Die Berliner The Ocean gelten nicht erst seit ihrem aktuellen Album ‚Phanerozoic II‘ als eines der Aushängeschilder des deutschen Post-Metal. Während ausschweifende Konzerte für das Sextett durch Touren mit Leprous oder Amorphis von Indien bis Südamerika zu ihren wichtigsten Aktivitäten zählten, machte die Pandemie der Band auch hier einen Strich durch die Rechnung. Die Alternative? Gestreamte Shows, aber in typischer Ocean-Manier gewohnt episch und perfektionistisch produziert.
Für das Bremer Veranstaltungsprojekt Club100 spielten sie vor riesiger, leerer Halle ihr Album ‚Phanerozoic I‘ und streamten das Konzert hochprofessionell live. Den zweiten Teil des Albums zeichneten The Ocean in reduziertem Ambiente auf, um ihn dann als ausproduzierten Konzertfilm in den Stream des niederländischen Roadburn Festivals zu bringen. Wir sprachen mit Band-Kopf und Gitarrist Robin Staps über die beiden sehr unterschiedlichen Shows ohne Publikum, ihre technische Umsetzung hinter den Kulissen und die Zukunft von Livestreams.
Anzeige
INTERVIEW
Robin, was geht dir durch den Kopf, wenn du jetzt an eure beiden Streaming-Shows zurückdenkst?
Es war eine sehr interessante, ein bisschen bizarre Erfahrung für uns – aber insgesamt eine rundum positive Angelegenheit. Wir hatten sowas vorher noch nie gemacht und wir wussten natürlich auch nicht so richtig, auf was wir uns da einlassen. Das wurde uns erst in den Stunden vorher bewusst, weil wir uns alle ziemlichen Druck aufgebaut haben, wie man das nur von riesigen Open-Air-Festivals kennt. Einfach, weil es ein so ungewohntes Szenario war.
Es war ja ein großes Konzert in einer Halle, und so hat sich das auch angefühlt, aber trotzdem war ja niemand da. Wir wussten aber auch, dass die Leute zu Hause sitzen und uns auf die Finger gucken, was ja auch nicht unbedingt ein angenehmes Gefühl ist. Den größten Teil des Sets konnten wir dann aber schon vor dem eigentlichen Stream auf der Bühne proben. Dadurch hatten wir auch mit den Kameraleuten neben uns und mit dieser neuen Situation unseren Frieden geschlossen. Als wir dann hoch zur Bühne gegangen sind, war der Vibe zwischen uns wider Erwarten voll da. Am Ende hat sich das wirklich sehr gut angefühlt und ging auch ziemlich schnell vorbei.
Werdet ihr diese Live-Show denn auch separat veröffentlichen?
Das ist auf jeden Fall im Gespräch. Wir haben das noch nicht abschließend entschieden, aber wir haben da jetzt einfach einen ziemlichen Aufriss betrieben und bekommen auch das Videomaterial vom ersten Stream. Den zweiten haben wir ja selber produziert. Also überlegen wir schon, ein Live-Album zu machen. In welchen Formaten wird man dann sehen: Ob nur digital oder auch als Vinyl und mit Beilage. DVD oder USB-Stick? DVDs kauft ja niemand mehr, aber das Video gehört auch irgendwie dazu. Das ist jetzt im Gespräch, weil es ohne Publikum einfach auch ein merkwürdiges Live-Album ist.
Gab es choreographisch einen Unterschied zwischen diesen Konzerten und der „richtigen“ Live-Show, etwa beim Licht?
Eigentlich nicht wirklich. Es war ein bisschen wie die Probe zur neuen Show, die wir auch live spielen wollen. Die hat unser Lichtmann Sean entwickelt. Das Ganze ist bei uns teilweise programmiert, wir spielen also nach Sequenzer und Click und es gibt dann Midi-Spuren, die über einen Converter in ein DMX-Signal das Licht ansteuern. Zum Teil bedient Sean aber auch das Licht vom Haus mit dazu. Für die Club100-Show konnten wir das genauso aufbauen und bestellen, wie wir das in Zukunft machen wollen. Es war also auch gut, das mal unter Optimalbedingungen in so einem Venue zu testen – und es hat auch genauso geklappt, wie wir uns das vorgestellt haben. Das ist also getestet und so wollen wir die Show später auch mit auf Tour nehmen. Bei Peter (Keyboarder der Band, Anm. d. Red.) war es natürlich ein viel kleinerer Rahmen, da haben wir auch ein etwas anderes Setup ausprobiert: Eben etwas intimer, mit Lichtkegeln über unseren Köpfen und gleichzeitig aber auch mit Blindern und Atomics. Auch eine sehr coole und andere Produktion.
