: Ganz unterschiedlich. Heute Morgen beispielsweise stand ich im Badezimmer und hatte ein Riff im Kopf. Also nahm ich mein iPhone und sang es hinein, um es nicht zu vergessen. Irgendwie komponiert man als Songschreiber unentwegt, egal ob man müde oder munter ist, ob man im Restaurant sitzt oder joggt. Als Songschreiber beschäftigt sich dein Kopf permanent mit Riffs, Akkorden, Melodien. Du sprichst mit jemandem über ein Thema, das dich beschäftigt, und nur wenig später macht dein Kopf aus diesem Gedanken einen Textbaustein. Es ist ein wenig wie bei einem Puzzle, bei dem einem bestimmte Teile fehlen und man einfach nicht aufhören kann, dieses Teilchen zu suchen. Außerdem: Selbst wenn man mies gelaunt ist, kann Songwriting einem dabei helfen, die schlechte Laune zu vergessen.
Mit welchen Idolen bist du aufgewachsen?
Andrew Stockdale: Ich habe vor allem und immer wieder ,Abbey Road‘ gehört. Ich mochte auch ,L.A. Woman‘ von den Doors und ,Highway 51 Blues‘ von Bob Dylan. Als Kind hatten wir zu Hause nicht so viele Schallplatten, weswegen ich den ganzen Tag am Radio hing und ,Triple M‘ hörte, auf dem häufig John Cougar Mellencamp, Bon Jovi oder AC/DC lief, aber auch Hall & Oates, die Eagles, ELO, all diese Classic Rock-Sachen, diese gut gemachten Rock’n‘Roll-Songs.
Deswegen auch die ausgesuchten Vintage- Gitarren, die du bevorzugst?
Da gibt es sicherlich einen Zusammenhang.
Woher hast du beispielsweise die 73er SG Standard, die du immer bei dir trägst?
Andrew Stockdale: Ich habe sie 2004 bei Black Market Music am La Cienega Boulevard in Los Angeles gekauft, weil mir meine bisherige SG auf meiner ersten Tournee beim Flugzeugtransport zerstört worden war. Es war eine wunderbare SG, die ich mir von meiner ersten Vorauszahlung der Plattenfirma zugelegt hatte. Wie du siehst, ist auch meine neue SG schon wieder ziemlich ramponiert. Wie haben sie in Nashville restaurieren lassen, damit sie nicht auseinanderfällt. Es ist zurzeit meine Lieblingsgitarre, mit ihr habe ich in den zurückliegenden zehn Jahren alle wichtigen Festivals gespielt, Rock am Ring, Coachella, Pinkpop, Outside Lands, in all meinen Shows habe ich diese Gitarre gespielt.
Ist sie modifiziert?
Andrew Stockdale: Nein, ich habe sie nicht verändert, alles an ihr ist original. Ich habe das Gefühl, dass sie mit jedem weiteren Jahr noch besser wird. Sie ist perfekt für einen guten cleanen Sound, oder wenn ich einen guten tiefen verzerrten Sound brauche. Aber sie ist auch für crunchy Sounds perfekt. Letztlich könnte ich mit dieser Gitarre den kompletten Abend bestreiten.
Bild: Matthias Mineur
Bild: Matthias Mineur
Was jedoch nicht geht, weil ihr in unterschiedlichen Tunings spielt.
Andrew Stockdale: So ist es. Manche Stücke sind in Drop-D, wie etwa ,Joker And The Thief‘, ,White Unicorn‘, ,Colossal‘, ,The Simple Life‘ und neuerdings auch ,Victorious‘, manche in Open-A. Ich würde gerne alles mit dieser SG spielen, aber es würde zu lange dauern, jedes Mal umzustimmen.
Und kommt die SG auch im Studio zum Einsatz?
Andrew Stockdale: Du kannst es glauben oder nicht: Im Studio spiele ich fast ausschließlich die Gitarren des jeweiligen Produzenten.
Warum das?
Andrew Stockdale: Kann ich dir eigentlich gar nicht beantworten. Im Grunde genommen würde es ja mehr Sinn machen, einen Song auch mit der Gitarre aufzunehmen, mit der man ihn geschrieben hat. Hm, ich sollte es beim nächsten Mal wirklich so machen. (lacht) Soll ich dir erzählen, weshalb ich das bisher nicht gemacht habe?
Bild: Matthias Mineur
Bild: Matthias Mineur
Bild: Matthias Mineur
Bild: Matthias Mineur
Bild: Matthias Mineur
Bild: Matthias Mineur
Ja, bitte!
Andrew Stockdale: Am Anfang dachte ich, es sei besonders cool, 20 und mehr verschiedene Gitarren auf einem Album zu spielen. Ich nahm einige alte Gretsch-Klampfen, Gold Top Les Pauls, diverse ES-335, aber heute interessiert mich mehr der Song an sich als der spezielle Sound einer ganz bestimmten Gitarre. Aber nun gut, auch die Entscheidung mit den vielen Gitarren hat letztendlich zum gewünschten Resultat geführt.
Letzte Frage: Ich habe gesehen, dass du deine Frau und deine Tochter auf dieser Tournee dabei hast. Wie darf man sich den privaten Andrew Stockdale vorstellen?
Andrew Stockdale: Wenn ich Freizeit habe und in meiner Heimat in Australien bin, bittet mich garantiert irgendjemand, ob ich nicht eine Charity-Show spielen könnte. Ich mag dann nicht ablehnen, also reise ich von einer Charity- Show zur nächsten. Ich mache das gerne, weil ich das Gefühl habe, dass ich den Leuten etwas zurückgeben sollte von all dem Glück, das ich bislang hatte. Ich fühle mich wirklich privilegiert, reise um die Welt und führe ein tolles Leben. Ich denke, es ist meine Pflicht, davon etwas zurückzugeben. Ansonsten habe ich vor vier Jahren angefangen zu surfen. Anstatt im Liegestuhl zu faulenzen, ist dies eine sehr gesunde Art, am Strand zu sein. Ich fahre Fahrrad, gehe mit meiner Tochter schwimmen …
… machst Hausaufgaben mit ihr …
Andrew Stockdale: Ja, auch das! Wobei: Das kann ihre Mutter deutlich besser als ich. (lacht) Außerdem gehe ich gerne abends essen, Byron Bay ist ein hervorragender Ort, um Restaurants zu besuchen und einen guten Wein zu trinken.
Danke für das Gespräch, und alles Gute für die Zukunft!