von Marian Menge, Julius Krämer, Arnd Müller, Matthias Mineur,
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RYLEY WALKER: COURSE IN FABLE
Mag sein, dass es nur mir so geht, aber oft, wenn ich einen dieser vielen zweifellos tollen amerikanischen Singer/Songwriter à la Jakob Dylan, Jason Mraz oder Jack Johnson höre, denke ich mir: Habt mehr Mut! Geht ins Risiko! Überrascht mich! Zwar machen sie allesamt ausgezeichnete Musik, sind aber oft auch ein wenig erwartbar.
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Und dann lernt man Ryley Walker kennen, und der erfüllt alle diesbezüglichen Sehnsüchte mit einem einzigen Song. Der in Rockford, Illinois geborene Gitarrist und Songschreiber hat mit ‚Course In Fable‘ ein teilweise typisch amerikanisches Singer/ Songwriter-Band-Album gemacht: In ihrer Essenz sind Songs wie ‚Axis Bent‘ oder ‚Pond Scum Ocean‘ Soul- oder Folk-Nummern mit etwas Country-Einschlag. Doch Walker verlässt diese gewohnten Fahrwasser häufig und an den richtigen Stellen und zeigt, dass es in diesen alteingesessenen Genres mehr zu entdecken gibt, als schöne Songs mit schönen Gitarren.
So finden sich in den sieben Nummern krumme Taktarten, verschachtelte Arpeggio-Gitarren, fiese Fuzz-Klänge, freie Jazz-Improvisation, eigentümliche Klanggebilde und auskomponierte, komplizierte Parts, die an die frühen Genesis, Phish und die Dave Matthews Band denken lassen. Bemerkenswerterweise wirkt das zu keiner Zeit hektisch oder überfrachtet, sondern klingt fluffig, warm und leichtfüßig. Produziert wurde die Platte übrigens von Chicago-Sound-Institution John McEntire, der schon für den Klang von Platten von Tortoise, Stereolab und Bright Eyes verantwortlich war. Weisse bescheid! mame
MANCHESTER ORCHESTRA: THE MILLION MASKS OF GOD
Manchester Orchestra wissen einfach, wie man ein Album beginnt. Bereits der Opener ‚The Maze‘ des Vorgängers ‚A Black Mile To The Surface‘ lieferte mit seinem mehrstimmigen Chor einen ihrer bisher intensivsten Momente. ‚Inaudible‘ eröffnet ihr neuestes Werk ähnlich beeindruckend, doch dafür mit einer Sound-Gewalt, die man von der Indie-Band aus Atlanta bisher noch nicht kannte – und erinnert mit seiner soundästhetischen Offenheit an die Pop-Vorreiter The 1975.
Dass das Quartett aus Atlanta auch anders kann, beweisen die wunderbar schwelgerischen Folk-Balladen ‚Telepath‘ und ‚Let It Storm‘, die so auch auf einem ihrer früheren Alben hätten erscheinen können. Neben eher unspektakulären Singles wie ‚Keel Timing‘ beweisen besonders ‚Angel Of Death‘ und ‚Inaudible‘, wie sehr Manchester Orchestra die Wechselwirkungen von akustischen und synthetischen Instrumenten verstanden haben, wodurch sie für ihr sechstes Studioalbum das Beste aus beiden Welten herausholen. Thematisch behandelt ‚The Million Masks Of God‘ vor allem die Verarbeitung von Verlust und Trauer sowie die Fähigkeit, wieder Schönes in der Welt zu entdecken. Und dabei ist diese Platte ja ein perfekter Anfang. jk
THE BLACK KEYS: DELTA KREAM
Alben von Sänger/Gitarrist Dan Auerbach und Drummer Patrick Carney aka. The Black Keys sind Feierstunden des archaischen Bluesrock. Sie entziehen sich jeglicher Klischees, ohne jedoch mit der Tradition dieser Musikrichtung zu brechen. Sie wildern in den Archiven von Big Joe Williams über Junior Kimbrough und John Lee Hooker bis zu R.L. Burnside, setzen auf Lo-Fi und erdige Sounds und erzielen damit höchste Authentizität.
