Hand aufs Herz, wer fürchtet sich vor dem Notenlesen auf der Gitarre? Und braucht man das überhaupt? Schließlich haben berühmte Gitarristen wie Wes Montgomery, Jimi Hendrix oder Eric Clapton nie in ihrem Leben nach Noten gespielt, und in der Tat sind in der Gitarren-Community die Notenleser eine schon fast verschwindende Minderheit. Ich gebe hier das Versprechen, dass ich harte Nicht-Notenleser innerhalb der nächsten Minuten dazu bringen werde, musikalische Informationen – und nichts Anderes transportieren Noten ja – ohne vorheriges Anhören nur visuell zu erfassen und umzusetzen.
Dazu müssen wir wissen, dass in Noten zwei Komponenten stecken, die Tonhöhe, und das, was wir Rhythmus nennen. Um die letztere Komponente werden wir uns jetzt kümmern: Viele assoziieren mit Notenlesen ja das vom Blatt spielen, auf Italienisch „prima vista“ genannt – also ein Musikstück spielen, ohne es vorher je gesehen oder gehört zu haben. Dieses Level markiert natürlich die allerhöchste Fertigkeit, die gerade bei Gitarristen eher selten zu finden ist, auch weil, anders als beim Klavier, ein und dieselbe Note in vielen Positionen zu finden ist, z.B. die hohe leere E-Saite auch noch am 5. Bund der H-Saite, am 9. Bund der G-Saite, am 14. Bund der D-Saite und am 19. Bund der A-Saite. Aber zwischen der Fähigkeit zum „prima vista“-Lesen und dem Nicht-Lesen gibt es unendlich viele Zwischenschritte.
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In Beispiel 1 zeige ich auf, dass der erste Schritt, nämlich nur Viertel-Rhythmen innerhalb eines 4/4-Takts zu identifizieren, ein kinderleichter ist: Wir sehen zunächst die sogenannte Taktart-Angabe, die aus zwei Komponenten besteht. Der Zähler zeigt die Anzahl der Schläge pro Takt an, der Nenner den sogenannten Notenwert – hier Viertelnoten. In Verbindung mit einem Metronom wird dann die Dauer der Note definiert, bei 60 Schlägen pro Minute für die Viertel ist eine Viertelnote exakt eine Sekunde lang. Für die Notation von Viertel-Rhythmen brauchen wir dann erst einmal zwei Zeichen: die Viertel-Pause und die Viertel-Note. Gezählt wird dann mit den Silben 1, 2, 3 und 4. Und das war’s schon, keine Hexerei. Im Folgenden zeigen dann die Takte 1 bis 15 alle Möglichkeiten an, einen 4/4-Takt mit Viertel-Noten zu füllen. Mehr geht nicht! Jetzt kann man mit oder ohne Metronom, mit oder ohne konstantem Tempo zunächst alle 15 Möglichkeiten durchgehen: Man lässt dabei den Fuß durchlaufen, spricht die Tonsilben durch und spielt oder klatscht jede notierte Viertelnote. Hier ist d‘, das eingestrichene D notiert, das wir bei der Leersaite D, am 5. Bund der A- und am zehnten Bund der tiefen E-Saite finden.
Als Nächstes kümmern wir uns um die vier Takte in Beispiel 2, die gerne mehrfach wiederholt werden dürfen. Auch nicht schwer, oder? In Beispiel 3 finden wir dann eine längere Abfolge von Viertel-Rhythmen, die bei gemütlichem Tempo keine größeren Schwierigkeiten machen sollte, bei höheren Tempi aber durchaus tricky werden kann.
POWERCHORDS
Diesen Begriff hat wahrscheinlich so gut wie jeder schon einmal gehört. Powerchords (zu erkennen an der Zahl 5) bestehen aus dem Grundton und einer hinzugefügten reinen Quinte, dabei dürfen beide Töne auch mehrfach vorkommen. Eine Band, die auf der Basis von Powerchords unzählige Mega-Riffs geschrieben hat, ist AC/DC. In diesen Powerchords sind oft Leersaiten integriert.
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Beispiel 4 zeigt E5, G5, A5, C5 und D5 in der Grundform. Achtung, bei G5 wird die nicht gebrauchte A-Saite mit dem Mittelfinger, der den Grundton auf der tiefen E-Saite greift, gedämpft. Analog dämpft bei C5 der Ringfinger die D-Saite. In Beispiel 5 sehen wir dann einige Varianten dieser fünf Powerchords, die 90 Prozent aller AC/DC-Riffs abdecken. Fünf? Da war doch was? Richtig, die Grundtöne der Power-Chords in der Reihenfolge A, C, D, E und G bilden die A-Moll-Pentatonik, und auch deshalb klingen praktisch alle Kombinationen dieser Powerchords überzeugend. Beispiel gefällig? Probier doch mal, den Bandnamen in Power-Chords zu spielen!
| A5 C5 | D5 C5 | >> Geht! Klingt!
Bei AC/DC-artigen Powerchords gibt es einige wichtige Faktoren. Die Gitarren müssen perfekt gestimmt sein, und Malcolm Youngs Sound, erzeugt von einem Humbucker in Stegposition, ist fast clean und sehr laut. Auch Angus Young bevorzugt Low-Gain-Settings. Dann muss der Groove stimmen. Die Band bestach schon immer durch enorme rhythmische Tightness und eine perfekte Einigkeit im Fühlen von Rhythmen. Und gerade in der nur scheinbar einfachsten rhythmischen Disziplin, dem Spielen von Viertel-Grooves, waren und sind die Australier amtierende Weltmeister.
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Die Beispiele 6, 7 und 8 enthalten jeweils achttaktige Powerchord-Riffs, ausschließlich in Vierteln gespielt. Für die Versionen 6a, 7a und 8a wurden die Powerchords einfach gedoppelt und im Stereo-Panorama hart nach links und rechts verteilt. Bei den Versionen 6b, 7b und 8b spielt die zweite Gitarre (rechts im Panorama) Varianten der Powerchords aus Beispiel 5. Auch durch diese Art des Arrangierens von zwei Rhythmus-Gitarren hat AC/DC den unverkennbar eigenen Trademark-Band-Sound maßgeblich geprägt.
(erschienen in Gitarre & Bass 07/2022)