Ginge es nach dem Produktnamen, hätte die ES-Thinline-Serie, die genau vor 60 Jahren das Licht der Welt erblickte, eigentlich ein mächtiger Flop werden müssen. Musste sie doch gegen klangvolle Konkurrenten wie die Les Paul, Stratocaster oder Telecaster antreten. Anfangs war es auch gar nicht so einfach, den Kunden dieses gewagte Konzept schmackhaft zu machen. Hohl und doch solid! Ja, was denn nun? Zunächst weder Fisch noch Fleisch sind die ES-335/ES-345 und ES-355 an ihrem 60sten-Geburtstag eine wahre Legende. Und wir gratulieren natürlich herzlich!
Heute sind die Fünfzigerjahre in der Rückschau für Gibson ein goldenes Zeitalter. Fällt der Name Gibson, denkt man sofort an die wunderschönen Formen der Les Paul und der ES-Serie, die heute als Originale auch für Sammler ein absolutes Muss darstellen. Rosafarbene Cadillacs, quietschbunte Musikboxen, Petticoats und Rock’n’Roll prägten die Pop- und Design-Kultur dieser Ära. Und obwohl Gibson schon damals eine lange Tradition vorweisen konnte, hieß der Zeitgeist bestimmende Innovator eindeutig Fender. Hier gab es schon seit 10 Jahren Gitarren, die nach Idiomen aus der modernen Raumfahrt benannt wurden und beinahe auch so aussahen. Schnittig, modular aufgebaut, flach, anschmiegsam, bunt und auch klanglich etwas schriller als die immer noch recht konservativ gestalteten Gibsons.
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Allein die Stratocaster schien ihren Namen nur zu tragen, weil sie offensichtlich auch von dort stammte: irgendwo „from outer space“. Die Rock’n’Roll-Kids waren hingerissen.
Die ab 1952 als große Alternative zu den „flachen“ Fender-Modellen gefeierte Les Paul wollte dagegen nicht so richtig in Gang kommen. Namens-Pate und Mitentwickler Les Paul trällerte mit Partnerin Mary Ford Schmuse-Songs, bot zwar wahrlich atemberaubende Gitarrenarbeit, war aber alles andere als „Rock’n’Roll“.
Bild: Dieter Stork
INNOVATION
Gegen Ende des Jahres 1957 beschloss Gibson-Mastermind Ted McCarty, dass nun endlich etwas geschehen müsse, um der Konkurrenz aus Kalifornien Paroli bieten zu können. Das Gibson-Programm wurde unter direkter Federführung des Firmenchefs neu überarbeitet. Der goldene Lack der Les Paul wurde durch ein attraktives Sunburst auf nicht selten verführerisch geflammten Decken ersetzt, Seth Lover steuerte brummfreie Humbucker bei und Modelle wie die Byrdland oder die ES-225 fungierten als Vorlage für eine ganz neue Formgebung. Das Electric Spanish Model!
Die neue Gitarre erinnerte äußerlich noch stark an die Jazz-Modelle wie ES-175 oder ES-350, bekam jedoch ein zweites, symmetrisch gestaltetes Cutaway und wurde mit einer Zargenhöhe von nur etwa vier Zentimetern noch flacher als die Les Paul. Der Korpus war nicht komplett hohl, sondern auch als Trägermaterial für die Pickupfräsungen oder das Stoptailpiece durch einen die beiden Resonanzkammern trennenden Holzblock gefüllt.
Dieses Konstrukt wurde bald als „halfacoustic“ berühmt, denn die neue Electric-Spanish-Serie war eben nur zur Hälfte akustisch. Was sich zunächst noch wie ein verunglückter Versuch „mit der Brechstange“ anhört, sollte sich schon bald als genialer Schachzug erweisen. Denn, gewollt oder nicht, vereinte die ES-Serie tatsächlich die Vorzüge beider Gitarrenbauweisen. Sie hatte diesen offenen, fast jazzigen Grundcharakter einer ES-175, konnte aber auch mit einem fantastischen Sustain trumpfen.