Denn ähnlich wie bei Rock-Klassikern der Sorte ‚Exile On Main Street‘ (Rolling Stones), ‚Living The Blues‘ (Canned Heat) oder ‚Rio Grande Mud‘ (ZZ Top) lebt auch das neue Album ‚Delta Kream‘ von seiner Spontaneität und dem Mut zum Risiko. ‚Poor Boy A Long Way From Home‘ beispielsweise kommt ohne dramaturgischen Aufbau aus, ist nach erster, flüchtiger Warmlaufphase schnell auf Betriebstemperatur und bricht dann unvermittelt ab, bevor beim Zuhörer das Motoröl überkocht.
Wie gewohnt haben die meisten Tracks eher einen losen Jam-Charakter statt durchgestylte Arrangements, sie leben von ihrer hypnotischen Atmosphäre, dem stoischen Verweigern vermeintlich unnötiger Tonart- oder Rhythmuswechsel. Und sie folgen einer klaren Diktion: „Fühl mich statt mich zu analysieren!“ Und so erzeugen sie in ihren aufregendsten Momenten ein Gefühl von Sehnsucht, Wehmut und tiefer Empathie. Kein Wunder, dass The Black Keys fast permanent im Fokus von Auszeichnungsforen wie Grammy und Brit-Award stehen. Sie werden dies – trotz kleinerer Schwächen – auch mit ‚Delta Kream‘ erneut schaffen. mm
THE ARISTOCRATS: FREEZE! LIVE IN EUROPE 2020
Der Engländer Guthrie Govan und seine beiden Bandkollegen, der amerikanische Bassist Bryan Beller und der deutsche Schlagzeuger Marco Minnemann, können alles, nur nicht konventionell rocken. Ihre Songs sind Musterbeispiele virtuoser Technik und extravaganter Kompositionsgüte, aber auch fehlender Trivialität. Das ist gut und mühsam gleichermaßen, denn wenn die Band ein Songkonstrukt unvermittelt abbricht, um es mit schrägen Harmonien oder harschen Breaks in seine Bestandteile zu zersetzen, kommt Ottonormalhörer an seine Grenzen.
Klar, auch ‚Freeze! Live in Europe 2020’, das im Februar vergangenen Jahres in Spanien aufgezeichnet wurde, zeigt höchste Musikalität mit bis an Fusion, Avantgarde und Jazz heranreichenden Arrangements. Der Opener ‚D Grade F*ck Movie Jam‘ wird seinem skurrilen Titel vollauf gerecht, während ‚The Ballad Of Bonnie And Clyde‘ tatsächlich kurzzeitig Ruhe und traditionellen Wohlklang verspricht.
Wo etwaige Vorbilder der drei Einzelkönner zu suchen sind, dokumentiert Minnemann in ‚Get It Like That‘ und einem Schlagzeugsolo, das er dem unlängst verstorbenen Neil Peart (Rush) widmete, während Govan in ‚Spanish Eddie‘ den Bogen entgegen seines Titels eher zwischen Mahavishnu Orchestra (John McLaughlin) und Al Di Meola spannt. Ergo: Wer zu seinem audiophilen Glück nicht unbedingt Gesang braucht und Spaß an Improvisationskunst und Virtuosität hat, kann hier zuschlagen. Für Mainstreamer dagegen gilt: Vor dem Kauf anhören! mm
ROYAL BLOOD: TYPHOONS
Wirkliche Hypes gibt es in der gitarrenlastigen Welt der Popmusik ja leider immer seltener, beherrschen doch mittlerweile Rap und HipHop die Trends. Umso erfrischender, wenn es knapp zehn Jahre nach den Arctic Monkeys wieder ein britischer Act schafft, mit frischem Sound abertausende Rockfans zu begeistern – und das sogar ganz ohne Gitarre.
Das aus Schlagzeug und Bass bestehende Duo Royal Blood schaffte es 2014 mit ihrem selbstbetitelten Debüt aus dem Stand ins Vorprogramm der Foo Fighters. Ihre dritte Platte ‚Typhoons‘ geht ihren Weg des dreckigen, aber immer bis ins letzte Detail ausproduzierten Garage-Rocks voller Octaver-Riffs und Fuzz-Sounds weiter, auch wenn sie hier wohl eine neue Leidenschaft für an die 80er erinnernden Funk entdeckt haben.
