Obwohl ich dieses Verstärker-Modell schon häufig in meinen Kolumnen erwähnt habe, wollte ich es mir nicht nehmen lassen, diesen wunderschönen Marshall JTM45 von 1963 näher zu beleuchten.
Diese Amps zählen meiner Meinung nach zu Recht zu den „Vätern aller Gitarrenverstärker“. Der legendäre Ruf hat hier eben nicht nur mit der vor allem für Sammler attraktiven Optik zu tun, sondern beruht vor allem auf den unerreichten Klangqualitäten. Und wie uns die Geschichte berühmter Produkte oft lehrt, ist auch dieser Amp „auf die Schnelle“ und ganz aus dem Bauch heraus entwickelt worden.
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Wenn man so will, ein Zufallsprodukt. Jim Marshall wollte 1962 vor allem ein eigenes Produkt, das der stark begehrten Konkurrenz aus den USA auf Augenhöhe begegnet.
Daher forderte er von seinen Technikern Dudley Craven, Ken Bran und Ken Underwood einen Verstärker, der „mindestens genauso gut klingt wie ein Fender Bassman“. Craven wird das maßgebliche Design an diesen Amps zugeschrieben.
Während Ken Bran und Underwood sich um die Chassis-Arbeit und das Komponenten-Board kümmerten, kreierte Craven den endgültigen Sound dieser Amps. Er war damals als Techniker für EMI tätig. Daher arbeitete er an der Entwicklung des JTM45 nur Abends oder am Wochenende vor allem zu Hause in seinem Gartenhaus.
Im September 1962 war der erste Prototyp fertig. Dudley wollte ursprünglich einfach den Fender Tweed Bassman kopieren. Das war aber gar nicht so einfach. Jim Marshall dachte an ein Topteil, in dem alle Regler vorne saßen. Außerdem waren die Bauteile eines Fender Bassman in England nicht verfügbar. Daher musste Dudley – nach eigenen Angaben – hart an der Zusammenstellung der richtigen Zutaten arbeiten.
Er testete alle möglichen damals verfügbaren Bauteile. Die Schaltung des Bassman wurde zwar kopiert, aber die Bauteil-Auswahl und das Layout führten schließlich zu einem ganz eigenständigen Produkt. Schon in der Entwicklungsphase testete er 6V6-Endröhren und sogar die später standardisiert eingesetzte EL34, um sich schließlich in die 5881-Röhre zu verlieben, die auch im Fender Bassman eingesetzt wurde. Das endgültige Design spiegelte anfangs die unterschiedlichen Vorlieben der Entwickler wieder.
Zuerst kamen die JTM45-Amps im sogenannten Offset-Design, wobei das Chassis asymmetrisch rechtsbündig in das Gehäuse eingesetzt wurde. Ein Design, das dem Firmen-Chef überhaupt nicht zusagte, weshalb angeblich nur sechs Exemplare gebaut wurden.
Auch die recht dicken Holzwände der ersten Modelle kamen bei Jim Marshall nicht an. Die Außenwände des Chassis wurden auf eine Stärke von 14mm reduziert und die Amps fortan mittig untergebracht. Die polierte Alu-Front bekam ein zunächst schneeweißes Panel mit eingravierter Beschriftung. Aber offenbar nur dann, wenn die Frontpanels auch verfügbar waren.
Die Nachfrage nach den JTM45-Topteilen war in der Tat so groß, dass hin und wieder die blanke Alu Front beschriftet wurde. Es gab zahlreiche, unterschiedliche Potiknöpfe, das sogenannte Coffin- Logo wurde mal höher oder tiefer positioniert, auch finden wir unter den frühen Modellen unterschiedliche Tolex-Strukturen. Es scheint, als hätten sich die Konstrukteure stets an der Verfügbarkeit bestimmter Zutaten orientiert.
Dieser „Transition“-Zeitraum dauerte tatsächlich bis etwa 1965, als man Rose Morris als weltweiten Vertrieb gewinnen wollte. Der Chef konnte sich schließlich durchsetzen und sorgte dafür, dass alle Marshalls das typisch goldene Plexi-Frontpanel trugen und die gesprenkelte Frontplatte durch eine mit schwarzem Tolex bezogene ersetzt wurde. Rose Morris wechselte noch die Poti-Knöpfe und ersetzte das Block-Logo durch das Script-Logo – und fertig war der für viele Jahre wiedererkennbare Marshall-Look.
In den frühen Jahren waren demnach alle Modelle Transition-Amps. Das Design änderte sich praktisch von Amp zu Amp. Ebenso die Bauteil- und Trafo-Bestückung. Das macht es heute auch so schwer, diese Amps zu begutachten. Die ursprünglichen Designer sind mittlerweile verstorben und im Marshall Museum in Milton Keynes herrscht mitunter Unsicherheit über die Zutaten bestimmter Bauphasen, denn immer mehr Variationen dieser Amps tauchen aus der Versenkung auf.
Doch es gibt diese „Handschrift“ der Erbauer, die einem geübten Kenner nicht verborgen bleibt, auch wenn es bereits einige gut gemachte Fälschungen dieser Amps gibt. Und diese Übung erlangt man dadurch, dass man so viele Amps wie möglich aus dieser Zeit untersucht. Doch von September 1962 bis etwa Sommer 1965 (als der Vertrieb Rose Morris auf ein endgültiges Design bestand) wurden nicht sehr viele Amps produziert. Schon ab Frühjahr 1963 verlegte Jim Marshall seine Werkstatt auf die gegenüberliegende Straßenseite seines kleinen Ladens London/Hanwell, damit Craven, Bran und Underwood endlich Vollzeit und gemeinsam an den Amps arbeiten konnten.