NEUE KLÄNGE
Die ersten Fans dieser Gitarren lernten schnell, diese Eigenschaften für einen neuen Sound zu nutzen. An einem weit aufgedrehten Röhren-Verstärker klang eine ES fett, dunkel und mächtig wie ein Tenor-Saxophon. Da es unter den Profi-Gitarristen für kreative Solo-Passagen noch kaum Vorbilder gab, ließen sich auch die meisten Gitarristen von Saxophon-Legenden wie etwa John Coltrane inspirieren. Den Blues-Männern aus dem Delta war der blumige Sound einer Blues-Harp vielleicht noch wichtiger, und als Südstaatler orientierte man sich nicht selten, so wie etwa Dickie Betts von den Allman Brothers, an den elterlichen Fiddle-Abenden mit Square Dance.
Bild: Udo Pipper
All diese Sounds konnte man mit einer „Halbakustik“ mit Humbuckern nachstellen. Mit B.B.King und Chuck Berry orderten gleich zwei Ikonen des Blues und Rock’n’Rolls jeweils eine Gibson ES-355. Vermutlich wegen der edlen goldenen Hardware und weil es sich dabei um das teuerste unter den drei erhältlichen Modellen handelte.
Während die Les Paul sich weiter im Sturzflug befand und 1961 nach einem weiteren Modell-Relaunch (SG-Serie) schließlich ganz eingestellt wurde, trafen die neuen Gitarren mit dem sperrigen und offenkundig fantasielosen Namen ‚Electric Spanish‘ genau ins Schwarze. Da die Abkürzung ‚ES‘ etwas schmucklos klang und man die Unterschiede der drei Basis-Modelle unterscheidbar machen wollte, ergänzte McCarty schlicht den Dollar-Preis der Gitarren als Namenszusatz.
Bild: Udo Pipper
Die Gibson ES-335 mit Einfach-Binding, schlichten Punkt-Griffbretteinlagen und Nickle-Hardware kostete 335 Dollar, die mit Multilayer-Binding, Trapeze-Inlays, Varitone und Gold-Hardware ausgestattete Schwester ES-345 kostete 345 Dollar und die ES-355, meist in Stereo-Ausführung, Varitone-Elektronik, Ebenholzgriffbrett und Split-Diamond-Inlay auf der Kopfplatte eben nochmals 10 Dollar mehr.
Das abgebildete Preisschild der 1960er ES-335 beweist allerdings, dass es die Händler mit dieser Vorgabe von Gibson nicht so genau nahmen, denn hier kostete die Gitarre nur 326 Dollar. Vielleicht hat man die Mehrwertsteuer, wie in den USA üblich, einfach heraus gerechnet. Zum gegebenen Anlass gönnte auch ich mir eine ganz private Geburtstagsfeier, denn seit ich denken kann, gehören die ES-Modelle zu meinen absoluten Favoriten. Es ist einfach die Formgebung dieser Gitarren, die es mir seit jeher angetan hat.
1973 sah ich im heimischen Kleinstadt-Kino den Woodstock-Film und fühlte mich vor allem von Ten Years Afters Version von ‚I’m Going Home‘ wie vom Blitz getroffen. Ich kaufte mir sofort das Album der Live-Mitschnitte und kann mich noch gut erinnern, dass vor allem dieser Song nach nur wenigen Monaten von der Plattennadel beinahe blank gespielt worden war. Unzählige Male habe ich Alvin Lee mit seiner roten ES-335 zugehört. Was für ein Sound!
ZEITZEUGEN
Zwei Gitarren-Sammler (an dieser Stelle schon mal herzlichen Dank) überließen mir für diese Geschichte zwei außergewöhnliche Exemplare, die gleich die ganze Bandbreite der ES-Sounds repräsentieren.
Die erste ist eine ganz frühe ES-335 aus dem Jahr 1958, noch ohne Griffbrett-Binding, mit sehr flachem Halswinkel, extrem dünner Zarge und Sperrholz-Decke, noch etwas spitzeren Cutaways im Vergleich zu den späteren „Mickey-Mouse-Ears“ und sogar noch einem tief hängenden Gibson-Logo, ähnlich wie bei Gitarren aus dem Jahr 1957.