Frontmann Mike Kerr jedoch macht erneut Gebrauch von einer illustren Palette an Bass-Effekten, Schlagzeuger Ben Thatcher dagegen hält sich mit seiner Ekstase etwas zurück und liefert songdienliche Pop-Beats. ‚Boilermaker‘ groovt trocken mit lässig-minimalistischem Singlenote-Riff, während ‚Limbo‘ sogar etwas nach den späten Mando Diao klingt. ‚Trouble’s Coming‘ bringt das Album und Royal Bloods neu entdeckte Radiotauglichkeit mit seinem starren, grimmigen Kopfnicker-Groove aber am besten auf den Punkt. Die Festivalbühnen von 2022 warten bereits. jk
THE FLAMING SIDEBURNS: SILVER FLAMES
In den 90er-Jahren zählte die finnische Band wie auch Turbonegro, Atomic Swing oder die Hellacopters zu den skandinavischen Acts, die Rock & Soul der 60er/70er-Jahre mit unterschiedlichen Ergebnissen wiederbelebten. Der sogenannte „Retrorock“ ging damals mächtig nach vorne, klang spannend und letzlich doch sehr eigen. Und 2021 klingen The Flaming Sideburns wieder genau so. Retro-Retrorock sozusagen!
Scharfe Gitarren-Riffs im noch schärferen Crunch, lebendige Drums und Basslinien erschaffen einen organischen Sound. Dazu kommt ein Frontmann, der mit heiserer Stimme Assoziationen irgendwo zwischen Jim Morrison und Iggy Pop hervorruft. Wah, Tremolo, Fuzz, Endlos-Reverb und viele weitere Sound-Überraschungen laden die Songs dann auch mal psychedelisch auf. Alles klingt so dynamisch, als würde man einem Wohnzimmerkonzert beiwohnen. Sehr cooles Rock’n’Roll-Album! am
THREE-LAYER CAKE: STOVE TOP
„Ich bin wirklich über diesen Genre-Scheiß hinausgewachsen“, sagt Mike Watt, Bassist und Gründungsmitglied eines neuen instrumentalen Bekloppt-Rock-Trios, dessen Mitglieder aus verschiedenen Teilen der USA stammen. Diese vage Ortsangabe ist wichtig, wenn man bedenkt, dass ‚Stove Top‘ zwar ein fast komplett improvisiertes PostRock/FreeJazz/Punk/DoomMetal/Avantgarde-Album ist, das die Musiker jedoch getrennt voneinander im jeweiligen Homestudio eingespielt und entwickelt haben.
In Anbetracht dieser Tatsache verwundert und erstaunt das Ergebnis, weil es dermaßen homogen und on point zusammenimprovisiert ist, dass man kaum glauben mag, dass die drei dabei nicht in einem Raum zusammenstanden. Die drei sind übrigens, neben dem 64-jährigen Watt, der fast halb so alte New Yorker Gitarrist und Banjospieler Brandon Seabrook sowie der aus Portland stammende Drummer Mike Pride.
Allen dreien gemein sind extrem bewegte musikalische Vitas, in denen Namen wie Mary Halvorson, Nels Cline, Minutemen, The Stooges oder Anthony Braxton zu finden sind. Man kennt sich also aus in Hardcore, Punk und (Avantgarde)-Jazz, und genau diesen Hintergrund legt das Trio auch in ihre erste gemeinsame Veröffentlichung: Ein kaum zu (be)greifender Parforceritt durch fast alles, was man mit Musik auszudrücken vermag. Verquer, verspielt, aber nie verkopft. mame
MICK FLEETWOOD AND FRIENDS: CELEBRATE THE MUSIC OF PETER GREEN
Gerade noch rechtzeitig, bevor der weltweite Lockdown der internationalen Musik- und Kulturszene den Saft abdrehte, trafen sich im Februar 2020 im Londoner Palladium eine erstklassige Band mit Mick Fleetwood, Dave Bronze, Johnny Lang, Andy Fairweather Low, Ricky Peterson und Rick Vito, um die Musik von Peter Green zu ehren. Niemand ahnte freilich seinerzeit, dass Green nur wenige Monate später, im Juli 2020, versterben würde.