Das ergab sich allerdings erst nach und nach, denn die Techniker wollten ihre sicheren Jobs nicht so einfach aufgeben, sodass weiterhin vorwiegend abends und am Wochenende gearbeitet wurde. Jim Marshall klebte persönlich noch das Tolex auf die Holzchassis in den Abendstunden. Wer Jim Marshall kannte, weiß, dass dieser kleine Mann zwar ein großer Musikliebhaber, aber ein noch größerer Kaufmann war. Er liebte stringente Tagesabläufe und schnelle Entscheidungen. Das sprichwörtliche „Zeit ist Geld“ auf ihn anzuwenden, wäre vielleicht etwas übertrieben, aber Geduld zählte sicher nicht zu seinen Tugenden. Er mochte, wenn „etwas fertig wurde“, und das erklärt sicher die Kompromissbereitschaft während der Produktion der frühen Amps. Fehlten Bauteile wurden sie kurzerhand im Elektronikfachhandel oder Baumarkt nebenan beschafft.
Nach dem Umzug 1963 in die neue Werkstatt erhielten die Verstärker bereits den Vermerk „MKII“ sowie rechts neben den Eingangsbuchsen das „JTM45“-Logo, das aus dem Kürzel für Jim und Terry Marshall sowie der angestrebten Watt-Zahl dieser Amps bestand. Eigentlich hatten diese Amps eher um die 30 Watt. Die Hauptspannung schwankte jedoch je nach verarbeitetem Netztrafo zwischen 420 und 470 Volt. Dabei kamen durchaus unterschiedliche Klangergebnisse zustande.
Der abgebildete Verstärker vereint jedoch die häufigsten Zutaten dieser Ära: Alle Trafos kamen vom Elektronikfachhändler Radio Spares (RS), ebenso die Haupt-Elkos. Die kleineren Bias- und der Vorstufen-Elko kommen von Hunts. Das Komponenten-Board wurde mit einer Mischung aus Allen Bradley Kohlepress- und Piher Kohleschicht-Widerständen sowie Philips Mustard Kondensatoren bestückt. Die drei Vorstufenröhren und die Gleichrichterröhre kommen von Mullard, die dicken KT66-Endstufen-Glaskolben von GEC.
Hier und da verraten Lötstellen kleinere Service-Arbeiten, von Seiten der Bestückung ist dieser Amp jedoch noch völlig original. Die B+-Hauptspannung dieses Amps liegt bei 440 Volt. Ein nahezu perfekter Wert für Verstärker dieser Gattung.
Da dem Lautstärkeregler der Treble-Kondensator fehlt, handelt es sich um ein sogenanntes Super Bass Modell. Ein Rückpanel gab es bei diesen Verstärkern noch nicht. Daher fehlen rückseitig sämtliche Beschriftungen. Eine Seriennummer oder eine genaue Modellbezeichnung sucht man vergebens. Da auf der Rückseite zwei Speaker-Ausgänge zur Verfügung stehen, kann man davon ausgehen, dass der Amp ursprünglich mit zwei Marshall Column-PA-Cabinets ausgeliefert wurde.
Den Klang dieses Amps zu beschreiben fällt schwer. Diese geniale Mischung aus warmen, runden Klängen und dieser sagenhaften Offenheit in Richtung Hochton begreift man sicher erst, wenn man das persönlich hört. Der Amp bleibt lange clean. Auch mit einer Les Paul beginnt der Overdrive erst bei circa Lautstärke 6. Die tiefen Mitten sorgen dann für diese unnachahmliche Wucht dieser Amps.
Die typischen Clapton Bluesbreaker-Sounds erreicht man erst, wenn man den Verstärker voll aufdreht und auch die Klangregelung bis zum Anschlag ins Spiel bringt. Das ist bei Weitem noch nicht der weltbekannte Plexi-Sound mit reichlich Zerre. Der Ton ist weniger Aggressiv und eher warm und hölzern. Das gelingt diesem Amp jedoch wie keinem anderen mir bekannten Produkt.
Zwar gibt es reichlich Replikas dieser Schaltung, aber aus irgendeinem Grund kommen diese Verstärker klanglich nur vage in die Nähe ihrer Vorbilder. Seit über zehn Jahren beiße ich mir selbst an dieser Aufgabe die Zähne aus. Die Schaltung zu kopieren, ist kinderleicht, es fehlen meist allein die alten Bauteile, die in dieser Kombination einen Klangcharakter formen, den man heutzutage nicht mehr hinbekommt. Eine Kopie gelang erst, als wirklich sämtliche Bauteile verwendet wurden, die man auch in einem Original findet. Das ist schon seltsam.
Mit einer guten Les Paul auf dem Schoß und einer etwa mit vier Heritage G12H-Speakern bestückten Marshall-Box kommt man von so einem Amp fast nicht mehr los. Der Ton ist so fett und irgendwo unmodern, dass man seine eigene Riff-Architektur völlig neu erfindet.
Es ist und bleibt eben der Urvater aller Rock-Amps!