Die zweite ES ist ein sehr frühes 1960er Modell, das noch sämtliche Spezifikationen aus dem Vorjahr 1959 aufweist. Der Hals ist noch nicht ganz so schlank wie 1960 üblich und das Pickguard ist noch lang. Beide Gitarren befinden sich in einem außergewöhnlich guten Zustand.
Während die 1958er-ES noch kaum diese typischen Halbakustik-Qualitäten in sich trägt, repräsentiert das 1960er-Model sämtliche Eigenschaften des später von zahlreichen Gitarrenhelden geprägten Fusion-Sounds. Soll heißen: Die 1958er klingt eigentlich so, wie man sich eine unfassbar gute Vintage-Les-Paul vorstellen mag: fett, massiv, singend, böse und damit eher rockig.
Und das macht sie so gut, dass es einem buchstäblich den Atem verschlägt. Eingestöpselt in meinen Marshall JTM45 erhält man einen eindrucksvollen Beweis für Joe Bonamassas Einschätzung nach einem Test mit einer ähnlichen Gitarre: „Those guitars are real burst-killers!“. Aus den Lautsprechern dröhnt einem die pure Macht entgegen. Ein Muskelspiel mit reichlich tiefen Mitten und dieser sprichwörtlichen Tiefton-Kralle. Die Gitarre fährt mit Breitreifen und ist im wahrsten Sinne „tiefer gelegt“. Woran das liegt, darüber kann man nur spekulieren. Der fette 58er-Hals, der extrem flache Halswinkel, das dünnere Sperrholz, ein größerer Block? Who knows? Sei’s drum. Hier ist es: Das scheinbar von John Coltrane persönlich eingespielte Tenor-Saxophon!
Ganz anders zeigt sich die 1960er ES-335. Diese Gitarre klingt schlanker, heller, im positiven Sinne leicht nasal, knackig und offen im Hochton. Hier entfaltet sich die Welt von Larry Carlton, Lee Ritenour und Robben Ford. Aber auch sie kann in der einen oder anderen Weise ein „Burst Killer“sein. Es ist immer wieder die Nähe zu bestimmten Bläser-Sounds, die diese Gitarren auszeichnen. So gesehen ist der Sound der 58er-ES gar nicht mal so typisch für diese Modell-Reihe. Sie besitzt Tugenden, die der ES-Baureihe aufgrund der zahlreichen Änderungen schnell wieder verloren gingen.
AUF ERFOLGSKURS
Ab den frühen Sechzigern schrieb die Halbakustik mit den prägnanten Mickey-Mouse-Ohren jedenfalls Musikgeschichte: Chuck Berry übte mit seiner ES-335 den Duck-Walk und feuerte mindestens Millionen Mal sein ‚Johnny B. Goode‘ von irgendeiner Bühne. B.B.King nannte seine ES-355 ‚Lucille‘ und blieb diesem Modell bis zu seinem Tod vor ein paar Jahren treu.
Sein Namensvetter Freddie King behandelte seine rote ES-355 wesentlich ruppiger und ließ sie klingen, als wäre sie in irgendeiner Urschrei-Thearpie. Alvin Lee erweiterte den Stil von Chuck Berry um atemberaubende Gitarren-Soli, verstärkt über große Marshalls, die voll aufgedreht waren.
Pete Townshend oder Steve Marriott droschen auf ihren ES-Modellen Rockriffs wie auf einem Waschbrett, wohingegen Eric Clapton mit seiner roten 64er-ES-335 seinem Alter-Ego Freddie King nacheiferte. Doch bei ihm klang das alles ein wenig gezügelter und kultivierter, wie man auf dem Blind-Faith-Debut hören kann, wo er die ES viel einsetzte.
Ab den Siebzigern entdeckten Schöngeister wie Larry Carlton, Lee Ritenour oder Robben Ford die ES-Modelle für ihre virtuosen Soli, teils als Sidemen für Steely Dan, Joni Mitchell und vielen anderen Superstars, teils auf ihren ganz vom ES-Ton geprägten Solo-Alben. Larry Carlton tat dies so erfolgreich, dass ihm der Beiname ‚Mr. 335‘ verliehen wurde.