Das Besondere an diesem hörenswerten Konzert sind allerdings nicht nur Greens frühe Blues-Songs, sondern auch eine illustre Riege prominenter Gastmusiker, wie man sie in dieser komprimierten Anhäufung nur höchst selten zu sehen und zu hören bekommt, darunter Bill Wyman, David Gilmour, Steven Tyler, Billy Gibbons, Pete Townsend, Kirk Hammett, John Mayall, Christine McVie, Jeremy Spencer, Neil Finn oder Noel Gallagher.
Insgesamt 23 Songs wurden einem frenetischen Publikum präsentiert, natürlich mit einer extra langen Version von ‚Oh Well‘, einer lasziv beginnenden und dann geradezu orgiastisch ausartenden Abhandlung von ‚Black Magic Woman‘ und höchst inspirierten Soloeinlagen von ‚Green Manalishi‘ mit Kirk Hammett und der originalen Les Paul bis zum Klassiker ‚Albatross‘, der hier noch mehr als sonst seine Schwingen ausbreitet und dank Pink Floyds Gilmour in ungeahnte Höhen abhebt. Macht summa summarum ein Album, das man nicht verpassen sollte. mm
MOTÖRHEAD: LOUDER THAN NOISE… LIVE IN BERLIN
Das Live-Album ,No Sleep ‘Til Hammersmith‘ ist heute ein Genre-Klassiker und bedeutete 1981 für die englischen Heavy-Rock’n’Roller den endgültigen Durchbruch. Nachdem sich die vorherigen Studioalben seit 1975 in den Charts stetig nach oben gearbeitet hatten, gab’s nun erstmals einen Rang 1. Das ist jetzt 30 Jahre her und alle Beteiligten, Phil „Animal“ Taylor (dr), „Fast“ Eddie Clarke (g) und Ian Fraser Kilmister bzw. einfach nur Lemmy, weilen nicht mehr unter uns.
Im Dezember jährt sich Lemmys Todestag bereits zum sechsten Mal. Am 05. Dezember 2012 rockte Motörhead in der Besetzung, die seit Anfang der 90er bestand: Lemmy, Mikkey Dee (dr) und Phil Campbell (g). 2021 zeigen diese neue CD plus Bonus-DVD, wie gut dieses Trio war. Neben unvermeidlichen Klassikern wie ,Metropolis‘ und ,Ace Of Spades‘ gibt es viele weitere Highlights.
,String Theory‘ ist eine Solonummer für Phil Campbell, der vor flächigen Elektro-Sounds soliert – und das ist unerwartet spannend wie cool und zeigt eine andere Seite der Band. ,You Better Run‘ ist letztlich eine Blues-Nummer, hart gespielt und mit scharfen Breaks. Puren Rock’n’Roll gibt’s mit ,Going To Brazil‘. Alles sehr beeindruckend, zumal wenn man bedenkt, dass Lemmy an diesem Abend angeschlagen war, immer mal hustete und Mühe hatte beim Singen.
Beim letzten Stück ,Overkill‘ kommen Anthrax mit auf die Bühne, die auf der ,Kings Of The Road‘-Tour dabei waren. Und das rockt und kracht, und am Ende ist es großartig, wie die Musiker mehrmals aufs Neue mit dem Intro beginnen, bevor endgültig Schluss ist – das hat schon 1981 Laune gebracht! Danach lehnt Lemmy in guter alter Rock’n’Roll-Tradition seinen Bass gegen den Amp, und das Feedback verbreitet sich endlos im Berliner Velodrom. CD und DVD stecken in einem schön designten Digipak inkl. zum Mini-Poster auffaltbarem Inlay. Außerdem gibt’s den Mitschnitt als Doppel-Vinyl-Album sowie ein Boxset mit allem. Sehr gut! am