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Julia’s Bass Lab: Mentales Üben

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Mentales Üben benötigt keine Muskelkraft – fordernd und effektiv ist es trotzdem! Man übt sozusagen im Geist. Die Wissenschaft beschäftigt sich seit mehreren Jahrzehnten mit dem Konzept des mentalen Trainings. Ziel ist es, seine Leistungen nicht aufgrund der aktiven physischen Ausübung zu verbessern, sondern durch die Vorstellungskraft und das innere Visualisieren.

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Frühe Studien haben sich auf Sportler:innen konzentriert, um herauszufinden, wie mentales Training die Leistung verbessern kann. Der positive Effekt: Trainiert der Sportler oder die Sportlerin die Bewegungen mental, ist die körperliche Belastung geringer und der Gesamt-Output höher. Mentales Training kann aber auch ein hilfreiches Tool sein, um erworbene Fähigkeiten in Ausnahmesituationen abrufen zu können.

Mittlerweile wird diese Trainingsmethode in vielen unterschiedlichen Bereichen angewendet, darunter die Medizin, die Geschäftswelt und natürlich auch die Musik.

WIE FUNKTIONIERT MENTALES ÜBEN?

Der in Hessen praktizierende Psychologe Reiner Kemmler unterscheidet zwischen drei verschiedenen Formen des Mentalen Trainings:

1.) Subvokales Training: mit sich selbst über den Bewegungsablauf sprechen

2.) Verdecktes Wahrnehmungstraining: in der Vorstellung den Bewegungsablauf bei einem anderen beobachten

3.) Ideomotorisches Training: in der Vorstellung selbst ausführen. Ich möchte in dieser Bass-Lab-Folge auf das ideomotorische Training näher eingehen.

Der Pianist Walter Gieseking (1895-1956) beschreibt in seiner Biografie das Erlernen von komplizierten Werken durch reines Lesen des Notentextes in Kombination mit andeutungsweiser Fingerbewegung. Mentales Üben ist also nichts Neues. Er schreibt: „Dieses Lernen durch Lesen ist nicht nur die sicherste Art des Auswendiglernens, sondern auch eine praktische Verwendung der Zeit, die die Eisenbahnfahrten in Anspruch nehmen.“

Um die von Walter Gieseking beschriebene Technik anzuwenden, braucht es eine gut ausgeprägte Klangvorstellung sowie Kenntnisse und Erfahrungen über die notwendigen Bewegungen. Das ist mentales Training auf höchstem Niveau! Für den Anfang empfiehlt es sich, mit Stücken zu beginnen, die man bereits gespielt hat, die aber schon ein wenig in Vergessenheit geraten sind. Es gilt: Step by Step!

Schritt 1: Zuerst kümmere ich mich nur um die Struktur und Analyse. Wie ist das Stück aufgebaut? Werden Teile wiederholt? In welcher Tonart befinden wir uns? Gibt es Modulationen? Welche Spieltechniken kommen vor? Welcher Stil ist es? Welches Tempo?

Schritt 2: Den Rhythmus durchsprechen. Zuerst jeden Abschnitt einzeln und anschließend im Zusammenhang. So wird sofort klar, welche Stellen Probleme bereiten.

Schritt 3: Musikalische Phrasen erkennen. Wo sind die musikalischen Höhepunkte im Stück? Wie wird das Stück energetisch aufgebaut?

Schritt 4: Fingersätze konstruieren. Wir hören zwar noch keine Intervalle, wir wissen aber, wo jeder Ton am Griffbrett liegt und dass es mehrere Möglichkeiten gibt. Ich persönlich stelle mir einen imaginären Bass vor und greife die Töne ganz langsam mit und versuche herauszufinden, welche Stellen Probleme bereiten werden und wie man sie am besten lösen könnte. Wird das Tempo ein Problem sein? Der Lagenwechsel? Die Kondition? Hier greift man auf seine Erfahrungen zurück.

Schritt 5: Den Notentext innerlich hören. Das innere Hören von Intervallen, Melodien und Akkorden erfordert eine exzellent ausgebildete Klangvorstellung. Dafür nehmen wir ein paar Takte und versuchen die Melodie oder zum Bespiel die Basslinie zu singen.

Schritt 6: Die Überprüfung. Du solltest anschließend überprüfen, ob dein inneres Vorhören auch tatsächlich dem Notentext entspricht. Kurze Sequenzen üben und diese wiederholen. Viel Erfahrung, das aktive Spüren und das Beobachten beim Üben mit dem Instrument helfen dabei, die mentalen Fähigkeiten auszubauen. Einem Anfänger wird es schwerer fallen, sich in die Situation hineinzuversetzen. Wie fühlt es sich an? Welche Bewegungen nutze ich und wie koordiniere ich meinen Körper?

WARUM FUNKTIONIERT MENTALES ÜBEN?

Verantwortlich dafür ist der Carpenter-Effekt oder auch ideomotorischer Effekt. Hierbei handelt es sich um das Phänomen, dass alleine die Bewegungsvorstellung eine zentrale Erregung des motorischen Rindenfeldes im Gehirn auslöst. Die bloße Vorstellungskraft aktiviert in den Nervenzellen die entsprechenden Areale. Zusätzlich wurde bei Musikern eine audiomotorische Koaktivierung festgestellt. Beim Hören von Tonfolgen kam es neben der zu erwartenden Aktivierung der Hörrinde zu einer zusätzlichen Aktivierung im sensomotorischen Kortex, obwohl keine Bewegung stattfand. Bei Nicht-Musikern blieb eine sensomotorische Aktivierung aus.

