The Absolutely Horrible Celluloid Pickguard Virus!
von Lothar Trampert,
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G.A.S. steht in diesem Monat mal nicht für Gear Acquisition Syndrome sondern für „Größte anzunehmende Sauerei“. Denn was man erleben kann, wenn man seine geliebte, aber jahrelang nicht mehr gespielte alte Ibanez-Semiacoustic, Aria-Archtop, Yamaha L5-Kopie, Hopf Saturn oder Musima-Halbresonanz-Elektrogitarre aus dem verstaubten Koffer befreit, lässt einem eventuell das Blut gefrieren.
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Gemeinsam haben die oben genannten Instrumentengruppen, dass sie über braun gemaserte Tortoise-Style-Pickguards, also Schlagbretter, verfügen, die nicht aus den heute bekannten Kunststoffen oder z.B. aus dem alten Perloid bestehen, sondern aus Celluloid – also dem Material, das man eigentlich lieber im Kino genießt. In Zusammenhang mit dem Instrumentenbau ist es allerdings auch für den ein oder anderen Horrorfilm gut, denn Celluloid hat die unangenehme Eigenschaft, sich über Jahrzehnte zu verändern und sich dann irgendwann zu zersetzen.
Dieses Material ist aber nicht nur unstabil, sondern auch noch aggressiv und brennbar. Mir ist das „Celluloid Virus“ erstmals bei einer Musima-E-Gitarre aus den 70erJahren aufgefallen, die ich via Online-Auktion erbeutet hatte: Die verchromten oder vernickelten Hardware-Teile waren extrem oxidiert und hatten Grünspan angesetzt, die Bünde in der Nähe des HalsPickups waren komplett grün vergammelt, zwei hohe Saiten waren total verrostet und gerissen, der Lack im Bereich des Schlagbretts war angelöst, weich, matschig und nach einem Polierversuch komplett verschandelt – und meine Laune dementsprechend am Tiefpunkt. Was war da passiert?
Als ich mit der Fingerkuppe über das Schlagbrett der angeschlagenen Ostagentin strich, bemerkte ich eine leicht ölige Schicht auf dem Kunststoff. Um es kurz zu machen: Ich reinigte die betroffenen Parts, immer mit dem Gefühl, gleich selbst die Farbe zu wechseln, brachte den Lack soweit es ging wieder in Ordnung, neue Saiten drauf, fertig. Geht doch!
Als ich die Gitarre dann nach ca. vier Wochen aus dem Koffer nahm, traute ich meinen Augen nicht: Die Saiten waren wieder verrostet, das Schlagbrett wieder ölig, der Lack sah an den bereits angegriffenen Stellen jetzt ganz fies aus, und ich glaubte sogar einen merkwürdigen, nussigen Geruch wahrzunehmen … Keine Frage, dass ich der Musima sofort und unbürokratisch die Ausreise gestattete.
Irgendwann war das Trauma dann überwunden und fast vergessen, bis ich meine „geliebte aber jahrelang nicht gespielte alte Ibanez-Semiacoustic“, eine 2630 von 1978, im schönen Antique-Violin-Finish aus dem Koffer ans Tageslicht beförderte. Ich sah ein öliges Schlagbrett mit Rissen, grün oxidierte Hardware und Bünde, rostige Saiten und eine schmierige Schicht auf dem Lack unter dem Pickguard …
Später entdeckte ich dann auch immer wieder bei japanischen Instrumenten der Zeit von ca. 1975 bis ‘83 exakt dieses Phänomen. Die japanischen Lacke hielten dem Celluloid-Angriff allerdings stand, dafür löste sich hin und wieder die innere Kofferverkleidung aus Plüsch auf, oder Pickguards lagen komplett zerbröselt in und um die Gitarre verteilt. Letzteres soll angeblich durch Kälte begünstigt werden, während bei eher warmer Lagerung eines Instruments sich das Celluloid-Pickguard auch mal leicht verbiegt.
Bild: Josef Urbanek, Archiv
Bild: Josef Urbanek, Archiv
Was kann man tun?
Ich glaube beobachtet zu haben, dass Instrumente, die offen rumstehen – Stichwort: Freilandhaltung – von diesem Phänomen weniger stark betroffen sind. Die Ausdünstungen können sich so ja auch frei verteilen, wogegen die Konzentration der Schadstoffe in einem geschlossenen Gitarrenkoffer immer weiter steigt.
Bei ersten Anzeichen oben genannter Symptome hilft nur eine Komplettreinigung des Instruments und des Koffers und dann die offene Aufbewahrung im Gitarrenständer, inklusive Langzeitbeobachtung.
Bild: Josef Urbanek, Archiv
Bild: Josef Urbanek, Archiv
Bild: Josef Urbanek, Archiv
Sollte das Pickguard weiter stark ausdünsten und die Hardware angreifen hilft nur die sofortige Amputation. Nach Reinigung des Instruments wird dann ganz sicher nichts mehr passieren. Das Schlagbrett sollte man in einem luftdicht verschlossenen Glas unterbringen und sich in den folgenden Jahren am Verfall erfreuen.
Auch ganz wichtig, da wir ja nicht genau wissen, wie böse dieser Feind ist: Vor dem Stuhlgang, nach dem Essen, Händewaschen nicht vergessen!
Dann geht es natürlich darum, Ersatz zu beschaffen. Im Ibanez-Shop wird man fündig, wobei man dort anscheinend das Problem kennt: Denn warum sonst liegen die meisten Pickguards preislich zwischen € 13 und € 29, aber ausgerechnet die für die problemanfällige George Benson und die 2630-Nachfolgerin AS-200 kosten € 105 bzw. € 108?! Auf dem riesigen freien Markt gibt es aber immer auch Alternativen, eventuell muss eben etwas angepasst werden. Daher ist es sinnvoll, das originale Schlagbrett vor seinem Ableben zu fotografieren, zu scannen oder 1:1 auf Papier zu skizzieren. So kann später ohne Nachmessen ein perfekt passender Ersatz angefertigt werden.
Bild: Josef Urbanek, Archiv
Bild: Josef Urbanek, Archiv
Bild: Josef Urbanek, Archiv
Bild: Josef Urbanek, Archiv
Bild: Josef Urbanek, Archiv
Bild: Josef Urbanek, Archiv
Für alle, die jetzt den ein oder anderen verstaubten Gitarrenkoffer öffnen und danach am Rande des Nervenzusammenbruchs ihre Mitmenschen und die Tierwelt tyrannisieren, empfehlen wir das Sorgentelefon des Düsseldorfer Kunststoff-Museums-Verein e.V.: 0211 – 4560 413.
Pickguards für AS-200 und 2630 und andere Ibanez Vintage Ersatzteile gibts deutlich günstiger hier – sogar inkl. evtl. anfallendem Zoll:
http://www.reproguitarparts.com/#!/Ibanez/c/1391358/offset=0&sort=normal