Zum neuen Album ‚Never Let Me Go‘

Dystopia: Stefan Olsdal von Placebo im Interview

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Mit ‚1984‘ schuf George Orwell einen bedrückenden Zukunftsroman über einen fiktiven Überwachungsstaat. 73 Jahre später greifen Placebo dieses Thema neu auf. Etwa die Einführung von Überwachungskameras mit rassistischen Gesichtserkennungstechnologien. Oder die Preisgabe persönlicher Daten via Internet und Smartphones an multinationale Konzerne. Placebos neuer Longplayer ‚Never Let Me Go‘ ist voller inhaltlicher Widerhaken. Und klingt auch noch toll.

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Als der Gitarren-Rock Ende der Neunzigerjahre farblos und fad zu werden drohte, pinselten Placebo dem Genre ein bisschen Rouge auf das in die Jahre gekommene Gesicht. Auch wenn ihre Musik oft in dunklen Tönen gehalten war. Doch genau das macht auch heute noch den Reiz der inzwischen zum Duo geschrumpften Band aus. Gitarrist und Sänger Brian Molko und Bassist, Gitarrist und Keyboarder Stefan Olsdal halten Placebo am Leben und senden nach einer schier endlosen Pause mit ‚Never Let Me Go‘ ein vitales Lebenszeichen an die globale Fangemeinde.

In Stefans Londoner Heimstudio entstanden 2018 die ersten Layouts für 13 neue Tracks, die dann um die Ecke in Mickie Mosts Kultstudio RAK Kontur und Textur bekamen. Songs mit reichlich Ausrufezeichen und kritischen Betrachtungen zu Themen wie Privatsphäre und Überwachungsstaat (‚Surrounded By Spies‘), die Zerstörung unseres Planeten (‚Try Better Next Time‘) oder Nicht-heteronormative Beziehungen (‚Beautiful James‘).

INTERVIEW

Stefan, dies ist euer achter Longplayer. Im Vorfeld war zu lesen, dass Brian und du diesmal vieles anders angegangen seid.

Der Auslöser lag darin, dass Brian und ich die einzigen verbliebenen Band-Mitglieder sind. Vergleichbar haben wir nur zum ersten Album gearbeitet. Das hat die Dynamik des Arbeitsprozesses komplett verändert. Aber wir mögen Veränderungen und einen neuen Betrachterstandpunkt. Zuerst wollten wir alle Songs mit einem Drumcomputer produzieren. Wir haben den Placebo-Sound in unserer DNA. Da ist es wichtig mal eine andere Sicht- und Arbeitsweise zu entwickeln. In der Nachbetrachtung sind auch eine Menge programmierter Beats aufs Album gekommen. Ohne Schlagzeuger zu beginnen hat uns neues Terrain erkunden lassen. Wir brauchten uns keine Gedanken zu machen, dass unser Schlagzeuger gelangweilt im Raum hockt, während Brian und ich mal wieder stundenlang Keyboard-Sounds oder neue Gitarren-Effektgeräte ausprobieren.

Ihr habt 2018 erste Demos in deinem Heimstudio in East London aufgenommen.

Und wir genossen unsere Freiheit! Wir konnten ohne Zeitvorgaben arbeiten, ohne auf die Uhr zu sehen oder die Öffnungszeiten eines Studios beachten zu müssen. Du müsstest mein Studio sehen! Es ist winzig! Alles ist in Reichweite. Es ist mein kleines Laboratorium. Unsere Rollen, wer Gitarrist, Bassist oder Keyboarder ist, zählen hier nichts. Derart definierte Rollen haben Brian und ich auch nie angestrebt. Ganz am Anfang, noch vor unserem Debütalbum, haben wir in Brians Wohnung mit Spielzeugpianos, kaputten Gitarren und seltsamen asiatischen Instrumenten musiziert, die wir auf dem Flohmarkt gekauft hatten. Alles war erlaubt! Es ging nur darum, uns mit „Werkzeugen“ zu umgeben und uns künstlerisch nicht zu beschneiden. Wer dabei was spielte, war zweitrangig. Wir waren schon immer experimentierfreudig und freuten uns darüber, welche irren Zutaten wir in unserem Labor zusammenmixten! (lacht)

Ihr habt dann in den Londoner RAK Studios aufgenommen, mit eurem Tour-Schlagzeuger Matthew Lunn (Colour Of Fire) sowie Pietro Garrone von den Husky Loops. Wie lief die Rhythmusarbeit aus deiner Sicht als Bassist?