Die beiden Streams sind in ihrer Entstehung ja schon sehr verschieden.
Genau, es sind zwei ganz unterschiedliche Nummern! Das eine war halt wirklich live, und das andere eher ein aufgenommenes Live-Konzert, das natürlich mit viel mehr Sorgfalt gemixt und geschnitten werden kann. Ich habe mir den Livestream auch nochmal angeschaut. Das sieht alles sehr cool aus, wurde aber natürlich auch von Leuten geschnitten, die unsere Musik nicht kennen. Die im jeweiligen Moment geguckt haben, welche Kamera am besten aussieht. Das ist natürlich nicht dasselbe, wie wenn man sich selbst hinsetzt und für jedes Bild die beste Einstellung aussucht. Das kann man live nicht machen. Dass das so unterschiedlich ist, war von uns durchaus auch so beabsichtigt und gewünscht: Das eine voll live, und wenn etwas schief geht, fliegt man auf die Schnauze. Beim anderen hat man noch die Möglichkeit, sich die besten Bilder auszusuchen. Das wird dann wahrscheinlich eher so eine Art Kunst-Live-Film. Wir wollen es aber natürlich so dicht wie möglich an unserer Performance halten. Das betrifft eher den Videoschnitt – wenn ich beim Livestream geschnitten hätte, hätte ich vieles anders gemacht.
Bild: Paul Post
Robins PRS Custom 24s
Bild: Paul Post
Robins PRS Custom 24s
Bild: Paul Post
Custom-EGC-Baritongitarre mit Aluminiumhals und PRS-Pickups
Bild: Paul Post
Robins Ampeg Stud: Eines von nur wenigen Gitarrenmodellen, die Ampeg in den 70ern produzierte.
Am Anfang eures Livestream-Konzerts gab es ein technisches Problem: Der Ton klang die ersten Minuten sehr roh und dünn.
Ja, richtig. (lacht) Was da passiert ist: Die Leute im Schnitt haben versehentlich auf den Ton einer Kamera geschaltet. Wir wussten davon nichts bis nach der Show, weil wir auf unseren In-Ears den gemischten Ton hatten. Unser Soundmann wusste es auch nicht, der hat vorne am Mischpult einen super Ton gemacht. Es ist erst nach dem Soundboard im Schnitt passiert. Wir sind darauf durch unseren Freund und indischen Booking-Agenten aufmerksam geworden, der hat dann unserem Soundmann Chris während des ersten Songs eine Textnachricht geschickt und meinte, er hört nur Drums. Chris hat das gesehen und ist nach vorne gerannt, dann haben die das überhaupt erst bemerkt. Ja, das war ärgerlich, aber es wurde dann behoben – die Show gab es ja auch 48 Stunden on demand, und gleich nach der Show wurde der Ton dann ausgetauscht. Aber die Leute, die live zugeschaut haben, haben den ersten halben Song über nur so ein beschissenes Kamera-Mikrofon als Audiospur gehabt. Das war extrem unangenehm. Gut, dass wir das nicht wussten! Für uns klang alles super.
Bei dem riesigen technischen Arsenal eures Livestreams – wie funktioniert die Show technisch bei euch?
Am Anfang steht ein Macbook mit Logic Pro, das uns als Sequenzer dient. Der gibt den Clicktrack raus, spielt Backing-Tracks ab, steuert das Licht und schaltet unsere Gitarrenamps und -effekte um, ist also mit den Kempern gesynct. Der ist aber auch mit Loïcs (Sänger der Band, Anm. d. Red.) Laptop verbunden, der damit Vocal-Effekte in Realtime macht. Das ist das zweite Macbook. Und als letztes kommt Peters Macbook. Er spielt Keys und Synthesizer, benutzt aber auch Ableton Live für Loops und eigene Live-Geschichten. Die drei sind also alle miteinander verbunden, das Logic-Macbook ist aber das Herz der ganzen Sache.