Die richtige Vorstellung einer Bewegung kann den tatsächlichen Ablauf korrekt „programmieren“. Sie ist dem endlosen Wiederholen eines möglicherweise nicht ganz verstandenen und bewussten Ablaufs überlegen.

DIE KLANGVORSTELLUNG

Am schnellsten lerne ich einen Song auswendig, wenn ich ihn zuerst mit geschlossenen Augen anhöre. Ich versuche mir vorzustellen, wie der Bassist oder die Bassistin die Bassline gespielt haben könnte: welche Technik wurde verwendet? Slap, Fingerpicking, Palm Mute, Pick? Welcher Bass wurde verwendet und wie hört sich der Gesamtsound an? Um welchen Musikstil handelt es sich? Wurden Effektpedale verwendet? Ein besonderes Augenmerk wird natürlich auf das Phrasing und die Spielart gelegt. Ich versuche mir vorzustellen, dass ich diese Basslinie gerade selbst spiele. Wie fühlt es sich an und wie könnten die Bewegungsabläufe sein?

Sportler:innen versuchen beim mentalen Training, ihr Zielbild zu visualisieren, und dadurch Fähigkeiten zu aktivieren und weiterzuentwickeln. In der Musik ist es vergleichbar mit einer gewissen Klangvorstellung, die man entwickelt, und der dafür notwendigen technischen Ausführung.

KONZERTE UND AUFNAHMEN

Ich verwende mentales Training auch, um mich für spezielle Situationen, wie zum Beispiel Konzerte, Auditions oder Aufnahmen vorzubereiten. Es geht darum, die Leistung abzurufen, die ich auch im stillen Kämmerchen bringen kann. Dabei nehme ich beim Üben die Position ein, die ich auch beim Konzert haben werde, stehend oder sitzend. Das ist ein großer Unterschied, auch was die Position des Basses am Körper und somit das Spielgefühl angeht.

Ich versuche mir meine Bandkolleg:innen vorzustellen und schon beim Üben immer wieder Blickkontakt herzustellen. Ich visualisiere den Raum, und sollte ich die Venue nicht kennen, schaue ich mir Fotos an, damit ich mich beim Üben mental auf diese Bühne stellen kann. All diese Details haben mir am Anfang geholfen, mit einer Stresssituation besser umzugehen, um mich auf die Musik und den Moment konzentrieren zu können.

FAZIT

Mentales Üben ist natürlich kein Ersatz für das tatsächliche Spielen am Instrument, für mich ist es aber eine nicht mehr wegzudenkende Ergänzung, um effektiver an mein Ziel zu kommen und Wartezeiten zu überbrücken. Durch eine Verletzung bin ich quasi aus der Not heraus zum mentalen Üben gekommen und ich wechsle am Tag mehrmals zwischen dem mentalen und aktiven Üben am Instrument. Damit können auch lästige Entzündungen an den Händen vermieden werden, ohne dass ich wertvolle Übezeit verliere. Also dann, viel Spaß beim Ausprobieren!

(erschienen in Gitarre & Bass 03/2023)

Kommentare zu diesem Artikel

  1. Ein sehr interessanter und guter Artikel, ich glaube unbewusst nutze ich so eine Art ideomotorisches Training. Auch wenn ich erst ganz, ganz, ganz weit am Anfang meiner sicher großartigen Karriere als E-Gitarrist (für die es wahrscheinlich genauso wie für Bassisten und Musiker überhaupt gilt). Ich habe im letzten Jahr, mit 60, beschlossen an meiner billigst Gitarre nicht mehr nur rumzubasteln und sie zu pimpen, ich konzentriere mich mehr auf das ernsthafte Lernen ( der Spaß kommt ja nicht zu kurz dabei). ES funktioniert mir die Noten oder Tabs nur „im Kopf“ zu hören und mir dabei vorzustellen wie ich spiele. Na gut, aufgrund mangelnder Übung klingt es im Kopf zur Zeit noch deutlich besser als in der Realität, aber das wird sich bald ändern, ich bin ja noch jung ?
    Und Julia, ich finde Deine Artikel und Workshops nicht nur für Bassisten sehr gut. Vielen Dank und weiter so.

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  2. Hallo Julia,
    ja, so geht man sinnvollerweise vor.
    Ich hab mich bis zuletzt bei neuen Stücken erstmal durch die Noten gekämpft, ..was schon gehen könnte.
    Die Analyse und der Ablauf kommt aber zuerst und gehen nicht so auf den Rücken/ bzw. Finger.
    Die Automation sollte allerdings am Griffbrett erfolgen. Macht auch mehr Spaß.
    Aber es macht auch wenig Sinn einen Amp. ein Instrument und ein schlechtes Gewissen mit in den Campingurlaub zu nehmen. Wichtiger nur die Noten.
    Ich bin 54 J. , da stößt man auch an körperliche Grenzen.
    Was im Urlaub ein wichtiger Motivator ist: Musikläden besuchen und etwas Materialkunde zu betreiben.
    (möglichst ohne gleich was zu kaufen)
    Gute Zeit beim bassen Euch allen.
    Frohe Ostern Michael

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