Brian und ich haben zwei Schlagzeuger an Bord geholt, die wir mögen und von denen wir das Gefühl haben, dass sie stilistisch zu unserer Musik passen. Bei einigen Songs war das Matthew, bei anderen Pietro. Matthew kenne ich nun schon fünf, sechs Jahre. Ich weiß, wie er tickt. Es ist eine gute Symbiose. Und natürlich hat Matthew einen Effekt auf mein Bassspiel. Jeder Schlagzeuger ist halt anders. Allein, weil Matthew und Steve (Forrest, der letzte Schlagzeuger, Anm. d. Verf.) einen total unterschiedlichen musikalischen Hintergrund haben. Matthews Spiel ist sehr gradlinig. Das gibt mir eine Menge Freiheit. Dazu kommt, dass ich mich nie als Bassist oder Gitarrist gesehen habe, sondern immer als Bassist und Gitarrist. Und als Keyboarder auch. Es geht nur um das Ergebnis, den fertigen Song.

Wie war deine Gewichtung zwischen Bass und Gitarre?

Ich habe auf jedem Song Bass gespielt. Ich glaube, ich habe auch auf jedem Song Gitarre gespielt! Genau genommen auch auf fast jedem Song Keyboard! (lacht) Der einzige Song zu dem ich gar nichts beigesteuert habe, ist der letzte Track ‚Fix Yourself‘. Als Brian ihn mir vorspielte, probierte ich ein paar Tage herum, um zu sehen, ob ich irgendwas dazu beisteuern könnte. Aber es passte nichts. Brian hatte zum ersten Mal einen komplett fertigen Song mitgebracht! Ich habe keinerlei Probleme damit, dass ich nicht darauf mitspiele. Ich muss nicht überall meine Finger drin haben.

Was für Instrumente hast du benutzt?

Seit den letzten fünf Alben kennt man mich vornehmlich mit Gibson-Thunderbird-Bässen. Das sind wirklich wunderbar stabile Instrumente mit einem grandiosen Tiefenfundament, die perfekt zu mir und zu Placebo passen. Aber für dieses Album habe ich wieder meinen Fender Precision herausgeholt. Diesen Bass habe ich in unseren Anfangstagen gespielt, dazu noch einen Fender Jazz Bass. Ich habe neulich schon mal versucht mein Gefühl zu erklären: Diesen Precision wieder zu spielen, war wie nach vielen Jahren einen alten Freund zu treffen. Mir wurde schnell klar, dass ich gerne wieder mit meinem alten Kumpel abhängen will! (lacht) Das brachte auch wieder andere Spiel- und Herangehensweisen mit. Jeder Bass hat seine Seele. Dieser Bass hat meine melodische Seite wieder befeuert. Er passt perfekt zum Sound dieser Platte.

Und Gitarren?

Ich bin ein Les-Paul-Typ! Die Gibson Les Paul passt am besten zu meinen Sound-Vorstellungen und zu unserem Live-Sound. Meine Hauptgitarre ist eine schwarze Custom aus den Achtzigerjahren. Aber ich bin stetig auf der Suche nach ungewöhnlichen Gibson-Modellen. Vor ein paar Monaten habe ich mir eine ES-195 gekauft. Und momentan beschäftige ich mich mit den S1- und Marauder-Modellen aus den Siebzigerjahren. Irgendwie ziehen mich diese Gitarren magisch an. Brian steht eher auf Fender-Gitarren, also passt das einfach gut. Da wir Live mitunter drei Gitarristen sind, versuchen wir zu vermeiden, dass alles ein undefinierbarer Sound-Brei wird.