Die Gitarren laufen bei euch aber alle durch Kemper-Amps?
Genau, da haben wir komplett umgestellt. Nicht aus Leidenschaft, sondern aus Alternativlosigkeit, was die Reiselogistik angeht. Jahrelang habe ich meinen MesaAmp über russische und chinesische Bahnhöfe geschleppt, und irgendwann hatte ich da keine Lust mehr drauf. Dann gehen auf Tour Röhren kaputt, es war einfach immer ein Albtraum. Wir haben eh schon große Gewichtsprobleme, weil wir immer viel Gear mit dabei haben – und da ist ein Kemper einfach ein Traum. Das Ding passt in ein Rack, es funktioniert, und man braucht eigentlich nichts weiter mitzunehmen. Im Studio würden wir das nie so machen: Der Gitarrenton auf den Alben ist immer analog. Meistens auch ein ziemliches Arsenal an Amps und Cabs, was wir da aufbauen.
Live benutzen wir aber seit ungefähr drei Jahren Kemper. Die sind über Midi mit dem Sequenzer verbunden, wir benutzen also kein Pedalboard, um live zu schalten. Wir haben jeder aber zusätzlich ein kleines Pedalboard für andere Sachen. Ich habe zum Beispiel einen modifizerten Line6-Delay-Modeller, an dessen Reglern ich in Interludes gerne rumdrehe, um komische Geräusche zu erzeugen. Unser Bassist Mattias benutzt keinen Kemper. Er hat sein Live-Pedalboard und hat darauf seine ganzen Effekte einzeln als Tretminen.
Welche Amp-Profile spielt ihr denn live über den Kemper?
Wir haben verschiedene Patches für verschiedene Sounds. Die haben wir zum Teil selber gebaut, wie z. B. meine Mesa-TriAxis-Sounds oder meinen Diezel-Amp. Aber jeder Sound basiert auf einem anderen Amp aus unserer Library. Wir haben für jeden Sound den optimalen Verstärker gesucht. Es sind nicht so viele – ich würde sagen, knapp unter zehn Sounds, die wir regelmäßig benutzen. Mein Haupt-Zerrsound ist ein Diezel, clean ein Traynor mit HiWatt-Cabinet. Für viele Clean-Sounds benutzen wir auch einen AC30. Für die Crunch-Sachen sind es verschiedene Amps, der Haupt-Sound kommt allerdings von einem alten Marshall.
Wie sieht es mit Effekten aus?
Die haben wir alle im Kemper reproduziert. Das ist bei uns immer so eine Sache: Ich nehme Gitarren für Alben grundsätzlich als DI-Signal auf, baue mir alle Effekte über Guitar Rig zusammen und dann re-ampen wir im Studio alles. Die Effekte werden dann zum Teil in the box, zum Teil mit Pedalen erzeugt. Im letzten Schritt wird dann alles, was man im Studio gemacht hat, live im Kemper reproduziert. Es sind immer diese drei Stationen. Dafür ging bei den Proben jetzt auch viel Zeit drauf, weil unser anderer Gitarrist David und ich die ganzen Sounds, die wir im Studio für das letzte Album gebaut hatten, über die Kemper reproduzieren mussten. Das geht zum Teil durch Hinhören, bei speziellen Sachen haben wir uns auch Parameter aufgeschrieben. Man kommt aber nie tausendprozentig dran.
Bild: Paul Post
Spartanisches Pedalboard mit Wireless-System, Tuner und modifiziertem Line6 DL4 Delay Modeler
Bild: Paul Post
Das Pedalboard von Bassist Mattias Hägerstrand mit Darkglass Microtubes B7K, Microtubes X, T-Rex The Sweeper, Artec Analog Delay SE-ADL, TC Electronic Hall of Fame Mini, T-Rex Karma Boost und EarthQuaker Devices The Warden
Wie würdest du die Qualität dieser drei Stadien bewerten?