John Scofield startete seine Solo-Karriere ebenfalls mit einer roten ES-335, offenbar aus dem Jahr 1962 (obwohl dieser Gitarre auf sämtlichen Fotografien das Griffbrett-Binding fehlte und daher eher eine 58er zu sein scheint). Auf seinem Album ‚Rough House‘ von 1977 klingt er tatsächlich, als würde Coltrane über einen Röhrenverstärker spielen. Er wechselte später auf eine Nachbildung dieser Gitarre von Ibanez, die aber in ihrer Konstruktion seiner Gibson absolut gleicht.
Duane Allman und Dickie Betts spielten auf dem Allman-Brothers-Debut-Album eine ES-335 und eine ES-345 über FenderCombos und klangen meiner Meinung nach nie wieder so gut.
Heute sind es die Blues-orientierten Gitarrenhelden wie der leider viel zu früh verstorbene Gary Moore, Keith Richards, Warren Haynes, Joe Bonamassa, Eric Johnson, Peter Frampton, JD Simo, Rusty Anderson oder Henrik Freischlader, die immer noch auf einen guten ES-Ton schwören. Für dieses Genre ist und bleibt die ES-Serie seit Chuck Berry, B.B.King und Freddie King einfach nicht wegzudenken. Und selbst in der englischen Pop-Szene gibt es mit Dave Edmunds, ES-355-Liebhaber Noel Gallagher und dem genialen Klangzauberer Johnny Marr berühmte Vertreter.
ERBE
In den vergangenen 60 Jahren durchlief auch dieses Modell zahlreiche Änderungen. Mitte der Sechziger wurden die Hälse schmal und für manche Spieler damit unbrauchbar. Seit 1969 wurde das wieder korrigiert. Die wunderschönen Rio-Palisander-Griffbretter verloren die ES-335 und ES-345 schon 1965. Und seit ein paar Jahren muss auch die ES-355 auf das Ebenholzgriffbrett verzichten und kommt nun mit einem sogenannten Richlite-Griffbrett, einem wahrlich unwillkommenen Ersatz.
Die Inlays wurden getauscht, die Form variierte, die Mickey-Mouse-Ohren gingen und kamen mit dem Custom Shop zurück, die Pickups wurden heißer und wieder schwächer, Bigsby-Tremolos, Sideways-Vibrolas und Maestro-Tremolos kamen und gingen, wurden heruntergeschraubt und wieder drauf. Zudem wurden sie mit jeder denkbaren Farbe besprüht. Doch das sind eben nur Verirrungen, mit denen man vermeintlichen Trends zu folgen glaubt.
Die abgebildeten Gitarren zeigen mir wie nie zuvor, dass im Ursprung ein Kern der Wahrheit liegt. Nie waren die ES-Modelle attraktiver und klanglich besser als zu ihrer Geburtsstunde. Und daher bemühte man sich bei Gibson seit ein paar Jahren, so authentisch wie möglich wieder an diese Zeiten anzuknüpfen. Und nun erleben wir einen kleinen Wermutstropfen zur Geburtstagsfeier. Gibson strauchelt wie nie zuvor. Die Zukunft steht in den Sternen und war vermutlich nie weiter entfernt von den rosigen Zeiten Ende der Fünfziger.
Dennoch ein Salut auf 60 Jahre wunderbarer Klänge aus diesen Semihollows, von denen manche noch heute echte Burst-Killer sind!
Dass Gibson strauchelt wundert mich nicht, dass die Gitarren so begehrt sind dagegen schon. Gibt es doch mit Ibanez einen Hersteller, dessen Gitarren aus japanischer Herstellung den Gibson-Modellen in praktisch allen Belangen deutlich überlegen und dazu viel schöner sind sowie, trotz japanischer Handwerkskunst, im Preis wesentlich günstiger.
Dass Gibson strauchelt wundert mich nicht, dass die Gitarren so begehrt sind dagegen schon. Gibt es doch mit Ibanez einen Hersteller, dessen Gitarren aus japanischer Herstellung den Gibson-Modellen in praktisch allen Belangen deutlich überlegen und dazu viel schöner sind sowie, trotz japanischer Handwerkskunst, im Preis wesentlich günstiger.