EQUIPMENT

    • Gitarren/Bässe: Gibson Thunderbird IV, Gibson Firebird V, Fender Precision und Jazz Bass, Gibson Les Paul Custom, Gibson Les Paul Goldtop, Gibson ES-195, Fender Thinline Telecaster
    • Amps & Boxen: Ampeg SVT Top + Box
    • Effekte: Boss TU-2 Tuner, MXR Phase 90, Electro-Harmonix Hot Tubes Overdrive, Boss DD-8 Digital Delay, Maestro Fuzz-Tone, Earthquaker Life V2, Meris Ottobit Jr. Bitcrusher

Was für Amps hattest du im Studio?

Als Bassist stehe ich auf meinen Ampeg SVT plus Box. Schon seit den Anfangstagen. Damit fühle ich mich im Studio und auf der Bühne gleichermaßen wohl. Ich habe bisher nichts gefunden, was besser zu unserem Sound passt. Aber Gitarrenverstärker? Unmengen! (lacht) Wir sind schließlich eine Gitarrenband! Wenn du viele Gitarrenspuren hast und diesmal auch viele Synthesizer, muss alles einen sehr definierten Sound haben, damit alles seinen Platz im Mix findet. Diesmal hatten wir alles Mögliche im Studio dabei, von alten Marshall-Bluesbreaker-Combos bis hin zu Brians iPhone, um so einen komprimierten Telefon-Sound hinzubekommen. Wir hatten JCM 800er und 900er Marshalls, Fender Twin Reverbs und Ampeg-Gitarrenverstärker. Und die Suche geht immer weiter! Es ist die Suche nach dem heiligen Gral! (lacht) Es ist genau genommen Fluch und Segen, dass es so viele Amps, Gitarren und Effekte gibt. Es gibt so viel auszuprobieren, so viele Möglichkeiten! Der eine Amp hat perfekte Bässe, der andere die feineren Mitten, der dritte ist perfekt für die Bühne! Oh mein Gott − ich frage mich gerade, wie wir dieses Album live reproduzieren wollen.

Im Video zu ‚Surrounded By Spies‘ sieht man Brian und dich mit opulenten Effektboards. Wie viel Zeit verwendet ihr, um euch mit neuen Geräten auseinanderzusetzen?

Würdest du meinen Ehemann fragen, würde er dir sagen, dass ich dringend therapeutische Hilfe benötige! (lacht) Es ist schwer, das jemandem zu erklären, der Musik nicht so hört, wie du selbst. Brian stimmt mir sicher zu. Wir sind versessen auf Sounds! Wir sind begeistert von den endlosen Möglichkeiten. Da sich Technologien stetig weiterentwickeln ist dieser Aspekt sehr dynamisch. Wenn du viele Jahre dafür aufgewendet hast, deinen Ohren ein Finetuning zu verpassen, dein Gehör für Frequenzen und Töne trainiert hast, mit allen Komponenten und Parametern, die dahinter stecken, dann ist das wie ein kleines Universum. Und FX-Pedals sind wie Raumschiffe die uns auf eine Reise ins Weltall schicken.

Welches war das letzte Pedal, das du gekauft hast?

Ist gerade eben mit der Post gekommen. (lacht) Kennst du Maestro? Ich habe gerade den Fuzz-Tone ausgepackt. Schön schwer und stabil, das ist schon mal gut. Davor hab ich mir einen Earthquaker Life V2 gegönnt. Und noch ein Meris Ottobit Jr. Bitcrusher, der bietet unglaublich coole Möglichkeiten. Oh, ich plaudere hier echt Geheimisse aus! (lacht)

Das Artwork zum neuen Album ‚Never Let Me Go‘

Ein Satz noch zur Intention des Albums. Ihr habt euch von der hedonistischen Party-Band zunehmend zu kritischen Charakteren entwickelt und deutlich an Profil gewonnen.

Danke! Wir sind nicht mehr die Band, die in den kleinen Bars in Camden spielt. Wir sind auch nicht mehr 21, ohne jegliches Verantwortungsgefühl. Brian hat sich zu einem vollendeten Texter entwickelt. Seine Texte auf diesem Album sind toll. Du entwickelst dich natürlich im Laufe des Lebens. Leider fühlt sich die Welt inzwischen ziemlich schwer an. Doch wir umarmen sie, die hellen und die dunklen Seiten, gänzlich ohne Angst.


(erschienen in Gitarre & Bass 04/2022)

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