Das mit Guitar Rig ist ein bisschen so, als ob man in der Komposition Midi-Strings benutzt: Da kann man alles mit machen, aber richtig geil klingt es erst, wenn echte Streicher das einspielen. Genauso ist es mit Gitarrensounds. Man kann in der Vorproduktion schon viel machen, aber so richtig gut wird es erst, wenn man sich eine Wand an Amps und Boxen aufbaut, mit Mikrofon-Positionen rumspielt und wirklich einen analogen Ton erzeugt. Da werde ich wahrscheinlich nie von abrücken. Ich bin schon überrascht, wie gut man mit Guitar Rig mittlerweile Gitarrensounds hinbekommt. Man kommt da schon sehr weit. Aber die letzten 10 bis 20 Prozent kriegt man wirklich nur hin, wenn man sich Mühe gibt und es mit echten Amps und Mikrofonen macht. Dadurch wird es halt auch persönlich und nicht einfach ein leicht kopierbares Digital-Ding. Das ist ja auch das Schöne daran.
Wird es bei den beiden Streaming-Konzerten bleiben, oder habt ihr da jetzt Blut geleckt?
Im Moment ist noch nichts weiter in Planung, aber wir haben schon Spaß dran gehabt und können uns vorstellen, das noch einmal zu machen. Wir hoffen natürlich jetzt erstmal, dass wir in absehbarer Zeit mal wieder ein richtiges Konzert spielen werden – mit ‚Phanerozoic II‘ waren wir ja auch noch gar nicht auf Tour. Unsere Juni-Tour wird jetzt vermutlich zum dritten Mal verschoben, auf Anfang Januar 2022.
Aber wenn das noch eine Weile lang so weitergehen sollte, könnte ich mir schon vorstellen, so etwas nochmal zu machen. Es gibt auf jeden Fall Alben, wo eine große Nachfrage diesbezüglich besteht, glaube ich. Die Leute hätten da auch Bock drauf. Aber es benötigt auch immer massive Vorbereitungszeit. Wenn ich mir jetzt vorstelle, einen Centrics-Livestream zu machen, müssten wir da auch erstmal wieder einen Monat für proben. Das sind alles Songs, die wir zum Teil noch nie live gespielt haben, und mit dem jetzigen Line-up schon gar nicht. Aber es ist auch cool, für sich selber so eine Art Archiv anzulegen: Jedes Album einmal live eingezockt und auch noch auf Video zu haben – da hätte ich schon Bock drauf.
Wie siehst du die Zukunft von Livestream-Shows? Oder seid ihr einfach froh, wieder mit Menschen im Club zu schwitzen?
Natürlich sind wir das. Trotzdem glaube ich schon, dass das nach Corona auch Bestand haben wird. Viele Clubs sind ja gerade ganz massiv am Aufrüsten, was das angeht. Es ist für die Leute cool, die vielleicht nicht die Chance haben, ihre Lieblingsbands immer live zu sehen. Wir sind eine Band, die immer ziemlich viel in den entlegensten Winkeln der Welt getourt hat, aber viele Bands kommen einfach nicht nach Russland, Indien oder China. Und wenn man den Leuten dort dann ein qualitativ gutes Livekonzert gestreamt bieten kann, ist das schon eine geile Sache. Ich sehe das nicht als Alternative zu Livekonzerten, sondern als Ergänzung.
Beim Stream in Bremen habe ich gemerkt: Das, was wir da gemacht haben, hätte mit Publikum gar nicht funktioniert: Mit Kameraleuten auf der Bühne, Kran, Dolly – das war eine sehr aufwendige Produktion, die wirklich darauf ausgerichtet war, das Optimale für einen Livestream herauszuholen. Mit Publikum in der Halle hätte man da Kompromisse machen müssen. Insofern sind das vielleicht auch zwei Dinge, die parallel existieren können. Ob sich das am Ende durchsetzen wird, wird sich zeigen. Natürlich ist es nicht vergleichbar mit der Energie im Raum bei einem echten Livekonzert. Für uns waren die Streams eine interessante Erfahrung, und auf jeden Fall etwas, das ich wieder machen würde. Aber ich hoffe natürlich auch, dass das nicht die Zukunft von Live-Konzerten ist.